Ein Monat auf dem Land (Roman)

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Ein Monat auf dem Land ist ein Roman von J. L. Carr, der wegen seiner Kürze auch als Novelle oder Kurzroman bezeichnet wird.[1][2] Thema ist die psychische Gesundung eines die Schlachten des Ersten Weltkriegs in Nordfrankreich überlebenden jungen Restaurators, der 1920 den Auftrag erhält, ein mittelalterliches Gemälde in einer Dorfkirche in Nordengland freizulegen.

Der Roman, Carrs 1978 geschriebenes und 1980 unter dem Titel A Month in the Country erschienenes „Meisterstück“, kam 1980 auf die Shortlist für den Booker Prize, den wichtigsten britischen Literaturpreis, gewann den Guardian Fiction Prize, wurde für das Radio adaptiert und 1987 mit Colin Firth und Kenneth Branagh verfilmt.[3] Auf Deutsch erschien der Roman erstmals 2016 bei DuMont.

1920 erhält Tom Birkin, ein junger Restaurator Mitte zwanzig,[4] den mäßig bezahlten Auftrag, in einer kleinen mittelalterlichen Landkirche des fiktiven Dörfchens Oxgodby in North Riding, Yorkshire, ein altes Wandgemälde von seinen Übermalungen zu befreien. Vor seiner Einberufung zum Militär hatte Birkin auf dem London College of Art hierfür ein Diplom erworben[5] und kämpfte im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern in Nordfrankreich, einem „Ort des Grauens“, einem „Fleischwolf“.[6] Birkin kommt körperlich unversehrt, aber mit „zerbombten Nerven“, stotternd und mit einem Gesichtszucken aus dem Krieg zurück.[7] Er quartiert sich der schlichten Bezahlung wegen oben im Kirchturm neben dem Gemälde ein, das nach einer testamentarischen Verfügung von Übermalungen befreit werden soll.

Das Jüngste Gericht, Wandmalerei in der Marienkirche in Büdingen, vermutlich Ende des 15. Jh., übertüncht während der Reformation 1601 wegen des Bilderverbots

Das Wandbild entpuppt sich als eine außergewöhnliche Darstellung des Jüngsten Gerichts. In der Zwiesprache mit diesem ihn immer wieder überraschenden Gemälde und seinem vor Jahrhunderten gestorbenen Schöpfer, in Gesprächen mit den allmählich den Kontakt suchenden Dorfbewohnern und befördert durch einen traumhaft schönen August verlieren sich Birkins äußere Zeichen seines Kriegstraumas. In den Gesprächen mit einem etwas älteren Kriegskameraden und Archäologen-Helfer, der mit einem ähnlichen Legat einer wohlhabenden Verstorbenen beauftragt ist, das Grab eines Familienangehörigen außerhalb des Friedhofs zu finden, und bei den regelmäßig werdenden Mittagessen mit der Familie des Bahnwärters gewinnt er seine Ruhe zurück.

Der Glaube spielt eine große Rolle in der Geschichte, der Glaube an sich selbst und der an eine göttliche Gerechtigkeit, die das Wandbild beschwört und sich in der latenten Spannung zwischen der methodistischen Familie des Bahnwärters und dem Vikar der anglikanischen Kirche zeigt: „Religion durchdringt die Geschichte. […] Der subtile soziale Unterschied der Glaubensgemeinschaften in England [...] belebt das Dorf Oxgodby. Glocken läuten und Orgeln klingen auf allen Seiten“, obgleich Birkin ein ungläubiger Humanist sei.[8]

„Es liegt an Oxgodby, dieser Ort hat mich verändert.“[9] Birkin hilft bei der Ernte, nimmt teil an Picknicks und Ausflügen, fungiert als Kricketschiedsrichter und als Lehrer der Sonntagsschule. Und er verliebt sich in die neunzehnjährige Frau des Vikars, deren körperliche Annäherung er aber nicht erwidert. So endet dieser August 1920 für Tom Birkin zwar mit einer Rückkehr ins Leben, aber dem Verzicht auf eine ihn vielleicht noch überfordernde Liebe – doch als er die Endgültigkeit seiner Entscheidung begreift, jene zärtliche Regung nicht erwidert zu haben, erlebt er den schlimmsten Augenblick seines Lebens.[10]

Die nicht nummerierten, aber thematisch geordneten Abschnitte, die nur einmal die sonst fortschreitende Chronologie durchbrechen,[11] unterstützen den Eindruck eines langen Monologs über eine kurze und doch prägende Phase im Leben des Ich-Erzählers. Er beschreibt diese vier Wochen als Rückblick in eine ferne Vergangenheit, wie ein flüchtiges Geschenk, das ihm helfen, das er aber nicht festhalten konnte: „Der Sommer vergeht und die Vollendung seines Auftrags gibt der Geschichte eine natürliche Struktur.“[12]

Der Roman ist in einem oft ironischen Parlando geschrieben, das sich an seine Leser wendet und Formulierungen und Wertungen ausprobiert, korrigiert und verwirft, wodurch der Charakter eines Gesprächs verstärkt wird: „Die Geschichte ist ohne starke Wendungen, aber sie mäandert.“[13]

Über den Tag hinaus

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Carr schreibt in seinem Vorwort, dass ihm zunächst „eine nette, unterhaltsame Geschichte vorschwebte, ein ländliches Idyll“, das er mit einer leisen Trauer im Rückblick von fünfzig Jahren erzählen wollte.[14] Aber an der Schwelle seiner Rückkehr aus dem Kreg in die Zivilisation formuliert der über den Tag hinausdenkende Erzähler eine Reihe grundsätzlicher Einsichten. Im ersten der von Carr dem Text vorangestellten Epitaphe aus Dr. Johnson´s Dictionary heißt es daher einschränkend: „Eine Novelle – eine kleine Erzählung, zumeist über die Liebe.“

Dieser eine Monat in Oxgodby führt den Erzähler aus dem Weltkriegschaos zurück in ein bürgerliches Leben. Ein zentrales Element dieser Traumabearbeitung ist die erfolgreiche Bewältigung seines Auftrages: „Der Roman ist, unter Anderem, ein Lob der Professionalität.“[15] Den Bildinhalt der Darstellung des Jüngsten Gerichts, bezieht er auf mehreren Ebenen auf seine Kriegserlebnisse: „Je näher er dem Meisterwerk hinter der Kirchendecke kommt, desto näher kommt er auch sich selbst.“[16] Für Birkin – und das Gemälde – ist Gerechtigkeit ein Hauptthema: Die in die Hölle stürzenden Körper der Verdammten – das sind auch seine Kameraden auf den Schlachtfeldern des Krieges. Die Prognose der Apokalypse – die sollte über all jene hereinbrechen, die diesen Krieg angezettelt hätten.[17] Sowohl die Darstellung der Verdammnis im Jüngsten Gericht wie auch der Ausgrabungsgehilfe Charles Moon, ein weiterer „Überlebender“ des Weltkriegs,[18] bestätigen die Wahrheit des erlebten Grauens – wenn auch Birkin anfangs an der Zivilisation verzweifelt, so doch nie an seinem Verstand. Wie das Gemälde in kleinen Schritten an der Wand wieder aufscheint, so festigt sich auch Birkins psychische Statur: Im ersten Satz verlässt er den Zug in Oxgodby die Stufen noch „hinabstolpernd“, im letzten Satz der Erzählung macht er sich „quer über die Wiese auf den Weg“ zurück nach London.[19]

Der Ich-Erzähler registriert aufmerksam auch die dunklen Seiten des Dorfalltags, die den Frieden weniger friedlich erscheinen lassen und nachträglicher Idealisierung entziehen: „Es ist die große Kunst Carrs deutlich zu machen, dass Glück nicht von Schmerz und Vergessen zu trennen ist, die es erst möglich machen.“[20] So wird Birkin unfreiwillig Zeuge eines Albtraums der auch seelischen Leere im Haus des Vikars[21] und wird über eine Jugend unter einem gewalttätigen Vater ins Vertrauen gezogen. Er erinnert sich auch an den Zustand seiner noch nicht geschiedenen Ehe, einer anderen Art von „Hölle“ vor der Einberufung in den Krieg. Im Realismus dieser Grautöne flutete das Leben zu Birkin zurück, ohne ihn zu überrollen, und lässt ihn in der Zivilisation wieder Fuß fassen.[22]

Anfangs sieht sich der Londoner Birkin als „Marsmensch“ in Oxgodby, im „Feindesland“ des nördlichen England, dann aber erwacht er nach und nach zu einem Neubeginn in „diesem herrlichen Sommer“ des Jahres 1920.[23] Von der Situation fasziniert wirft Birkin die Frage auf, ob diese Momente festzuhalten gewesen wären: „Hätte ich dieses Glück bewahren können, wäre ich dortgeblieben? Nein vermutlich nicht.“[24]

Seine Abreise begründet der Erzähler zunächst mit jugendlichem Optimismus, dass „erneut etwas Wunderbares hinter der nächsten Biegung auf einen wartet“ – was der Erfahrung nach dann doch nicht eintrete. „Das dargestellte Glück […] ist klug und vorsichtig, seiner Zeitlichkeit bewusst. […] Birkin weiß sehr gut, dass das Leben nicht immer Leichtigkeit und Freundschaft ist, sondern dass es auch lange Sommertage mit einer Ernüchterung gibt, die hinter der nächsten Ecke wartet.“[25]

Im Rückblick räumt er ein, dass die für seine Heilung so günstigen Umstände sich gewiss mit der Zeit verändert hätten und Glück nicht in einer time capsule festzuhalten ist – das gelinge nur in einem verschlossenen Raum der Erinnerung, „von der Vergangenheit möbliert, luftdicht, reglos, gleich längst vertrockneter Tinte in einem vor langer Zeit niedergelegten Federhalter.“ Glück sei flüchtig, „wir müssen das Glück beim Schopf packen.“[26] „Schon mit dem Vorwort wird die Perspektive der Zeit, der Vergänglichkeit, etabliert. Birkin blickt verwundert zurück auf die letzten Jahre eines Zeitalters von Laternenlicht und Pferdewagen.“[27]

Jochen Kienbaum lobt Carr, dass er, in seiner eleganten und leichtfüßigen Art zu erzählend, die Geschichte zu keiner Zeit überfrachte. Seine große Kunst bestehe darin, in altmodisch anmutenden Miniaturen das Seelenleben seiner Figuren mit der Natur des warmen Sommers verschmelzen zu lassen: „Man spürt förmlich den lauen Wind, riecht den Duft von Heu und Blumen, erahnt das Flirren der Luft.“[1]

Joana Kruse notiert für den Deutschlandfunk, dass Carr „von einer Zeit erzählt, als alles noch möglich scheint und niemand ein Empfinden dafür hat, dass es vieles bald nicht mehr geben wird.“ Seine berührende und kluge Sommergeschichte erinnere sie auch an Rilkes Herbstgedicht („Der Sommer war sehr groß“) in ihrer „Erinnerung und Unschuld, aber auch um den Schrecken des Krieges, denn der verlässt die Überlebenden der Schützengräben nicht mehr.“[28]

Petra Lohrmann sieht die Qualität des Romans in der Bildlichkeit seiner Beschreibungen und den individuellen Charakterzeichnungen aller Personen: „Der ruhige Fluss der Erzählung wird nicht eintönig, weil Carr – wie der Maler des meisterlichen Gemäldes – keine vorgestanzten Figuren darstellt, sondern lebendige Menschen. Eleganz und Leichtigkeit, vor allem aber Warmherzigkeit zeichnen seinen Stil aus.“[29]

Laila Mahfouz ist beeindruckt von den Farben, Gerüchen und Geräuschen, mit denen Carr das Leben im Dorf zu beschreiben versteht. Es sei das warme Licht der Erinnerung, das ihm geholfen habe, sein Leben zu meistern: „inmitten der Natur zu sein, in einer Gemeinschaft warm aufgenommen zu werden und Befriedigung im Wert der eigenen Arbeit zu finden“, so könne die Seele zur Ruhe kommen und sogar die größten Schrecken überstehen.[2]

  • J. L. Carr: A Month in the Country. With an introduction by Penelope Fitzgerald, Penguin Random House: Penguin Classics 2000, ISBN 978-0-14-118230-8
  • J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land. Aus dem Englischen von Monika Köpfer, Du Mont, Köln 2016, ISBN 978-3-8321-9835-0
  1. a b Jochen Kienbaum: Melancholischer Sommer in Yorkshire – »Ein Monat auf dem Land« von J. L. Carr, auf lustauflesen.de/carr-monat-auf-dem-land
  2. a b Laila Mahfouz: Rezension zu J. L. Carrs Erzählung »Ein Monat auf dem Land« / »A Month in the Country«, auf .kultumea.de
  3. Penelope Fitzgerald: Introduction, in: J. L. Carr: A month in the country, Penguin Modern Classics, S. VIII.
  4. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 130 f.
  5. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 129, 136.
  6. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 37, 41.
  7. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 15, 18 f., 44.
  8. „Religion hovers around the novel. [...] The subtle social distinctions of worship in England [...] animate life in Oxgodby. Bells ring and organs bellow across the pages. But Birkin is a non-believer, and the story that delicately unfurls is a deeply humanistic one.“ Ingrid Norton, [1]
  9. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 133; 115.
  10. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 154.
  11. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 51.
  12. „The summer’s passing and Birkin’s completion of his job gives the story a natural momentum (...).“ Ingrid Norton [2]
  13. A month in the country doesn‘t twist or turns. It meanders.“ Ingrid Norton [3]
  14. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 7 f.
  15. „The novel is, among other things, a hymn to professionalism.“ Ingrid Norton [4]
  16. Laila Mahfouz: Rezension zu J. L. Carrs Erzählung »Ein Monat auf dem Land« / »A Month in the Country«, auf .kultumea.de
  17. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 43, 105, 111 f.
  18. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 32 ff., 37.
  19. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 9 und 158.
  20. „Carr´s great art is to make it clear that joy is inseparable from the pain and oblivion which make it.“ Ingrid Norton [5]
  21. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 68 ff.
  22. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 112.
  23. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 9, 25, 33; 27, 73.
  24. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 122.
  25. „The happiness depicted […] is wise and wary, aware of it‘s temporality. […] Birkin knows very well life is not all ease and intimicy, long summer days with ´winter always loitering around the corner‘.“  Ingrid Norton, [6]
  26. J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land, Du Mont 2017, S. 122, 141, 158. Auch das Unglück lässt sich nur in der Fiktion einer mythologischen Falle der Veränderung entziehen: Trotz aller Workouts nimmt Sisyphus nie an Kräften zu und sein rollender Stein trotz aller Stöße nie an Gewicht ab.
  27. „Early in the book the perspective of time is established. Birkin is looking back, with wonder, at the very last years of a lamplit, horse-drawn age.“ Penelope Fitzgerald: Introduction, in: J. L. Carr: A month in the country, Penguin Modern Classics, S. XIII.
  28. J.L. Carr: „Ein Monat auf dem Land“ | Geschichte eines glücklichen Sommers, auf deutschlandfunkkultur.de
  29. J.L. Carr - Ein Monat auf dem Land, auf gute-literatur-meine-empfehlung.de