André Glucksmann

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André Glucksmann (2009)

André Glucksmann (* 19. Juni 1937 in Boulogne-Billancourt; † 10. November 2015 in Paris[1][2]) war ein französischer Philosoph und Essayist.

Familie und Kindheit

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André Glucksmanns Eltern entstammten dem osteuropäischen Judentum; der Vater kam aus der Bukowina, die Mutter[3] aus Prag. Beide gingen in den 1920er Jahren nach Palästina und lernten einander dort kennen. Sie bekamen zwei Töchter. 1930 ging die Familie nach Deutschland, wo sich die Eltern ab 1933 dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus anschlossen. 1937 flüchteten sie nach Frankreich. Glucksmanns Vater ging weiter ins Exil nach London, wo er als sowjetischer Spion tätig war. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er als feindlicher Ausländer inhaftiert. Er kam 1940 bei der Versenkung der Arandora Star durch deutsche Torpedos ums Leben.[4]

1941 wurde die restliche Familie ins Lager Bourg-Lastic bei Vichy gebracht. Es drohte die Deportation nach Deutschland. Mutter und Kinder durften jedoch das Lager wieder verlassen, weil André Glucksmann in Frankreich geboren und somit Franzose war. Seine Mutter schloss sich der Résistance an, und André Glucksmann lebte mehrere Jahre unter dem Decknamen Joseph Rivière.[5][6]

Vor 1976: Studium und Maoismus

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Nach einem Philosophie-Studium an der Universität Lyon und der École normale Supérieure Saint-Cloud arbeitete Glucksmann beim Centre national de la recherche scientifique (CNRS) unter der Leitung von Raymond Aron als Spezialist für Krieg, Abschreckung und nukleare Strategie. Im Jahre 1968 veröffentlichte er sein erstes Buch, Le Discours de la Guerre (Diskurs über den Krieg). Er nahm an den Mai-Demonstrationen im Jahr 1968 teil und definierte sich als Maoist. Danach wurde er Mitglied der Gauche Prolétarienne (GP)[2], die die antiautoritäre Revolte des Pariser Mai zu einer proletarischen Revolution weiterentwickeln wollte und den Kampf noch bis 1970 fortführte, unterstützt von Jean-Paul Sartre. Nach Auffassung der GP verstärkte sich damals in Frankreich die staatliche Unterdrückung und nahm faschistische Formen an.

Nach 1976: Totalitarismuskritik

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In der deutschen Linken wurde Glucksmann durch sein 1976 in deutscher Sprache erschienenes Buch Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager bekannt. Beeinflusst von Solschenizyns Buch Der Archipel Gulag stellt es eine Abrechnung mit Marxismus und Stalinismus und der Geschichte der Sowjetunion dar. Wegen seiner GP-Vergangenheit wurde Glucksmanns Buch in einigen Teilen der Linken, die sich als revolutionär und kommunistisch verstanden, stark diskutiert.

Als Glucksmanns Hauptwerk gilt seine 1977 erschienene philosophische Abhandlung Die Meisterdenker (Les maîtres penseurs), zu der ihn nach eigenem Bekunden ebenfalls die Lektüre Solschenizyns anregte. Mit den „Meisterdenkern“ sind die deutschen Philosophen Fichte, Hegel, Nietzsche und Marx gemeint, denen Glucksmann vorwirft, einen Kult um die romantisch-mythische Überhöhung der „abschließenden, totalen und endgültigen Revolution“ und des daraus resultierenden totalitären Staates begründet zu haben und so für den nicht oder nicht ausreichend vorhandenen Widerstand gegen Totalitarismen verantwortlich zu sein.

„Das ‚Deutschland‘, Geburtsstätte der faschistischen Bewegungen, ist kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt und weit über die alten Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verbreitet wurden. Dieses Deutschland ist ganz zeitgemäß, es hat seinen Sitz in den modernen Köpfen des modernen Planeten, im Pentagon zu Washington ebenso wie in dem letzten Loch eines Konzentrationslagers in den Dörfern Kambodschas.“

Die Meisterdenker

1977 unterschrieb er wie etwa sechzig andere Intellektuelle seiner Zeit einen Appell zur Entkriminalisierung der Pädophilie, der in den Zeitungen Libération und Le Monde erschien. Initiator des Appells war der inzwischen als pädophil dekuvrierte Schriftsteller Gabriel Matzneff.[7]

1979 wurde sein Sohn Raphaël Glucksmann geboren.

In seinem im Oktober 2004 erschienenen Buch Le Discours de la haine (Hass) vertritt Glucksmann nach einem im Spiegel erschienenen Interview mit Romain Leick[8] folgende Kernthesen: „Ideologien sind das Alibi des Hasses.“ „Um seine Zerstörungskraft zu entfalten, muss Hass kollektiv werden.“ „Ideologien können der Kollektivierung des Hasses dienen, sind aber nicht dessen Ursache.“ Das gelte ebenso für Religionen. Wenn die Ideologien eines Tages widerlegt oder besiegt seien, verschwände also keineswegs der Hass. Erst durch die Beherrschung des Todestriebs, der Mordinstinkte und der Begierden würden Terror und Hass eingedämmt. „Eine Zivilisation gründet sich nicht unbedingt auf das gemeinsam angestrebte Beste, sondern auf die Ausgrenzung, die Tabuisierung des Bösen.“ Als erfolgversprechenden Kampf gegen das Böse sah er z. B. den Irak-Krieg der USA. Viele Demokratien verhielten sich zu zurückhaltend im Vertrauen darauf, dass sich „das Gute“ mit „dem Fortschritt“ von selbst durchsetze.

Glucksmann wandte sein antitotalitäres Erklärungsmodell auch auf den Terrorismus an. Die damals von Tschetschenen durchgeführten Bombenanschläge und Geiselnahmen bezeichnete er als antitotalitären Widerstand. Später war Glucksmann einer der Herausgeber der Zeitschrift Le Meilleur des Mondes, in der die französischen Befürworter des Irak-Krieges zu Wort kamen und deren Schwerpunkt die Kritik des Antiamerikanismus war.

Im Jahr 1999 befürwortete Glucksmann bereits den Krieg der NATO gegen Slobodan Milošević.[9]

In Le Monde vom 30. Januar 2007 begründete er, warum er bei den französischen Präsidentschaftswahlen für Nicolas Sarkozy (UMP) stimmen wolle,[10] kritisierte Sarkozys Politik später jedoch öfters.

André Glucksmann habe mit seinem Prinzip der Autokritik auf das Recht des Irrtums gepocht, so Ursula Welter in ihrem Nachruf.[2]

  • Jürg Altwegg: André Glucksmann – ein existentieller und intellektueller Dialog mit Deutschland. In: André Glucksmann: Philosophie der Abschreckung. Ullstein, Frankfurt am Main / Berlin 1986, S. 9–24, ISBN 3-548-34356-2.
  • Jürg Altwegg, Aurel Schmidt: André Glucksmann oder Der Intellektuelle als anti-ideologischer Brandstifter. In: Dies.: Französische Denker der Gegenwart. Zwanzig Porträts. 2., Auflage, Beck, München 1988, S. 98–104, ISBN 3-406-31992-0.
  • Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch: Vom Antitotalitarismus zur „Ethik der Ersten Hilfe“. Politische Moralistik bei André Glucksmann. In: Dies.: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. Band 2: Frankreich/Italien. Rotbuch, Hamburg 1996, S. 127–136, ISBN 3-88022-368-8.
  • Yves Bizeul: André Glucksmanns Weg zum Leitintellektuellen – Aufstieg und Fall. In: Harald Bluhm, Walter Reese-Schäfer (Hrsg.): Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945. Nomos, Baden-Baden 2006, S. 171–193, ISBN 978-3-8329-2254-2
  • Günther Schiwy: André Glucksmann: „Le Discours de la Guerre“ und „La Force du Vertige“ („Philosophie der Abschreckung“). In: Ders. (Hrsg.): Poststrukturalismus und „Neue Philosophen“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 121–131, ISBN 3-499-55413-5.
  • Sebastian Voigt: Der jüdische Mai ´68: Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bandit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich. 2., durchgesehene Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-37049-0.
  • Sauve qui pense – Rette sich, wer denkt! ARTE-Filmporträt über den französischen Philosophen André Glucksmann. Frankreich/Deutschland, 1997/98, Buch und Regie: Christoph Weinert
Commons: André Glucksmann – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Facebook-Posting seines Sohnes Raphaël vom 10. November 2015
  2. a b c Ursula Welter: Trauer um André Glucksmann - Tod eines unermüdlichen Warners. Abgerufen am 13. Mai 2024.
  3. Glücksmann Martha – biografiA. Abgerufen am 19. Juli 2024 (deutsch).
  4. Sebastian Voigt: Der jüdische Mai '68: Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich. 2., durchgesehene Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-37049-0, S. 239–261.
  5. Romain Leick: Zum Tod des Philosophen André Glucksmann: Seher in der Nacht, Spiegel Online, 10. November 2015
  6. Hans Hütt: Der Prophet des Desasters: André Glucksmann hat die Gewalt, die von der Mehrheit ausgehen kann, gewittert wie kaum ein anderer. Frankreich hat einen seiner wichtigsten Interventionisten verloren., Die Zeit, 11. November 2015
  7. Pascale Hugues: Es war verboten, zu verbieten. In: Die Zeit vom 25. Januar 2020, S. 53.
  8. Romain Leick: Gemeinsam das Böse erkennen. In: Der Spiegel 39/2005 vom 26. September 2005, S. 216–219.
  9. Vgl. André Glucksmann: Es muß Krieg sein. Milosevic, der Balkan und Europa. In: Süddeutsche Zeitung, 1./2. April 1999.
    André Glucksmann: Nicht zaudern! Der Westen muß Milosevic besiegen und das Kosovo befreien. In: Die Zeit, 15. April 1999
  10. André Glucksmann: Pourquoi je choisis Nicolas Sarkozy, Le Monde, 30. Januar 2007. Abgerufen am 21. November 2015 (französisch). 
  11. Maxi Leinkauf: "Ich bin kein Fetischist des Mai '68". Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2010, abgerufen am 19. Juli 2024.