Steinkult

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Baityloi)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Der Baitylos von Viddalba

Steinkulte und Steinverehrung (Litholatrie) sind seit der Antike weit verbreitet. Möglicherweise galten aufgerichtete Steine schon in der Jungsteinzeit als Repräsentanten von Gottheiten und waren somit Kultsteine.[1] In diesem Sinne deuten manche Forscher auch die Obelisken im alten Ägypten und die Baityloi Sardiniens und den irisch-keltischen Turoe-Stein, in Griechenland sind es die Omphaloi. Die Verehrung von Menhiren begleitet den Steinkult bis in historische Zeit.

Die Verehrung aufgerichteter Steine beginnt im Natufien. Eine kleine Steinsäule in der Nische eines Hauses von Jericho II ist nicht der einzige Hinweis darauf. In Munhata, südlich des Tiberias-Sees, das in den 1960er Jahren von Jean Perrot (1920–2012) erforscht wurde, kamen in den Nordwänden der Häuser, der untersten Horizonte aus dem präkeramischen Neolithikum B, mehrfach gipsverputzte Nischen zutage, in denen ein Stein stand. Zu Munhata gehörte eine Anlage, die sich über mehr als 300 Quadratmeter erstreckte, von einer dicken Lehmziegelnmauer auf Steinfundamenten umgeben war. Ein Podium aus drei großen Basaltplatten mit breiten Abflussrinnen im Zentrum, ein gepflastertes Bassin von 3 × 2 m Größe und mehrere Feuerstellen legen die Vermutung nahe, dass der Komplex aus dem 8. bis 7. Jahrtausend v. Chr. ein Heiligtum war. Im umhegten ovalen Komplex von Rosh Zin, einer anderen Natufiensiedlung, war eine große rohe Steinsäule aufgerichtet worden. In der Füllung um ihre Basis fand man Opfergaben, die wohl anlässlich der Aufstellung der Säule dargebracht wurden.

Altes Testament

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Moses erhielt von JHWH den Befehl, die Kultsteine in Kanaan zu zerstören. Im Alten Testament (Tanach) wird der heilige Stein als Mazewa (hebräisch מַצֵּבָה) bezeichnet. Im Gegensatz zur Auffassung der Kanaanäer, die ihn mit der Gottheit identifizierten, wird er von den Israeliten als Zeichen von Gottes Gegenwart oder als Denkmal besonderer Ereignisse, als „Zeugnisstein“ umgedeutet.

Der Gilgal der Bibel, der Kreis aus zwölf Steinen, Symbolen der zwölf Stämme Israels, den Josua angeblich als Erinnerung an die Jordanüberschreitung aufrichten ließ, war vermutlich eine Anlage aus der Epoche der palästinensischen Megalithkultur (Megalithanlagen auf dem Golan). Die Geschichte von der Jakobsleiter erzählt, dass er an einem Stein schlief und erkannte, dass „der Herr an diesem Ort war“. Er stellte den Stein auf, begoss ihn mit Öl und nannte ihn „Bethel“, d. h. (hebräisch בֵּית אֵל ‚Haus des El ‚Haus Gottes‘).

Ungeachtet der Bekämpfung der Steinverehrung durch die Propheten blieben Menhire, Reihen, Kreise und Vierecke aus aufgerichteten länglichen Blöcken in Israel und Jordanien auffallend häufig im Bereich megalithischer Nekropolen erhalten. Zu den eindrucksvollsten Anlagen gehören die Monumente von Ain es Zerka in Jordanien auf einer Felsterrasse mit etwa 50 Großsteingräbern. Auf einer Erhöhung im Zentrum des Plateaus ragen drei Menhire von fast 2,0 m Höhe empor, die von einem kleinen Steinkreis umschlossen sind.

In der Antike verehrten verschiedene Völker im Mittelmeerraum Steine. Ein Steinkult ist in der kanaanitischen Religion im Rahmen des Ba’al-Kults belegt. Auf Griechisch nannte man diese Steine baitýlia oder baítyloi, lateinisch baetuli; davon ist das deutsche Wort Bätyle abgeleitet (daneben kommen in der deutschsprachigen Literatur auch die Bezeichnungen Bätylien, Bäthylien[2], Baitylien, Baethylien[2] und Betyle vor). Die griechische Bezeichnung ist abgeleitet von aramäisch bet el („Haus Gottes“, vgl. hebräisch Bet-El).

Das Wort Bätyl ist erstmals im 1. Jahrhundert bei Plinius dem Älteren bezeugt, der in seiner Naturalis historia von schwarzen, runden Steinen berichtet, die als heilig galten und deren (magische) Hilfe man bei der Belagerung von Städten und im Seekrieg in Anspruch nahm; ihr Name sei baetuli.[3] Auch der griechisch schreibende phönizische Gelehrte Herennios Philon (Philon von Byblos) verwendet den Begriff. Er beruft sich auf einen (wahrscheinlich fiktiven) phönizischen Gelehrten namens Sanchuniathon, der vor der Zeit des Trojanischen Krieges gelebt habe. Nach Philons Darstellung gab es „beseelte“ Steine (baitýlia), die Uranos erzeugte und in seinem Kampf gegen seinen Sohn Kronos verwendete.[4] Als Vertreter der Religionsdeutung des Euhemerismus, welche die Götter als von den Menschen vergöttlichte Sterbliche auffasst, meinte Philon, dass Uranos und Kronos ursprünglich Sterbliche waren, die später zu Göttern gemacht wurden. Die beseelten Steine konnten sich offenbar nach der Philon vorliegenden Version des Mythos aus eigener Kraft bewegen und so den Gegner Kronos treffen.[5]

Von der Beliebtheit der Bätyle bei den Phöniziern zeugen zahlreiche Münzen der römischen Kaiserzeit, auf denen sie abgebildet sind. Solche Münzen stammen aus den Städten Sidon, Byblos und Tyros.

Manche Bätyle waren Meteoriten. Sie waren entweder den Göttern geweiht oder wurden selbst als göttlich betrachtet. Die Herkunft der Meteoriten „vom Himmel“ war bekannt.[6] Unter den griechischen Göttern war Apollon am engsten mit dem Steinkult verbunden.[7] Auch der Name des Gottes Hermes (griechisch ἕρμα herma: „Felsen“, „Stein“, „Ballast“) deutet auf einen Zusammenhang mit einem Steinkult.

Bei den Israeliten war der Stein bedeutsam, auf dem Jakob laut Gen 28,11 schlief, als er in einer Traumvision die Jakobsleiter sah. Diesen Stein salbte er am folgenden Morgen und setzte ihn als Gedenkstein. Den Ort nannte er der biblischen Erzählung zufolge Bet-El.

Bezeugt ist Steinkult auch in der minoischen Kultur auf Kreta, wo Kultsteine als Wohnsitze von Gottheiten oder Geistern Verstorbener betrachtet wurden. Auch die Hethiter hatten heilige Steine, die sich in Tempeln oder Heiligtümern befanden und gesalbt wurden.[8] In Zincirli in der Türkei wurde 2008 eine Stele des Kuttamuwa entdeckt, die aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. stammt und deren Inschrift besagt, dass die Seele des auf ihr abgebildeten Kuttamuwas nach seinem Tod in dem Stein wohnte.[9]

Sardinien; Baityloi

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wenige Meter vom Gigantengrab von Tamuli auf Sardinien stehen die etwa 1,5 Meter hohen perdas marmuradas – sechs nuraghische Baityloi (ital. Betili), drei männliche und drei weibliche, die schon im Mittelalter als „sa petra uue sunt sos thithiclos“ (der Stein mit den Brüsten) bezeichnet wurden und auf den sardischen Steinkult verweisen. Die insbesondere als Dreierkombination an vielen Stellen Sardiniens belegten Steine kommen u. a. beim Gigantengrab von Perdu Pes bei Paulilatino vor. Die Gigantengräber der 2. Generation wie Pradu Su Chiai aber auch einige Domus de Janas (wie Molafa) haben ein Zahnfries (ital. fregio a dentelli) mit drei Ausnehmungen[10], die zur Aufnahme kleiner granatenförmiger Baityloi dienten.

Berühmte Kultsteine

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • Der schwarze Stein in der Kaaba in Mekka, der schon in vorislamischer Zeit verehrt wurde.
  • Der schwarze kegelförmige Stein in Kouklia (Zypern), welchen man als Ištar-Astarte und später als Aphrodite verehrte.
  • Der auf einen goldenen Sockel gestellte schwarze, viereckige, unbehauene Stein des Gottes Duschara, den die Nabatäer in Petra verehrten.
  • Der Stein von Bet-El (nördlich von Jerusalem), den die Kanaaniter als Wohnsitz des Gottes El verehrten. Bet-El wird im 1. Buch Mose (Gen 28,19 EU) als Erscheinungsort der Jakobsleiter erwähnt.
  • Der Benben-Stein in Heliopolis (Ägypten).
  • Der Stein des Zeus Kasios in Seleukeia Pieria (Syrien).
  • Der Stein von Emesa (Homs in Syrien), der dem Gott Elagabal heilig war. Durch den römischen Kaiser Elagabal wurde der Kult dieses Gottes 219 in Rom als Staatskult eingeführt und der Stein dorthin überführt. Nach der Ermordung des Kaisers 222 wurde der Stein nach Emesa zurückgebracht.
  • Der Stein des Mondgottes Sin in Harran (Nordsyrien, heute Türkei).
  • Der in Silber gefasste schwarze Stein der Göttermutter Kybele von Pessinus in Phrygien, der auf Veranlassung eines Orakels der Sibylle 205/204 v. Chr. nach Rom gebracht und dort in einem eigenen Tempel auf dem Palatin untergebracht wurde.
  • Der Meteor von Aigospotamoi auf der Chersonesos in Thrakien.
  • Der dem Gott Apollon heilige, von einem Flechtwerk aus Wolle bedeckte Stein Omphalos im Apollon-Heiligtum von Delphi.
  • Der ebenfalls in Delphi aufgestellte Stein, den nach dem Mythos die Göttin Rhea dem Gott Kronos übergab. Kronos verschlang den Stein im Glauben, es sei sein Sohn Zeus. Später zwang Zeus Kronos, den Stein auszuspucken, und stellte den Stein in Delphi auf.
  • Der Stein des Zeus in der Stadt Gythio, dem Hafen von Sparta.
  • Der Stein von Scone, der bei der Krönung der schottischen Monarchen eine wichtige Rolle spielte und noch heute bei der Krönung der britischen Monarchen spielt.
  • Matthias Bärmann (Hrsg.): Das Buch vom Stein – Texte aus 5 Jahrtausenden. Jung & Jung, Salzburg und Wien 2005, ISBN 3-902497-02-5, S. 7–58 (insbesondere Kapitel I–IV).
  • Milette Gaifman: Aniconism and the Notion of the „Primitive“ in Greek Antiquity. In: Ioannis Mylonopoulos (Hrsg.): Divine Images and Human Imaginations in Ancient Greece and Rome. Brill, Leiden 2010, ISBN 978-90-04-17930-1, S. 63–86
  • Manfred Hutter: Kultstelen und Baityloi. Die Ausstrahlung eines syrischen religiösen Phänomens nach Kleinasien und Israel. In: Bernd Janowski, Klaus Koch/Gernot Wilhelm (Hrsg.): Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Alten Testament. Internationales Symposion Hamburg (Orbis Biblicus et Orientalis, 129), Freiburg CH 1993, S. 87–108.
  • Uta Kron: Heilige Steine. In: Heide Froning (Hrsg.): Kotinos. Festschrift für Erika Simon. Von Zabern, Mainz 1992, ISBN 3-8053-1425-6, S. 56–70.
  • Giovanni Lilliu, Hermanfrid Schubart: Frühe Randkulturen des Mittelmeerraumes. Korsika, Sardinien, Balearen, Iberische Halbinsel. Holle, Baden-Baden 1979, ISBN 3-87355-192-6
  • Nanno Marinatos: Meta-mythology of „Baetyl Cult“. The Mediterranean Hypothesis of Sir Arthur Evans and Fritz Graf. In: Ueli Dill, Christine Walde (Hrsg.): Antike Mythen. Medien, Transformationen und Konstruktionen. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-11-020909-9, S. 406–414
  • Karel van der Toorn: Worshipping Stones: On the Deification of Cult Symbols. In: Journal of Northwest Semitic Languages 23, 1997, S. 1–14
  • Emil Reisch: Ἀργοὶ λίθοι. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band II,1, Stuttgart 1895, Sp. 723–728.
Wiktionary: Litholatrie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • Betili Antropomorfi. Archiviert vom Original; (italienisch, anthropomorpher Baitylos von Viddalba im Museo Sanna).
  • flickrhivemind.net. Archiviert vom Original; (Bilder sardischer Betili).
  • nenonargento.com. (Steine von San Lorenzo Sardinien).
  • nenonargento.com. (Die vier Steine von Oragiana stammen vom gleichnamigen Gigantengrab. Sie stehen im Innenhof der Kirche Santa Caterina d'Alessandria).
  • Betili Shardana-"Nuragici" del tipo Oragiana e antropomorfi - Ricostruzione digitale auf YouTube, abgerufen am 11. August 2024.
  1. Detlef W. Müller: Menhire. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd. 19, 2001, S. 532 (mit Abbildung einer Ritzzeichnung der „Dolmengöttin“ auf einer jungsteinzeitlichen Menhirstele).
  2. a b Friedrich Münter (1805) Ueber die vom Himmel gefallenen Steine der Alten, Bäthylien genannt; Kopenhagen und Leipzig, Johann Heinrich Schubothe
  3. Plinius, Naturalis historia 37, 51, 135.
  4. Herennios wird zitiert von Eusebius von Caesarea, Praeparatio evangelica 1.10.23; griechischer Text bei Albert I. Baumgarten: The Phoenician History of Philo of Byblos. A Commentary, Leiden 1981, S. 16, englische Übersetzung S. 182, Kommentar S. 202 f.
  5. Albert I. Baumgarten: The Phoenician History of Philo of Byblos. A Commentary, Leiden 1981, S. 202
  6. Martin Persson Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, 3. Auflage, München 1967, S. 201.
  7. Nilsson S. 204.
  8. Marinatos (2009) S. 76–79.
  9. Discovery in Turkey shakes up ideas about body and soul. 22. November 2008, archiviert vom Original am 4. Januar 2010; abgerufen am 11. August 2024 (englisch, Bericht mit Abbildung).
  10. neonargento.com. Abgerufen am 11. August 2024 (italienisch, Bild eines Zahnfries).