Benutzer:Almeida/Vertiefungen Einzelthemen
Umgang mit kontroversen Themen - Beispiel ADHS-Artikel
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei den [1]Löschkandidaten vom 9. August gibt es eine Diskussion über einen Löschantrag zum Artikel Striatofrontale Dysfunktion, den ich damals erheblich überarbeitet und verändert hatte. Dieser Löschantrag hatte seinen Hintergrund in einer langandauernden Kontroverse über den ADHS-Artikel und in den Abläufen, die ich nachfolgend beschreibe. Der Text ist meiner damaligen Stellungnahme entnommen und lediglich sprachlich etwas überarbeitet. Die Vorgänge sind m.E. exemplarisch für typische Wikipedia-Probleme.
Da haben Leute mal einen größeren Artikel geschrieben und gestaltet, in diesem Fall über ADHS. Die Genese und Behandlung von ADHS wird in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit bekanntlich äußerst kontrovers diskutiert. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob ADHS als organische Erkrankung anzusehen ist - „eine Stoffwechselstörung im Gehirn“, wie es dann meistens heißt, „im wesentlichen genetisch bedingt“. Wenn dies der Fall ist, so wird geschlussfolgert, muss sie selbstverständlich auch medizinisch, vorzugsweise medikamentös, behandelt werden. Andere Fachleute erheben warnend ihre Stimme und behaupten, diese Theorie einer ausschließlich organischen Verursachung von ADHS sei nicht der Weisheit letzter Schluß, auch soziale und psychische Faktoren spielten vermutlich ursächlich eine Rolle. Das Syndrom habe eine multifaktorielle Genese, daher solle man auch Psychotherapie, die Beeinflussung des Umfelds etc., in therapeutische Überlegungen einbeziehen.
Die ursprünglichen Gestalter des ADHS-Artikels gehörten nun zweifellos zur „biologisch-medizinischen Fraktion“. Sie waren – wie wir alle hier - bester Absicht, von der Richtigkeit ihrer Sichtweise überzeugt - und vor allem auch davon, dass es geboten ist, diese "medizinische" ADHS-Theorie offensiv zu vertreten. Denn diese entlastete die Betroffenen zum einen von dem Stigma „psychisch bedingt“ und wies zum anderen einen ebenso einfachen wie wirksamen Weg: die Behandlung mit Psychopharmaka, mit Medikamenten, die auf das Gehirn wirken, den organischen Ort des Übels, und die dort das biologisch bedingte Ungleichgewicht der Neurotransmitter wieder normalisieren sollen. Man entdeckte nun in der Literatur einen tollen Begriff, der als Bezeichnung für die organische Ursache von ADHS bestens geeignet schien: eine striatofrontale Dysfunktion sei im Gehirn der Betroffenen gefunden worden. Sogar sehen könne man sie dort, mit den modernen bildgebenden Verfahren. Damit schien die Sache klar: Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, wurde gefolgert, hat eine organische Ursache - genannt "striatofrontale Dysfunktion". Diese wiederum sei weitgehend auf genetische Dispositionen zurückzuführen.
Weil die umfangreiche Zusammenstellung der „Belege“ für die biologische Ursache von ADHS den betreffenden Artikel aber “sprengen würde“, entschloss man sich, diese Belege unter dem Stichwort (Lemma) „Striatofrontale Dysfunktion“ zusammenzuführen („...wurde angelegt, um ADS zu entlasten und die organische Genese von der Symptomatik abzugrenzen.“) Garniert mit bunten Bildchen aus dem Gehirninneren wurde der unkundige Leser unter diesem ehrfurchtgebietenden Begriff nun umfangreich über Befunde der Hirnforschung aufgeklärt, die an einer rein medizinisch-biologischen Pathogenese von ADHS angeblich keinen Zweifel mehr lassen.
Und dann kommt jemand, der sagt, Moment mal, hier stimmt was nicht. Zwar wird dieser Begriff in der Hirnforschung und Neurologie manchmal verwandt, aber nicht so, wie die Verfasser des Artikels meinen. Wenn die normale Funktionsweise der Regelkreise („loops“), die das ventrale und dorsale Striatum mit dem Frontalhirn verbinden, gestört ist, so hat das zwar meistens gravierende Folgen für bestimmte kognitive bzw. psychische Funktionen der Betroffenen (s. u.a. Exekutive Funktionen) - aber spezifisch für ADHS ist es nicht. Derartige Fehlfunktionen kommen auch bei anderen Störungen des Zentralnervensystems vor, u.a. bei Erkrankungen wie Parkinson, Huntington, Depression etc. Zudem können striatofrontale Dysfunktionen selbst die verschiedensten Ursachen haben. Unser Gehirn ist ein erfahrungsverarbeitendes Organ und kann z.B. auf übermäßigen Stress durch psychische Belastungen (einmalige oder kumulative traumatische Ereignisse, ungünstige Entwicklungsbedingungen) mit den verschiedensten Fehlfunktionen reagieren. Gerade frontostriatale Regelkreise, die an der Regulierung des Zusammenspiels von Motivation, Kognition, Emotion und Bewegung wesentlich beteiligt sind, sind dafür anfällig.
(Hier fehlt jetzt der Kontext, der in der damaligen Diskussion die Grundlage dieser Ausführungen war: Nachdem die beschriebenen Zusammenhänge aufgeklärt und der Artikel über die Striatofrontale Dysfunktion entsprechend geändert worden war, waren die ursprünglichen Verfasser so verärgert, dass sie - mit den abenteuerlichsten Argumenten - nachdrücklich eine Löschung des Artikels erwirken wollten, der ihnen in der veränderten Form nun völlig überflüssig erschien. Eine Geschichte aus dem Innenleben von Wikipedia - aus dem Teil, der von vielen zurecht kritisch gesehen wird. Hier noch der zornige Schluss meiner damaligen Stellungnahme:)
Soweit erstmal. Eigentlich wollte ich noch über den Übereifer der „Löschverfechter“ schreiben, ihre aggressive und selbstgefällige Besserwisserei, die ganz im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Fachkunde steht und den Geist des "Neutralen Standpunkts" (NPOV) absolut unterminiert. Einige hier sehen ihre Artikel geradezu als ihr persönliches Eigentum an, das sie verteidigen wie einen Claim, den sie sich erworben haben. Wenn daran etwas verändert wird, wie bei WP üblich, dann soll es besser gleich ganz weg („Es gibt also keinen Grund, den Artikel stehenzulassen, wenn er seinen ursprünglichen Zweck - die organische striatofrontale ... Stoffwechselstörung, die zur Symptomatik ADS führt - nach Umbenennung nicht mehr erfüllen kann.“) --Almeida 16:59, 13. Aug 2006 (CEST)
Zur Problematik der Lemmata „Messie-Syndrom“, „Diogenes-Syndrom“ und „Vermüllungssyndrom“
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten](Fortsetzung dieser Diskussion zum Begriff Diogenes-Syndrom und dieser Diskussion zum Begriff Messie-Syndrom - aus Anlass des eingeleiteten Meinungsbildes)
Wir sollten zunächst drei Fragen bzw. Betrachtungsebenen unterscheiden:
1) die lexikalische oder enzyklopädische Ebene - welche der genannten Begriffsworte eignen sich als Lemma für Wikipedia?
2) die Ebene spezifischer Wikipedia-Vorgaben, z.B. hinsichtlich thematischer Überschneidungen bzw. Redundanz
3) die wissenschaftliche Ebene: Was hat es wissenschaftlich betrachtet mit den Begriffen auf sich bzw. mit den Phänomenen, für die sie stehen? Was können uns die einschlägigen Wissenschaften darüber sagen?
zu 1) Vergegenwärtigen wir uns nochmal, wie Lemmata einer Enzyklopädie zustande kommen (s. auch Enzyklopädietheorie).
In einer Enzyklopädie werden Begriffe erläutert. Im Unterschied zu einem Wörterbuch, das nur die Bezeichungen (Termini) für Begriffe bzw. deren Bedeutung erklärt, wird in einem Lexikon bzw. einer Enzyklopädie zusätzlich der Wissenskontext dargestellt, der mit dem jeweiligen Begriff verbunden ist. Natürlich muss die Bezeichnung zu dem Begriff und dem zugehörigen Wissen passen: wenn wir zu „Wetter“ schreiben, was eigentlich zu „Klima“ gehört, haben wir das Thema verfehlt.
Wie finden wir nun die Bezeichnungen und Begriffe, die wir in einer Enzyklopädie erläutern wollen? Sie sind zunächst einmal einfach in der Welt. Sie bilden sich irgendwann und breiten sich aus, indem Menschen sie verwenden. Wie sich der Begriff „Messie“ gebildet hat, steht ansatzweise im Artikel über das Messie-Syndrom. Sandra Felton hat ein paar Bücher geschrieben, die bei den Betroffenen erhebliche Resonanz fanden, da sie ein Problem thematisierten, zu dem es bis dahin wenig Literatur gab, schon gar nicht aus einer verständnisvollen Betroffenen- bzw. Selbsthilfe-Perspektive geschrieben. Den Terminus „Messie“ hat Sandra Felton offenbar gut gewählt, denn viele Betroffene - vor allem im deutschen Sprachraum, wo „Messie“ sympathischer klingt als im angloamerikanischen - haben ihn „angenommen“. Weder der Terminus „Diogenes-Syndrom“ noch gar „Vermüllungssyndrom“ hätte vermutlich eine vergleichbare Resonanz erzeugt.
Nun ist der Begriff also in der Welt. Menschen verbinden mit ihm ganz bestimmte Phänomene, die Medien berichten im Zusammenhang damit immer wieder über die Probleme der Betroffenen, diese sammeln sich massenhaft in Selbsthilfegruppen – all dies unter der Bezeichnung „Messie“ bzw. "Messie-Syndrom" (ein "Messie" ist ein Mensch, der an dem "Messie-Syndrom" leidet). Und Wikipedia sollte diese Termini nicht als Lemmata für entsprechende Lexikonartikel verwenden, um näher zu beschreiben und zu erläutern, was alle Welt damit verbindet? Weil Robodoc keine Anglizismen mag? Oder weil Manuela hinsichtlich psychiatrienaher Themen sowieso erstmal grundsätzlich skeptisch ist? Nein, so geht es nicht.
Begriffe bilden sich, indem sie verwendet werden. Ihre Bedeutung entspricht ihrem Gebrauch in der Sprache, wie Wittgenstein uns überzeugend nahegebracht hat. Nun gibt es aber Menschen, die mögen das nicht. Denen ist das viel zu fließend und ungenau. Wo kämen wir hin, wenn wir Ordnung und Eindeutigkeit nicht einmal in unsere eigene Sprache brächten. Ein Begriff soll doch, bitte schön, genau das bedeuten, was seine Definition ist. Und die macht nicht irgendwer, schon gar nicht irgendwelche Messie-Massen - die machen Fachleute. Sonst haben wir bald eine Wikipedia nach dem Humpty Dumpty – Prinzip: „Wenn ich ein Wort gebrauche“, sagte Humpty Dumpty in leicht verächtlichem Ton, „so bedeutet es das, was ich will, dass es bedeutet – nicht mehr und nicht weniger.“ Da wehren wir den Anfängen. Bei Wikipedia werden Worte so verwandt, wie Fachleute sie definiert haben, und nicht anders. Schließlich wollen wir hier doch der Wahrheit dienen, nicht wahr? Dass die am Ende bloß „ein bewegliches Heer von Metaphern“ sein könnte, wie Nietzsche meinte - ein Graus. Nicht bei Wikipedia! Dagegen haben wir ein für alle Mal ein probates Mittel: Quellen! Von Fachleuten geschrieben, von Fachzeitschriften gedruckt! „Denn was Du schwarz auf weiß besitzt, kannst Du getrost nach Hause tragen“, das hat schließlich schon Mephisto im "Faust" dem Schüler empfohlen. Und da stand immerhin Goethe dahinter. Also: Alle Definitionsmacht den Fachleuten. Die Messies - die sollen sich mal um ihren Müll kümmern, und uns hier nicht noch die Begriffe versauen... (wird fortgesetzt) --Almeida 01:15, 27. Sep 2006 (CEST)
zu 2) Das Problem der Redundanz tritt auf, wenn sich Artikel thematisch überschneiden. Die grundlegende Wikipedia-Empfehlung für diesen Fall lautet, „Artikel, die einander stark überlappende Informationen enthalten, zu einem Artikel zusammenzufassen oder den Unterschied klarer herauszuarbeiten, um ihn jedem verständlich zu machen“, also „die Artikel besser voneinander abzugrenzen“.
Das "oder" ist wichtig – es gibt demzufolge zwei Alternativen. Die zweite Alternative sollte gewählt werden, wenn „die Artikel zwar nicht redundant“ sind, „der Unterschied aber nicht augenfällig“ ist. Es sollte dann versucht werden, „die Artikel so zu bearbeiten, dass die Unterschiede klarer heraustreten“. „Ein einführender Satz und danach ein Link auf den tiefergehenderen Artikel“ wären in diesem Fall „in Ordnung“.
Wir müssen uns also fragen,
- ob die genannten Begriffsworte dieselben Phänomene benennen, dann wären sie redundant, im Extremfall Synonyme,
- oder ob sie verschiedene Phänomene bezeichnen, dann wäre der Unterschied deutlich herauszuarbeiten.
Nun gibt es einen Punkt, der die Sache zunächst scheinbar verkompliziert, uns am Ende aber die Entscheidung erleichtert. Es geht nämlich nicht nur um die Phänomene selbst (also die „Sachen“, wie sie in Erscheinung treten), sondern auch um die Begriffe, die wir davon haben, also die Vorstellungen, die davon in unseren Köpfen sind (mehrheitlich, Fachleute eingeschlossen). Denn die sind es, die in einer Enzyklopädie letztlich behandelt werden (s.o. zu 1). Und die zugehörigen Begriffsworte haben, so sagen uns die Sprachwissenschaftler bzw. Semantiker, einen Inhalt (Intension) und einen Umfang (Extension). Der Inhalt bezieht sich darauf, wie der Begriffsgegenstand gemeint ist (bei einer Aussage: welcher Gedanke ausgedrückt werden soll), während der Umfang durch die Menge oder Klasse aller Gegenstände festgelegt wird, auf die der Begriff zutrifft. Der Terminus „einsilbig“ bezieht sich also inhaltlich (intensional) auf Worte mit einer Silbe, sein Umfang sind alle einsilbigen Worte. „Violine“ und „Geige“ sind sowohl intensional als auch extensional gleich (im Wikipedia-Jargon: total redundant – zwei Artikel hätten keine Chance).
Wir hätten also zu prüfen, ob die zur Debatte stehenden Begriffsworte (Lemmata) semantisch betrachtet den gleichen Inhalt haben und den gleichen Umfang. Es wäre ja z.B. denkbar, dass am Vermüllungssyndrom leidende Personen eine Teilmenge der gemeinhin als Messies beschriebenen Personen sind, und die am Diogenes-Syndrom leidenden evtl. eine andere. Oder dass die entsprechenden Begriffe auch gedanklich nicht wirklich deckungsgleich sind, dass wir damit also verschiedene Bedeutungen (Inhalte) verbinden. In beiden Fällen sollten wir die entsprechenden Artikel beibehalten, aber gut voneinander abgrenzen (evtl. in der Minimalform, „einführender Satz und danach ein Link auf den tiefergehenderen Artikel“). (Teil 3 folgt) --Almeida 16:51, 27. Sep 2006 (CEST)
zu 3)
- "Diogenes Syndrom" und "Messie Syndrom" bezeichnen Syndrome mit z.T. ähnlicher Symptomatik, die jedoch keineswegs identisch sind. Der - vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum verwendete - Begriff Diogenes Syndrom wird vorwiegend in Bezug auf alleinlebende und sozial zurückgezogene ältere Menschen verwendet, die ihre Körper- und Wohnungspflege erheblich vernachlässigen ("self-neglect"), wobei das Ausmaß der Verwahrlosung unterschiedlich sein und bis hin zur Vermüllung gehen kann. In aller Regel handelt es sich um ein geriatrisches Problem.
- Der Hauptaspekt des Messie-Syndroms, das in allen Altersstufen vorkommen kann, ist hingegen die Desorganisations-Problematik, meistens verbunden mit einer Neigung zum Horten (Compulsive Hoarding). Messies können sich in der Regel von den unterschiedlichsten Dingen von geringem Wert nur schwer trennen, die "Nicht-Messies" leicht entsorgen würden. Probleme mit der körperlichen Hygiene sind für Messies jedoch in keiner Weise typisch.
- Auf die Unterschiede der betreffenden Diagnosen bzw. Begriffe weisen ausdrücklich auch Faust, Maier (2006) und - auf der Basis einer eingehenden Analyse der einschlägigen Literatur von 1966 - 2004 - Pavlou u.a. (2006) hin.
- Auf neurowissenschaftlicher Ebene werden zunehmend die neuroanatomischen, -physiologischen und -chemischen Unterschiede von Störungen des hier interessierenden Spektrums herausgearbeitet, die bisher auf symptomatischer Basis in Gruppen zusammengefasst wurden. Dies betrifft insbesondere das Symptombild des Compulsive Hoarding (z.B. Arbeitsgruppen von Mataix-Cols (vgl. Mataix-Cols u.a. (2004) und (2005) sowie von Saxena (vgl. z.B. Saxena. u.a. (2004)). --Almeida 18:13, 1. Okt 2006 (CEST)