Rechtfertigungsgrund

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Defensivnotstand)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Rechtfertigungsgründe sind Umstände, die die Rechtswidrigkeit einer Handlung ausschließen.[1]

Nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung soll ein und dasselbe Verhalten nicht in einem Teilbereich der Rechtsordnung als erlaubt, in einem anderen dagegen als verboten angesehen werden. Daher gelten Rechtfertigungsgründe in der gesamten Rechtsordnung, also dem Zivil-, Straf- und Öffentlichen Recht.[2] Ist ein Verhalten nach den Regeln über den zivilrechtlichen Notstand gedeckt (§ 228, § 904 BGB), wird es auch nicht bestraft oder mit Bußgeld geahndet (§ 34 StGB, § 16 OWiG).[3]

Im Bereich des Deliktsrechts hat der Gesetzgeber die Schadensersatzpflicht für unerlaubte Handlungen geregelt. Die Verletzung eines Rechtsguts oder eines Schutzgesetzes indiziert die Rechtswidrigkeit dieser Handlung. Die Verpflichtung zum Schadensersatz tritt aber nicht ein, wenn die Handlung nicht widerrechtlich war, d. h. durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt (§ 823 BGB). Es gibt gesetzlich geregelte und sonstige, von der Rechtsprechung anerkannte Rechtfertigungsgründe. Beispiele sind:[4]

  • Notwehr, § 227 BGB
  • Verteidigungsnotstand, Defensivnotstand, § 228 BGB (Verteidigung gegen fremde Sachen, von denen eine gegenwärtige Gefahr ausgeht)
  • Angriffsnotstand, Aggressivnotstand, § 904 BGB (Verteidigung mit fremden Sachen zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr)
  • Selbsthilfe, § 229 BGB
  • Besitzwehr, Besitzkehr, § 859 BGB
  • berechtigte GoA, §§ 677 ff. BGB
  • erlaubte Emission, § 906 BGB
  • verkehrsrichtiges, ordnungsgemäßes Verhalten.[5]

Darüber hinaus sind auch außerhalb des Zivilrechts geregelte Rechtfertigungsgründe beachtlich, wie die Wahrnehmung berechtigter Interessen gem. § 193 StGB.

Die ausdrückliche oder mutmaßliche Einwilligung spielt eine Rolle bei ärztlichen Heileingriffen oder Sportverletzungen.

Im deutschen Strafrecht ist eine rechtswidrige Tat eine Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Die Tatbestandserfüllung indiziert auch hier die Rechtswidrigkeit. Allein die Rechtswidrigkeit begründet aber noch nicht die Strafbarkeit des Täters. Wenn dem Täter ein Rechtfertigungsgrund zugutekommt, schließt das eine Bestrafung aus.

Einzelne Rechtfertigungsgründe

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das deutsche Strafrecht kennt zahlreiche Rechtfertigungsgründe, die nicht abschließend aufgezählt sind. Sie stehen nicht zwingend im Strafgesetzbuch, sondern sind auch im BGB (z. B. § 228, § 904 BGB) oder der Strafprozessordnung (Recht der vorläufigen Festnahme, § 127 StPO) geregelt. Rechtfertigungsgründe können auch gewohnheitsrechtlich anerkannt sein, beispielsweise die Pflichtenkollision.[6] Die ausdrückliche oder mutmaßliche Einwilligung spielt auch im Strafrecht eine Rolle und ist für die Körperverletzung in § 228 StGB normiert, für den Schwangerschaftsabbruch in § 218a Abs. 2 und 3 StGB.

Die wichtigsten strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe sind die Notwehr (§ 32 StGB) und der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB).

Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich und geboten ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (§ 32 Abs. 1 u. 2 StGB).[7] Die dualistische Notwehrkonzeption folgt den Gedanken des zulässigen Selbstschutzes und dem sog. Rechtsbewährungsprinzip (Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen).[8]

Der rechtfertigende Notstand setzt dagegen eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren voraus. Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte wesentlich überwiegen (§ 34 Satz 1 StGB). Außerdem muss die Tat ein angemessenen Mittel zur Abwehr der Gefahr sein (§ 34 Satz 2 StGB).

Zudem entwickelte der Bundesgerichtshof 2010 im Rahmen des sog. „Fall Putz“ im Bereich der (passiven) Sterbehilfe den rechtfertigenden Behandlungsabbruch.

Anstiftung und Beihilfe setzen eine rechtswidrige Tat voraus (§ 26, § 27 StGB). An einer durch einen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigten und damit bloß tatbestandsmäßigen Handlung gibt es keine strafbare Teilnahme.[9]

Subjektiv ist erforderlich, dass der Täter, der sich auf den Rechtfertigungsgrund beruft, auch mit dem Willen zur Abwehr eines Angriffs oder einer Gefahr handelt.[10] Falls kein Verteidigungs- oder Rettungswille des Täters vorliegt, um beim Vorsatzdelikt sowohl das Erfolgsunrecht des objektiven als auch das Handlungsunrecht des subjektiven Tatbestandes zu kompensieren, wird die Tat als rechtswidrig angesehen.[11] Dabei ist strittig, ob der Täter wegen vollendeter Tat oder nur wegen Versuchs zu bestrafen ist.[12][13]

Nimmt der Täter irrtümlich an, es lägen die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vor, beispielsweise im Fall der Putativnotwehr, so handelt es sich um einen Erlaubnistatbestandsirrtum, dessen Behandlung in der Strafrechtslehre strittig ist.[14] Je nach Meinung in der Rechtswissenschaft liegt eine teilnahmefähige Tat vor oder nicht.

Ordnungswidrigkeiten

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Ordnungswidrigkeit ist eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zulässt (§ 1 Abs. 1 OWiG). Wer eine Handlung begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig (§ 15 Abs. 1 OWiG). Nicht rechtswidrig ist auch eine Handlung unter den Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstands (§ 16 Abs. 1 OWiG).[15] Diese Regelungen entsprechen jenen des Strafgesetzbuchs (§ 32, § 34 StGB).

Außerdem gelten auch im Ordnungswidrigkeitenrecht die Erlaubnisnormen des BGB, des Polizeirechts oder die Einwilligung.[16]

Ein speziell auf Verkehrsordnungswidrigkeiten zugeschnittener Rechtfertigungsgrund ergibt sich aus § 35 StVO für Polizei, Feuerwehr oder Fahrzeuge des Rettungsdienstes bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten.[17]

Öffentliches Recht

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aus dem Öffentlichen Recht ergeben sich bestimmte Amtsbefugnisse im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, die die körperliche Untersuchung eines Beschuldigten oder anderer Personen rechtfertigen können (§§ 81 ff. StPO). Gerichtsvollzieher sind bei der Zwangsvollstreckung gem. § 758 ZPO zur Gewaltanwendung gegen den Schuldner befugt. Die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes sind bei Gefahr im Verzug auch dann zur vorläufigen Festnahme gem. § 127 Abs. 2 StPO befugt, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls oder eines Unterbringungsbefehls vorliegen. Die Staatsanwaltschaft als Strafvollzugsbehörde kann einen entwichenen Gefangenen festnehmen und in die Justizvollzugsanstalt zurückbringen (§ 87 StVollzG). Im Übrigen gelten die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe nach h. M. auch für hoheitliches Handeln von Amtsträgern, falls keine engeren und abschließenden Sonderregelungen eingreifen.[18][19]

Zudem stellen die Ermächtigungsgrundlagen der einzelnen Landespolizeigesetze Rechtfertigungsgründe dar.[20][21] Diese ermöglichen bspw. die Ingewahrsamnahme (z. B.: § 32 HSOG), das Betreten von Wohnungen (z. B.: § 38 HSOG), die Verwertung, Unbrauchbarmachung und Vernichtung (z. B.: § 42 HSOG). Diese tangieren auch Straftatbestände wie bspw. § 239 StGB, § 123 StGB und § 303 StGB, wobei die öffentlich-rechtliche Ermächtigungsgrundlage die Rechtfertigung darstellt.

Keine Rechtfertigungsgründe

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Rechtfertigungsgrund Rechtslexikon.de, abgerufen am 7. Dezember 2020.
  2. Ole Beyler, Matthias Gruber, Alexander Klose: Rechtfertigungsgründe FU Berlin, 1999.
  3. Eric Hilgendorf: Rechtfertigungsgründe Universität Würzburg, 2005, S. 7.
  4. vgl. Michael Becker: Einführung in das Deliktsrecht TU Dresden 2011, S. 3.
  5. BGH, Beschluss vom 4. März 1957 - GSZ 1/56
  6. Ole Beyler, Matthias Gruber, Alexander Klose: Rechtfertigungsgründe FU Berlin, 1999.
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 2 StR 177/19
  8. Rafael van Rienen: Die dualistische Notwehrkonzeption der herrschenden Meinung. In: Die „sozialethischen“ Einschränkungen des Notwehrrechts. Die Grenzen privater Rechtsverteidigung und das staatliche Gewaltmonopol. Nomos-Verlag, 2009, ISBN 978-3-8329-4693-7, S. 138–150.
  9. Eric Hilgendorf: Rechtfertigungsgründe Universität Würzburg, 2005, S. 11.
  10. vgl. Erforderlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements Universität Freiburg, 15. Januar 2020.
  11. Philipp Guttmann: StGB AT: Rechtswidrigkeit und Rechtfertigungsgründe (§§ 32, 34 StGB, §§ 228, 904 BGB, § 127 I 1 StPO) 6. Juli 2015.
  12. vgl. Folgen des Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselements Universität Freiburg, 3. März 2020.
  13. vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 3 StR 199/15 Rdnr. 10, 12.
  14. vgl. Urs Kindhäuser: Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen (Erlaubnistatbestandsirrtum) Universität Bonn, ohne Jahr, abgerufen am 26. Dezember 2020.
  15. vgl. Wolfgang Mitsch: Fallsammlung zum Ordnungswidrigkeitenrecht. Springer-Verlag, 2011, ISBN 978-3-540-33947-2.
  16. Franz Gürtler, in: Erich Göhler, Helmut Seitz, Franz Gürtler (Hrsg.): Ordnungswidrigkeitengesetz. Kommentar. 15. Auflage. 2009, ISBN 978-3-406-58490-9, Vor § 1 Rn. 20 ff.
  17. Torsten Noak: Einführung ins Ordnungswidrigkeitenrecht – Teil 1: Ahndungsvoraussetzungen. In: ZJS. 2012, S. 175, 177 f.
  18. vgl. BGH, Beschluss vom 23. September 1977 - StB 215/77 zum rechtfertigenden Notstand.
  19. Urs Kindhäuser: Skript zur Vorlesung Strafrecht AT. Grundlagen der Rechtswidrigkeit. Universität Bonn, ohne Jahr.
  20. Horst Schlehofer: Vorb. zu §§ 32 ff. In: Volker Erb/Jürgen Schäfer (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. 4. Auflage. Band 1. München 2020, ISBN 978-3-406-74601-7, Rn. 131.
  21. Hans-Ullrich Paeffgen/Benno Zabel: Vorbemerkungen zu §§ 32 ff. In: Urs Kindhäuser u. a. (Hrsg.): Strafgesetzbuch: Kommentar. 5. Auflage. Baden-Baden 2017, ISBN 978-3-8487-3106-0, Rn. 188.
  22. Züchtigungsrecht Universität Freiburg, 8. Juni 2017.
  23. vgl. beispielsweise § 90 Abs. 3 Satz 5 SchG Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) in der Fassung vom 1. August 1983.