Distickstofftetroxid

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Strukturformel
Struktur von Distickstofftetroxid
Allgemeines
Name Distickstofftetroxid
Andere Namen
  • Stickstofftetraoxid
  • Stickstofftetroxid
  • NTO
Summenformel N2O4
Kurzbeschreibung

farbloses Gas mit stechendem Geruch, bei Erwärmung rotbraune Verfärbung durch Bildung von Stickstoffdioxid[1]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 10544-72-6
EG-Nummer 234-126-4
ECHA-InfoCard 100.031.012
PubChem 25352
Wikidata Q382984
Eigenschaften
Molare Masse 92,01 g·mol−1
Aggregatzustand

gasförmig (bei 25 °C)

Dichte

1,45 g·cm−3[1]

Schmelzpunkt

−11 °C[1]

Siedepunkt

21 °C[1]

Dampfdruck

0,1 MPa (20 °C)[1]

Löslichkeit

hydrolysiert in Wasser[1]

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung aus Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP),[2] ggf. erweitert[1]
Gefahrensymbol Gefahrensymbol Gefahrensymbol Gefahrensymbol

Gefahr

H- und P-Sätze H: 280​‐​270​‐​330​‐​314
EUH: 071
P: 260​‐​280​‐​244​‐​220​‐​304+340​‐​315​‐​305+351+338​‐​315​‐​303+361+353​‐​315​‐​370+376​‐​403​‐​405[1]
Thermodynamische Eigenschaften
ΔHf0

11,1 kJ/mol[3]

Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet.
Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa).

Distickstofftetroxid in Ampullen bei verschiedenen Temperaturen: −196 °C, 0 °C, 23 °C, 35 °C, 50 °C (von links nach rechts)

Distickstofftetroxid, N2O4, ist bei 25 °C ein farbloses Gas. Es ist das Dimer des Stickstoffdioxids, NO2, und steht mit diesem in einem druck- und temperaturabhängigen Gleichgewicht.

Distickstofftetroxid wird unter seinem Trivialnamen Stickstofftetroxid, beziehungsweise meist unter der Abkürzung NTO (von englisch nitrogen tetroxide), in der Raumfahrt und Raketentechnik als ohne Kühlung lagerfähiges und hypergol mit Hydrazin und seinen Derivaten reagierendes Oxidationsmittel (Oxidator) verwendet.

Distickstofftetroxid ist bei einer Temperatur oberhalb von 21 °C ein ätzendes und stark oxidierend wirkendes Gas. Das farblose, diamagnetische Distickstofftetroxid steht im Gleichgewicht mit dem rotbraunen, paramagnetischen Stickstoffdioxid. Ein Molekül N2O4 zerfällt hierbei in zwei Moleküle NO2.

[4]

Je nach Druck und Temperatur liegen unterschiedliche Anteile an beiden Gasen bzw. Flüssigkeiten vor. Da Stickstoffdioxid eine rotbraune Farbe besitzt, ist das Gemisch je nach Temperatur orange bis rotbraun gefärbt. Mit zunehmender Temperatur verschiebt sich das obige Gleichgewicht nach rechts und die braune Färbung vertieft sich. Bei 800 °C ist der Zerfall nahezu vollständig. Die Dissoziationskonstante kann hier über die konzentrationsproportionalen Partialdrücke wiedergegeben werden:[5]

Der Wert der Dissoziationskonstante hängt signifikant von der Temperatur ab.

T in °C 0 8,7 25 35 45 50 86,5 101,5 130,8
Kd[5] in atm 0,0177 0,0374 0,147 0,302 0,628 0,863 7,499 16,18 59,43

Beim Abkühlen kondensiert Distickstofftetroxid und die Flüssigkeit klart auf. In der Nähe des Siedepunktes zeigt die Substanz wegen noch gelöstem Stickstoffdioxid eine braune Färbung. N2O4 bildet farblose Kristalle und kristallisiert im kubischen System (a = 7,77 Å) mit sechs N2O4-Gruppen pro Einheitszelle.[6] Auch die Variation des Druckes beeinflusst das Gleichgewicht. Eine Erhöhung des Druckes verschiebt es auf die linke, eine Absenkung auf die rechte Seite (Prinzip vom kleinsten Zwang). Der kritische Punkt von N2O4 liegt bei 157,85 °C und 10 MPa.

N2O4 als auch NO2 bilden das gemischte Anhydrid der Salpetersäure und der Salpetrigen Säure. Mit Alkalihydroxidlösungen entstehen Nitrate und Nitrite, z. B:

Distickstofftetroxid ist das Dimer des Stickstoffdioxids, das als Zwischenprodukt bei der großtechnischen Salpetersäuresynthese durch Luftoxidation von Stickstoffmonoxid NO entsteht. Durch Abkühlen dimerisiert Stickstoffdioxid zu Distickstofftetroxid und kann so als Nebenprodukt in einer Salpetersäurefabrik produziert werden.

Im Labor kann es dargestellt werden

  • in Analogie zur technischen Synthese
  • durch Reduktion von konzentrierter Salpetersäure mit Kupfer
  • durch Erhitzen von Schwermetallnitraten wie Bleinitrat oder Silbernitrat im Sauerstoffstrom
  • durch Umsetzung von rauchender Salpetersäure mit Phosphor(V)-oxid und thermischer Zersetzung des erhaltenen Distickstoffpentoxid bei 260 °C[6]:

Distickstofftetroxid wird unter dem Trivialnamen Stickstofftetroxid (engl. nitrogen tetroxide; NTO) seit den 1950er Jahren in vielen Raketen als ohne Kühlung lagerfähiges Oxidationsmittel (Oxidator) verwendet. Zusammen mit Hydrazinderivaten als Reduktionsmittel bildet es die einzigen bei Träger- und Interkontinentalraketen verwendeten hypergolischen Treibstoffmischungen. So wurde es z. B. zusammen mit Hydrazin und UDMH als Treibstoffgemisch (Aerozin 50) der Mondlandefähren und dem Apollo-Raumschiff im amerikanischen Apollo-Programm für Haupt- und Steuertriebwerke verwendet.

Zuerst wurde Distickstofftetroxid als lagerfähiger Oxidator bei den Interkontinentalraketen der zweiten Generation wie der Titan II verwendet, die dadurch immer vollgetankt und einsatzbereit auf ihren sofortigen Start warten konnten. Danach kam Distickstofftetroxid bei den aus diesen Interkontinentalraketen abgeleiteten Trägerraketen und zahlreichen neu entwickelten Trägerraketen bis heute zum Einsatz. Außerdem ist Distickstofftetroxid neben MON der Standardoxidator von Satelliten und Raumsonden.

Aufgrund seiner Reaktionsfreudigkeit kommt es, besonders im Kontext der Raketentechnik immer wieder zu Unfällen.

  • Am 19. September 1980 ist eine mit einem Nuklearsprengkopf bestückte Titan II in einem Silo im Startkomplex 374-7 nördlich von Damascus explodiert. Durch ein im Silo unachtsam fallengelassenes Werkzeug wurde der NTO-Tank leck geschlagen, was etwa 9 Stunden später zur Explosion führte.[7]
  • Im Oktober 1986 sank das sowjetische Atom-U-Boot K-219. Aufgrund eines nicht näher geklärten Zwischenfalls trat Meerwasser ein und reagierte mit ausgelaufenem NTO zu Salpetersäure. Diese zerstörte wiederum die Treibstoffleitungen, die letztlich zur Explosion einer der Raketen führten, die das U-Boot schwer beschädigte. Es konnte zwar eine Kernschmelze beider Reaktoren verhindert werden, das U-Boot sank dennoch 3 Tage später mutmaßlich aufgrund der schweren Beschädigungen.
  • Im Juni 2024 stürzte in Südwestchina ein Booster einer Langer Marsch 2C in der Nähe eines Dorfes ab. Inoffiziell veröffentlichte Bilder zeigen orange Rauchschwaden, die auf die Reaktionsprodukte des Treibstoffs bestehend aus NTO und UDMH zurückzuführen sind. Laut der China Aerospace Science and Technology Corporation war der Raketenstart trotz dieses Unfalls ein voller Erfolg.[8]

Risikobewertung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Distickstofftetroxid wurde 2015 von der EU gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) im Rahmen der Stoffbewertung in den fortlaufenden Aktionsplan der Gemeinschaft (CoRAP) aufgenommen. Hierbei werden die Auswirkungen des Stoffs auf die menschliche Gesundheit bzw. die Umwelt neu bewertet und ggf. Folgemaßnahmen eingeleitet. Ursächlich für die Aufnahme von Distickstofftetroxid waren die Besorgnisse bezüglich Exposition von Arbeitnehmern und hohes Risikoverhältnis (Risk Characterisation Ratio, RCR) sowie der möglichen Gefahren durch mutagene und reproduktionstoxische Eigenschaften. Die Neubewertung sollte von Lettland durchgeführt werden, jedoch wurde die Neubewertung der Substanz 2019 zurückgezogen, weil die Gefahren als gering eingeschätzt wurden.[9][10]

Commons: Distickstofftetroxid – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. a b c d e f g h Eintrag zu Distickstofftetraoxid in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA, abgerufen am 10. Januar 2017. (JavaScript erforderlich)
  2. Eintrag zu Dinitrogen tetraoxide im Classification and Labelling Inventory der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA), abgerufen am 1. Februar 2016. Hersteller bzw. Inverkehrbringer können die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung erweitern.
  3. David R. Lide (Hrsg.): CRC Handbook of Chemistry and Physics. 90. Auflage. (Internet-Version: 2010), CRC Press / Taylor and Francis, Boca Raton FL, Standard Thermodynamic Properties of Chemical Substances, S. 5-16.
  4. Hans-Dieter Jakubke, Ruth Karcher (Hrsg.): Lexikon der Chemie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2001.
  5. a b J. Chao, R.C. Wilhoit, B.J. Zwolinski: Gas phase chemical equilibrium in dinitrogen trioxide and dinitrogen tetroxide. In: Thermochim. Acta, 10, 1974, S. 359–371, doi:10.1016/0040-6031(74)87005-X.
  6. a b A. Pedler and F. H. Pollard: Nitrogen(IV) oxide (Dinitrogen Tetroxide). In: Therald Moeller (Hrsg.): Inorganic Syntheses. Band 5. McGraw-Hill, Inc., 1957, S. 87–91 (englisch).
  7. Explosion einer Titan-II-Rakete (1980)
  8. Hochgiftiges Raketenteil hat Dorf in Südwestchina nur knapp verfehlt
  9. Community Rolling Action Plan (CoRAP) der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA): dinitrogen tetraoxide, abgerufen am 6. März 2022.Vorlage:CoRAP-Status/Evaluationsjahr nicht angegeben
  10. ECHA: Withdrawal, 19. März 2019.