Ereigniskorrelierte Potentiale

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Als ereigniskorrelierte Potentiale oder ereignisbezogene Potentiale (EKP, englisch: event-related potentials, ERP) werden Wellenformen im Elektroenzephalogramm (EEG) bezeichnet, die mit einem beobachtbaren Ereignis zusammenhängen. Ein solches Ereignis kann ein Sinnesreiz sein, der auf die Versuchsperson einwirkt, oder eine Bewegung der Versuchsperson. Daher kann man zwischen reiz- und bewegungsbezogenen EKPs unterscheiden. Um den Zusammenhang zwischen Ereignis und Potential zu erkennen, muss das Ereignis viele Male wiederholt werden und das EEG bei jeder Wiederholung mit dem gleichen Zeitbezug zum Ereignis gemessen werden.

Ist das Ereignis der immer gleiche Reiz ohne weitere Instruktion an die Testperson, dann haben ihre EKPs nur wahrnehmungsbezogene Komponenten und man spricht von evozierten Potentialen. Man kann jedoch verschiedene Ereignisse verwenden und von diesen nur manche beachten lassen oder auf nur manche reagieren lassen, sodass sich die Verarbeitung dieser Ereignisse in Prozessen der Aufmerksamkeitszuwendung, Entdeckung von Irregularitäten, Bewusstheit der Wahrnehmung, Entscheidung, Erwartung, Bewegungsvorbereitung unterscheiden kann. Mit den EKPs lassen sich neurophysiologische Korrelate dieser kognitiven Prozesse messen. Erforschung von EKPs ist daher Teil der kognitiven Neurowissenschaft.

EKPs geben präzise Auskunft darüber, wann Gebiete der Hirnrinde aktiviert werden, aber nur unpräzise darüber, welche Gebiete dies sind. Insofern sind sie komplementär zur funktionellen Kernspintomografie, welche die Aktivierung von Hirnarealen sehr gut räumlich, aber nur unpräzise zeitlich messen kann. Vorteile der EKP-Methodik sind die relativ niedrigen Kosten und die Nicht-Invasivität der Messung, da lediglich Mess-Elektroden an die Kopfhaut geklebt werden.[1][2]

Schematische Darstellung des Verlaufs ereigniskorrelierter Potentiale bei Aufnahme und Verarbeitung eines visuellen oder auditiven Reizes (vgl. Birbaumer & Schmidt, 2006, S. 481)[3]

Um die EKPs, die häufig klein relativ zum Spontan-EEG sind, überhaupt sichtbar zu machen, muss das Ereignis viele Male wiederholt werden und das EEG bei jeder Wiederholung mit gleichem Zeitbezug zum Ereignis gemessen werden. Das EEG wird dann üblicherweise über diese Wiederholungen gemittelt. Die ereignisunabhängigen Anteile des EEG (das Spontan-EEG, Rauschen) mitteln sich dabei heraus und die ereignisabhängige Wellenform zeigt sich. Darüber hinaus werden komplexere Methoden der Signalanalyse entwickelt, mit denen sich z. B. Veränderungen in den Schwingungsstärken (Zeit-Frequenz-Analyse, Wavelet-Analyse), in der Synchronisation oder in der Kohärenz über die Einzelmessungen nachweisen lassen.

EKPs werden üblicherweise mit vielen Elektroden, häufig 32 oder 64, gleichzeitig gemessen, die über die Kopfhaut verteilt aufgesetzt werden. Aus physiologischen und physikalischen Gründen kann fast nur Aktivität der Hirnrinde direkt gemessen werden, nur in Ausnahmefällen von tiefergelegenen Zentren wie Thalamus, Hippocampus, Basalganglien oder vom Kleinhirn. Auch dieser messbare Anteil aus der Hirnrinde wird auf seinem Übertragungsweg an die äußere Kopfhaut abgeschwächt und räumlich unscharf. Elektrische Spannung kann nur zwischen zwei Punkten gemessen werden; daher benötigt die Messung von den Kopfhautelektroden einen Bezugspunkt. Dieser wird häufig durch Elektroden an den Ohren oder an der Nase gebildet, oder wird zu jedem Zeitpunkt neu als der Mittelwert aller Elektroden zu diesem Zeitpunkt definiert. Die so an der Kopfhaut gemessenen Spannungen betragen wenige Mikrovolt und müssen daher stets auf störende, nicht im Hirn entstandene Spannungen geprüft werden; die wichtigste Quelle solcher Störspannungen bei ansonsten ruhig sitzenden Versuchsteilnehmern sind Blinzeln und Augenbewegungen. Beschränkung auf Aktivität der Hirnrinde, räumliche Unschärfe, Abhängigkeit von der Wahl der Referenz und generell die Messung von außen (anstatt invasiv direkt aus dem Gehirn, wie bei Tierversuchen oder bei Patienten mit aus medizinischen Gründen implantierten Elektroden möglich) sind die methodischen Gründe, warum EKPs zwar präzise Auskunft darüber geben, wann Gebiete der Hirnrinde aktiviert werden, aber nur unpräzise darüber, welche Gebiete dies sind.

EKPs lassen sich nicht nur über das EEG, sondern auch über die Magnetoenzephalographie (MEG) gewinnen (da gemäß der Daumenregel jedes elektrische Feld ein Magnetfeld hat); die Messung ist wesentlich aufwendiger, hat aber nicht das Problem der räumlichen Unschärfe der Übertragung von Hirnrinde zu Kopfhaut.

Anwendungen von EKPs finden sich in der Psychophysik und in den Kognitionswissenschaften. In die öffentliche Diskussion ist insbesondere die Bedeutung des Bereitschaftspotentials beim Libet-Experiment gelangt, unter der Fragestellung, ob unser Gehirn unseren freien Willen determiniert. In der Psycholinguistik untersucht man EKPs, die von Schwierigkeiten beim Verständnis von Sätzen begleitet werden: So tritt die N400 (eine Spannungsschwankung negativer Polarität 0,4 Sekunden nach einem kritischen Wort) bei semantischen Verarbeitungsproblemen auf, z. B. wenn man das Wort „Beton“ in dem Satz „Hanna trinkt ein Glas Beton“ hört oder liest. Die P600 ist eine Positivierung im EEG, die 0,6 Sekunden nach einem kritischen Wort auftritt und von syntaktischen Verarbeitungsschwierigkeiten zeugt, wie sie z. B. der Satz „Hans glaubt, dass der Entdecker von Amerika erzählte“ hervorruft, wenn wir „der Entdecker von Amerika“ mit „Kolumbus“ gleichsetzen und dessen Erzählung erwarten.

In der Klinischen Psychologie, der Psychiatrie und Neurologie wird Forschung mit EKPs zum Verständnis der krankheitsbedingten Fehlfunktionen angewendet. Beispielsweise wurde bei schizophren erkrankten Menschen eine Abweichung der N400 festgestellt, welche die Hypothese der erleichterten Bahnung im semantischen Netzwerk bei schizophren Erkrankten stützt.[4]

EKP-Komponenten

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EKPs bestehen aus mehreren Komponenten, beschreibbar durch ihre Polarität (negative oder positive Spannung), den Ort ihrer maximalen Amplitude auf der Kopfhaut und den Zeitpunkt dieser Gipfelamplitude relativ zum Ereignis (entweder in Millisekunden oder in zeitlicher Rangposition). Beispielsweise bezeichnet okzipitale N130 einen negativen Gipfel mit Maximum am Hinterkopf bei 130 ms nach Reizbeginn. Dies ist die zu erwartende erste negative Komponente auf einen visuellen Reiz (der visuelle Cortex liegt am Hinterkopf) und wird daher (als „erste negative“ Komponente) auch N1 oder visuelle N1 genannt.

Zur Erklärung der Entstehung von EEG-Komponenten gibt es verschiedene konkurrierende Ansätze. Beim Phase-Reset-Model wird davon ausgegangen, dass ein EKP dann messbar ist, wenn sich die fortlaufenden neuronalen Oszillationen durch eine externe Stimulation desynchronisieren. Demnach wird zum Zeitpunkt der Stimulation die Phase der Schwingung zurückgesetzt. Die Reorganisation der vorliegenden Schwingungsmuster wird als EKP sichtbar gemacht.[5] Diesem Konzept entgegen steht das Additive-Power-Model. Hierbei wird von neuralen Aktivitätsmustern ausgegangen, welche unabhängig vom fortlaufenden EEG, durch eine externe Stimulation hervorgerufen werden. Das entstehende Signal überlagert das Hintergrund-EEG und wird als Komponente im EKP sichtbar.[6] Es scheint wahrscheinlich, dass es sich bei der Generation von EKPs um eine Kombination beider Entstehungsmechanismen handelt. Frühe EKPs (< 300 ms) sind eher einem Phasen-Reset zuzuschreiben und bei späten Komponenten spiegeln vom Hintergrund-EEG unabhängige Prozesse wider.[7]

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Zeitfenster-Werte in Millisekunden jeweils auf den Zeitpunkt der Präsentation des Stimulus.

Name Zeitfenster (ms) Maximum auf Kopfhaut Beschreibung
Positive Polarität
P50 40–75 zentral Tritt bei der Wahrnehmung akustischer Stimuli auf. Repräsentiert sensorisches Gating.[8]
Vertex Positive Potential (VPP) 130–200 zentral Tritt spezifisch bei der Betrachtung von Gesichtern auf. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist dies der positive Pol der wohl im Gyrus fusiformis und anderen temporalen Gyri generierten N170.[9]
P200 / P2 150–250 zentro-frontal und parieto-okkzipital Tritt bei der Verarbeitung visueller Stimuli auf (moduliert durch Aufmerksamkeit)
P3a 250–400 fronto-zentral Mitte Wird von unerwarteten, neuen, aufmerksamkeitsbindenden Reizen ausgelöst und könnte mit der Orientierungsreaktion zusammenhängen.
P300 / P3b / P3 300–600 zentro-parietal Mitte Tritt bei aufgabenrelevanten Reizen auf – je größer, desto seltener treten die Reize auf.
P600 400–800 zentro-parietal Mitte Sprachbezogene Komponente beim Lesen oder Hören von Wörtern, die grammatikalisch fehlerhaft oder sonst wie schwer verständlich sind.
Error Positivity / Pe 200–500 ms nach Bewegung zentro-parietal Mitte Tritt nach bewusst bemerkten Fehlhandlungen auf.
Negative Polarität
N100 / N130 / N1 80–150 auditiv: zentral und temporal; visuell: okzipital; somatosensorisch: zentral Die N1 tritt bei zeitlich klar abgegrenzten Reizen auf. Ihre Auftretenszeit und Kopfhautverteilung ist spezifisch für die Sinnesmodalität. Sie wird z. B. durch die Stärke und das Interstimulus-Intervall eines Reizes moduliert.
N170 130–200 temporo-okzipital rechts Tritt bei der Verarbeitung von Gesichtern auf.
Early Left Anterior Negativity (ELAN) < 200 frontal links Tritt bei der Verarbeitung eines Bruches in der Satzstruktur oder Wortkategorie auf.[10]
N200 / N2 / MMN 100–350 i. a. fronto-zentral Mitte Ausdruck der Wahrnehmung eines abweichenden Reizes und u. U. von Verhaltenshemmung. Eine spezielle Subkomponente ist die Mismatch Negativity.
N2pc 200–300 temporo-okzipital kontralateral zum Reiz Zeigt Zeitpunkt und Ausmaß der Selektion eines von mehreren visuellen Reizen an (pc = posterior contralateral).
N250 250–500 inferio-temporal Verarbeitung der Identität eines Gesichtes.[11]
N400 250–500 fronto-zentral Mitte oder zentro-parietal Mitte Wird durch bedeutungsvolle Reize (wie z. B. Wörter, Symbole etc.) ausgelöst. Stellt ein Maß der semantischen Integration in zuvor wahrgenommene kontextuelle Informationen.[12]
Heartbeat Evoked Potential (HEP) 250–400 fronto-zentral Mitte Tritt nach der R-Zacke im Elektrokardiogramm unabhängig vom Herzschlagartefakt auf. Repräsentiert Interozeption des eigenen Herzschlages.[13]
Reorienting Negativity (RON) 400–600 fronto-zentral Mitte Spiegelt die Rückwendung der Aufmerksamkeit zur Aufgabe nach Ablenkung in einem Oddball-Experiment wider.[14]
Contingent Negative Variation (CNV) langsam ansteigend zentral Mitte, mit Betonung kontralateral zur Hand Tritt in Erwartung eines Zielreizes nach einem Hinweisreiz auf.
Stimulus-Preceding Negativity (SPN) langsam ansteigend fronto-zentral Mitte, rechtshemisphärisch betont Tritt in Erwartung eines informationshaltigen Stimulus auf.
Bereitschaftspotential langsam ansteigend, > 1 s vor Bewegung zentral Mitte, mit Betonung kontralateral zur Hand Tritt in Vorbereitung einer willkürlichen Aktion auf.
Lateralized Readiness Potential (LRP) ab 200 ms vor Bewegung zentral kontralateral zur Hand Zeigt in Aufgaben, bei denen auf einen Reiz rechts, auf den anderen links reagiert werden soll, den Zeitpunkt der Entscheidung für die rechte oder linke Hand an. Die LRP hat mit dem Bereitschaftspotential die motorische Asymmetrie gemeinsam, nicht jedoch dessen vorherrschende langsame Komponente.
Error Negativity / ERN / Ne 0–100 ms nach Bewegung fronto-zentral Mitte Tritt bei Fehlhandlungen auf und spiegelt den Konflikt zwischen Handlung und Handlungsplan wider.
Contralateral Delay Activity (CDA) während des Aufrechterhaltens eines Gedächtnisinhaltes im visuellen Arbeitsgedächtnis parieto-okkzipital (PO7/PO8) Eine negative Verschiebung des EEG während ein Inhalt im visuellen Arbeitsgedächtnis aktiv gehalten wird. Abhängig von der Präsentationsseite des Stimulus wird das CDA als Unterschied der Signale von contralateraler minus ipsilateraler Seite dargestellt.[15]

Die sog. Mismatch Negativity (MMN) tritt ca. 100–350 ms nach einem akustischen Reiz auf, der von der Regel der vorigen Reizreihe abweicht. Ein solcher Reiz ist im einfachsten Fall ein Ton, der in Frequenz, Dauer, Ort oder Intensität von vorher gleichartigen Stimuli abweicht, kann aber auch z. B. eine Tonwiederholung nach mehrfachen Alternierungen sein oder ein falscher Ton in einer gut bekannten Melodie. Ableitung der MMN setzt keine aktive Mitarbeit der Probanden voraus; sie ist also Ausdruck einer automatischen Reaktion. Erstmals beschrieben wurden sie von Näätänen und Kollegen 1978.[16] Eine MMN auf visuelle Reize ist ebenfalls nachgewiesen.[17]

Für die auditorische Modalität tritt die MMN am prominentesten an fronto-zentralen Elektroden auf und weist eine leichte rechtshemisphärische Dominanz auf. Dipolanalysen und konvergierende Forschungsergebnisse mittels bildgebender Verfahren zeigen einen supratemporalen Generator und legen eine zweite, präfrontale Quelle nahe.[18]

Näätänen nahm zunächst an, dass die MMN Ausdruck eines prä-attentiven Prozesses sei, der fortwährend die invariante akustische Umwelt erfasse und bei abweichenden Stimuli Ressourcen zur Verfügung stelle, damit dem betreffenden Stimulus Aufmerksamkeit zugewendet werden könnte. Eine alternative und ergänzende Hypothese besagt, dass die MMN Ausdruck der Aktualisierung der Regel sei, die sich im Hörsystem aufgrund der bisherigen Regelmäßigkeit herausgebildet hat. Aus dieser Hypothese ergaben sich Querverbindungen zu Fristons Annahme des „predictive coding“, wonach das Gehirn ein vorhersagendes Organ sei und EKPs den Abgleich dieser Vorhersagen mit der äußeren Stimulation widerspiegeln.[19]

Vorhandensein einer MMN bei Patienten im Koma ist ein günstiges Zeichen – selbstverständlich nur im Rahmen von Wahrscheinlichkeiten – dafür, dass diese Patienten wieder aus dem Koma erwachen werden.[20] Bei gesunden Personen lässt sich mit der MMN auch der aktuelle Stand der Sprachkompetenz messen; z. B. haben japanische Personen reduzierte MMN auf die Unterscheidung zwischen dem englischen L und R[21], und englischsprachige US-Amerikaner haben reduzierte MMN auf die in Mandarin wichtigen Unterschiede der Tonhöhenänderung[22].

Sobald dargebotene Reize mit einer Aufgabe verknüpft und dadurch relevant werden, lösen sie eine P300 aus; zum Beispiel, in den beiden Erstbeschreibungen der P300 1965: wenn vor dem Reiz geraten werden musste, welcher von zwei Reizen kommen würde (Sutton et al.[23]), oder wenn auf einen von zwei Reizen, die in Zufallsfolge kommen, reagiert werden sollte (Desmedt et al.[24]). Die P300 wird mit abnehmender Häufigkeit des seltenen Reizes größer (sog. Oddball-Effekt).[25]

Die P300 besteht im Allgemeinen aus zwei verschiedenen Komponenten, die sich überlagern können: aus der P3a und der P3b[26]. Die P3a, mit größter Amplitude fronto-zentral an der Scheitellinie, kann von seltenen Reizen ausgelöst werden, die eigentlich ignoriert werden sollen; vermutlich ist dies Ausdruck einer Orientierungsreaktion. Ähnliche P3a-artige Potentiale werden von neuartigen, in der Aufgabe undefinierten Reizen ausgelöst (novelty P3) und von seltenen Reizen, auf die man ausdrücklich nicht reagieren soll (no-go P3). Die „eigentliche“ P300 ist die P3b, mit größter Amplitude zentro-parietal an der Scheitellinie; sie ist für die Aufgabenrelevanz der Reize empfindlich. Der Name P300 ist etwas ungenau, da der Gipfel der P300 bei visuellen Reizen in der Regel später als bei 300 ms liegt – bei einfachen Aufgaben bei jungen Erwachsenen bei ca. 350 ms, sonst noch später. Deshalb wird in der Literatur dafür plädiert, anstelle der Bezeichnung P300 schlichtweg P3 als den dritten positiven Ausschlag nach Stimuluspräsentation zu nutzen.[27]

Die an der Kopfhaut gemessene P3b wird im Wesentlichen durch Aktivitäten im parietalen und temporalen Kortex produziert, mit einer Schlüsselrolle für das Gebiet des temporo-parietalen Übergangs. Interessanterweise findet sich auch P3b-artige Aktivität im für das Gedächtnis wichtigen Hippocampus (in EEG-Ableitungen direkt aus dem Gehirn bei Patienten mit schwerer Epilepsie, zur Entscheidung über eine Operation), allerdings eher später als die an der Kopfhaut messbare P3b, daher offenbar nicht diese generierend.[28]

Es bestehen verschiedene Meinungen darüber, welchen psychischen Prozess die P3b widerspiegelt (neuere Übersicht:[29]). Diese verschiedenen Hypothesen lassen sich nach Donchin[30] in strategische und taktische Hypothesen unterteilen. Taktisch meint hierbei, dass der P3b-Prozess dafür da ist, um die Reaktion auf den gegenwärtigen Reiz zu organisieren; strategische Hypothesen nehmen dagegen an, dass der P3b-Prozess für eine reaktionsunabhängige Funktion steht. In diesem strategischen Sinne hält Donchins einflussreiche Context Updating- (Kontextaktualisierungs-)Hypothese die P3b für den Ausdruck einer Neubewertung der Situation aufgrund neuer Evidenz. Andere strategische Hypothesen sind Closure (Abschluss), wonach die P3b den Abschluss einer kognitiven Epoche ausdrückt, und Dehaenes global workspace – Hypothese, wonach die P3b Ausdruck der Bewusstwerdung des Ereignisses durch Zusammenschalten kortikaler Areale ist. Taktische Hypothesen der P3b haben in den letzten Jahren etwas an Einfluss gewonnen, da gezeigt werden konnte, dass die P3b mindestens ebenso eng zeitlich an die Reaktion gekoppelt ist wie an den auslösenden Reiz, der zugrundeliegende Prozess also eine Art Mittlerfunktion ausüben und daher Entscheidungsprozesse widerspiegeln könnte (u. a.[31]).

Anwendungen der P300 ergeben sich aus ihrer Eigenschaft als relativ große, daher relativ leicht messbare EKP-Komponente, die den Grad von Relevanz eines Ereignisses für die jeweilige Person widerspiegelt. Zeigt man einer Person eine Reihe von Wörtern, von denen manche mit einer Missetat zusammenhängen, die der Person genauer bekannt ist, so sollte sich dieses Täterwissen in der Größe der speziell durch diese Wörter ausgelösten P300 niederschlagen. Aufgrund dieser Logik wurden in den USA P300-Lügendetektoren entwickelt[32][33]. Der gleichen Logik bedienen sich Brain-Computer-Interfaces für bewegungsunfähige Patienten, die sich anders nicht mehr der Außenwelt mitteilen können; hier suchen die Patienten mittels der P300 aus einer Serie von Buchstaben denjenigen heraus, den sie als Nächstes in eine Tastatur eintippen würden, wenn sie sich bewegen könnten, und können so im Erfolgsfall SMS-artige Botschaften an ihre Bezugspersonen schreiben[34].

  • Jan Seifert: Ereigniskorrelierte EEG-Aktivität. Pabst, Lengerich 2005, ISBN 3-89967-236-4.
  • Steven J. Luck: An Introduction to the Event-Related Potential Technique. The MIT Press, Cambridge, Mass. 2005, ISBN 0-262-62196-7.
  • Todd C. Handy: Event-Related Potentials: A Methods Handbook. The MIT Press (B&T), Cambridge, Mass. 2004, ISBN 0-262-08333-7.
  • Escera, C. (2007): The mismatch negativity 30 years later: How far have we come? [Editorial]. Journal of Psychophysiology, 21(3-4), S. 129–132. doi:10.1027/0269-8803.21.34.129.
  • Grent-'T-Jong, T. und Uhlhaas, P. J. (2020): The many facets of mismatch negativity. Biological Psychiatry, 87(8), S. 695–696. doi:10.1016/j.biopsych.2020.01.022.
  • Winkler, I. (2007): Interpreting the mismatch negativity. Journal of Psychophysiology, 21(3-4), S. 147–163. doi:10.1027/0269-8803.21.34.147.

Einzelnachweise

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  1. Steven J. Luck: An Introduction to the Event-Related Potential Technique. 2. Auflage. The MIT Press, 2014, ISBN 978-0-262-52585-5.
  2. Steven J. Luck, Emily S. Kappenman: The Oxford Handbook of Event-Related Potential Components. Oxford University Press, 2012, ISBN 978-0-19-537414-8.
  3. Robert F. Schmidt: Biologische Psychologie. 6., vollständig überarbeitete und erg. Auflage. Springer, Berlin 2006, ISBN 3-540-30350-2.
  4. M. Spitzer, M. Weisbrod, S. Winkler, S. Maier: Ereigniskorrelierte Potentiale bei semantischen Sprachverarbeitungsprozessen schizophrener Patienten. In: Der Nervenarzt. Band 68, Nr. 3, März 1997, S. 212–225, doi:10.1007/s001150050116.
  5. S. Hanslmayr, W. Klimesch, P. Sauseng, W. Gruber, M. Doppelmayr: Alpha Phase Reset Contributes to the Generation of ERPs. In: Cerebral Cortex. Band 17, Nr. 1, 1. Februar 2006, ISSN 1047-3211, S. 1–8, doi:10.1093/cercor/bhj129.
  6. Marcel Bastiaansen, Ali Mazaheri, Ole Jensen: Beyond ERPs:. Oxford University Press, 15. Dezember 2011, doi:10.1093/oxfordhb/9780195374148.013.0024.
  7. Byoung-Kyong Min, Niko A. Busch, Stefan Debener, Cornelia Kranczioch, Simon Hanslmayr: The best of both worlds: Phase-reset of human EEG alpha activity and additive power contribute to ERP generation. In: International Journal of Psychophysiology. Band 65, Nr. 1, Juli 2007, S. 58–68, doi:10.1016/j.ijpsycho.2007.03.002 (elsevier.com [abgerufen am 22. Februar 2019]).
  8. Ann Olincy, Laura Martin: Diminished suppression of the P50 auditory evoked potential in bipolar disorder subjects with a history of psychosis. In: The American Journal of Psychiatry. Band 162, Nr. 1, 2005, ISSN 0002-953X, S. 43–49, doi:10.1176/appi.ajp.162.1.43, PMID 15625200.
  9. Bruno Rossion, Carrie Joyce: The face-sensitive N170 and VPP components manifest the same brain processes: The effect of reference electrode site. In: Clinical Neurophysiology. Band 116, Nr. 11, 1. November 2005, ISSN 1872-8952, S. 2613–2631, doi:10.1016/j.clinph.2005.07.005, PMID 16214404 (clinph-journal.com [abgerufen am 29. September 2019]).
  10. Angela D. Friederici: Towards a neural basis of auditory sentence processing. In: Trends in Cognitive Sciences. Band 6, Nr. 2, Februar 2002, ISSN 1364-6613, S. 78–84, doi:10.1016/s1364-6613(00)01839-8 (elsevier.com [abgerufen am 30. November 2018]).
  11. James W. Tanaka, Tim Curran, Albert L. Porterfield, Daniel Collins: Activation of Preexisting and Acquired Face Representations: The N250 Event-related Potential as an Index of Face Familiarity. In: Journal of Cognitive Neuroscience. Band 18, Nr. 9, 1. September 2006, ISSN 0898-929X, S. 1488–1497, doi:10.1162/jocn.2006.18.9.1488 (mitpressjournals.org [abgerufen am 7. Dezember 2018]).
  12. Ellen F. Lau, Colin Phillips, David Poeppel: A cortical network for semantics: (de)constructing the N400. In: Nature Reviews Neuroscience. Band 9, Nr. 12, Dezember 2008, ISSN 1471-003X, S. 920–933, doi:10.1038/nrn2532 (nature.com [abgerufen am 27. Mai 2020]).
  13. R. Schandry, B. Sparrer, R. Weitkunat: From the heart to the brain: A study of heartbeat contingent scalp potentials. In: International Journal of Neuroscience. Band 30, Nr. 4, Januar 1986, ISSN 0020-7454, S. 261–275, doi:10.3109/00207458608985677.
  14. Erich Schröger, Christian Wolff: Attentional orienting and reorienting is indicated by human event-related brain potentials. In: NeuroReport. Band 9, Nr. 15, Oktober 1998, ISSN 0959-4965, S. 3355–3358, doi:10.1097/00001756-199810260-00003 (ovid.com [abgerufen am 8. November 2018]).
  15. Roy Luria, Halely Balaban, Edward Awh, Edward K. Vogel: The contralateral delay activity as a neural measure of visual working memory. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews. Band 62, März 2016, S. 100–108, doi:10.1016/j.neubiorev.2016.01.003, PMID 26802451, PMC 4869985 (freier Volltext) – (elsevier.com [abgerufen am 17. Oktober 2019]).
  16. R. Näätänen, A. W. K. Gaillard, S. Mäntysalo: Early selective-attention effect on evoked potential reinterpreted. In: Acta Psychologica. Band 42, 1978, S. 313–329, doi:10.1016/0001-6918(78)90006-9 (elsevier.com [abgerufen am 16. Oktober 2017]).
  17. I. Czigler, L. Pató: Unnoticed regularity violation elicits change-related brain activity. In: Biological Psychology. Band 80, 2009, S. 313–329, doi:10.1016/j.biopsycho.2008.12.001.
  18. L. Y. Deouell: The frontal generator of the Mismatch Negativity revisited. In: Journal of Psychophysiology. Band 21, 2007, S. 188–203, doi:10.1027/0269-8803.21.34.188.
  19. I. Winkler: Interpreting the Mismatch Negativity. In: Journal of Psychophysiology. Band 21, 2007, S. 147–163, doi:10.1027/0269-8803.21.34.147.
  20. C. Fischer, D. Morlet, P. Bouchet, J. Luaute, C. Jourdan, F. Salord: Mismatch negativity and late auditory evoked potentials in comatose patients. In: Clinical Neurophysiology. Band 110, 1999, S. 1601–1610, doi:10.1016/S1388-2457(99)00131-5.
  21. M. D. Bomba, D. Choly, E. W. Pang: Phoneme discrimination and mismatch negativity in English and Japanese speakers. In: NeuroReport. Band 22, 2011, S. 479–483, doi:10.1097/WNR.0b013e328347dada.
  22. Y. H. Hu, V. L. Shafer, E. S. Sussman: Neurophysiological and behavioral responses of Mandarin lexical tone processing. In: Frontiers in Neuroscience. Band 11, Nr. 95, 2017, doi:10.3389/fnins.2017.00095.
  23. S. Sutton, M. Braren, J. Zubin, E. R. John: Evoked-potential correlates of stimulus uncertainty. In: Science. Band 150, 1965, S. 1187–1188, doi:10.1126/science.150.3700.1187.
  24. J. E. Desmedt, J. Debecker, J. Manil: Mise en évidence d'un signe électrique cérébral associé à la détection par le sujet d'un stimulus sensoriel tactile. In: Bulletin de l'Académie Royale de Médecine de Belgique. Band 5, 1965, S. 887–936.
  25. C. C. Duncan-Johnson, E. Donchin: On quantifying surprise: The variation of event-related potentials with subjective probability. In: Psychophysiology. Band 14, 1977, S. 456–467, doi:10.1111/j.1469-8986.1981.tb03020.x.
  26. N. K. Squires, K. C. Squires, S. A. Hillyard: Two varieties of long-latency positive waves evoked by unpredictable auditory stimuli in man. In: Electroencephalography and Clinical Neurophysiology. Band 38, 1975, S. 387–401, doi:10.1016/0013-4694(75)90263-1.
  27. Luck, Steven J. (Steven John), 1963-: An introduction to the event-related potential technique. MIT Press, Cambridge, Mass. 2005, ISBN 0-262-12277-4.
  28. J. Polich: Updating P300: an integrative theory of P3a and P3b. In: Clinical Neurophysiology. Band 118, 2007, S. 2128–2148, doi:10.1016/j.clinph.2007.04.019.
  29. R. Verleger, K. Śmigasiewicz: Do rare stimuli evoke large P3s by being unexpected? A comparison of the oddball effects between standard-oddball and prediction-oddball tasks. In: Advances in Cognitive Psychology. Band 12, 2016, S. 88–104, doi:10.5709/acp-0189-9.
  30. E. Donchin: Surprise! ... Surprise? In: Psychophysiology. Band 18, 1981, S. 493–513, doi:10.1111/j.1469-8986.1981.tb01815.x.
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