Evangelikale Exegese
Die evangelikale Exegese der Bibel ist eine in sich nicht geschlossene Methode der Bibelauslegung. Die meisten Theologen und Laienprediger, die diese evangelikale Form der Auslegung anwenden, gründen sich auf der Heiligen Schrift als Offenbarung Gottes.
Hermeneutische Grundlagen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Klärung des Bibelverständnisses steht vor jeder exegetischen Arbeit. Ein wichtiges Dokument zu den Grundlagen und Methoden bildet die Chicago-Erklärung. Dieses bekenntnishafte Dokument wird allerdings nur von einem Teil evangelikaler Theologen übernommen. Einige Stichpunkte und ein grober Überblick zu den hermeneutischen Grundlagen soll hier gegeben werden.
- Die Bibel ist zuerst Wort Gottes und erst in zweiter Linie Menschenwort. Das sehen Evangelikale jedoch im Allgemeinen nicht als ein wörtliches Diktat des Heiligen Geistes. In ihren Augen haben menschliche Schreiber mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Stil, vom Heiligen Geist inspiriert, die biblischen Texte geschrieben.[1]
- Die Bibel ist zuverlässig in allen Aussagen, die den Glauben und die Erlösung des Menschen betreffen. In diesem Punkt stimmen alle Evangelikalen überein. Von den meisten werden die biblischen Berichte auch im Wesentlichen als historische Berichte gesehen. Auch von der Chicago-Erklärung wird abgelehnt, die Bibel anhand von Maßstäben für Wahrheit und Irrtum zu messen, die ihrem Gebrauch und ihrem Zweck fremd sind. Faktoren wie das Fehlen moderner technischer Präzision, Beschreibung der Natur nach der Beobachtung, der Gebrauch von Übertreibungen oder gerundeten Zahlen oder die Verwendung freier Zitate stellen nach der Chicagoer Erklärung die Irrtumslosigkeit der Bibel nicht in Frage.[1]
- Nichtkanonische Texte können von historischem Interesse sein, aber es wird strikt abgelehnt, sie auf die gleiche Stufe wie die kanonischen Texte zu stellen. Der Kanon wird als Teil der biblischen Inspiration und göttlichen Vorhersehung gesehen: die Kirche hat den Kanon nicht bestimmt, sondern sie hat ihn entdeckt.[2][3]
- Altes Testament und Neues Testament werden jeweils und zusammen als ein Ganzes gesehen, die biblischen Bücher ergänzen sich gegenseitig zu einer Gesamtaussage. Biblische Texte werden in den Zusammenhang des Bibelabschnitts, des biblischen Buches und der gesamten Bibel gestellt und nicht für sich allein ausgelegt. Neben dem Neuen Testament gelten nur die hebräischen Schriften, ohne die deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments, als Kanon und als verbindlicher biblischer Text.
- Die evangelikale Exegese arbeitet zwar in gewisser Weise auch historisch-kritisch, lehnt aber Vorgehensweisen ab, die insbesondere durch die klassische historisch-kritische Exegese geprägt wurden, die dazu führen, dass der Text relativiert, für ungeschichtlich gehalten oder verworfen wird.[1] Andererseits gibt es durchaus evangelikale Theologen, wie Craig Blomberg, die Methoden der historisch-kritischen Exegese moderat anwenden und beispielsweise die Zweiquellentheorie bejahen.
- Die Bibeltexte werden nicht wörtlich, sondern historisch-grammatikalisch ausgelegt. Als primäre Bedeutung des Textes wird die ursprünglich vom Autor intendierte angenommen, die er seinen Hörern mitteilen wollte. Das schließt eine gründliche Erarbeitung der im Urtext verwendeten Wörter und Grammatik ebenso ein, wie eine Berücksichtigung der literarischen Form und des kulturellen Kontexts. Diese primäre Bedeutung ist die Grundlage für die Auslegung für den zeitgenössischen Hörer – eine Auslegung, die der primären Bedeutung des Texts widerspricht, wird abgelehnt.[4]
- Die Bibel ist Gottes Wort und damit die letztinstanzliche Autorität für Fragen der christlichen Lehre und Ethik. Kirchliche Bekenntnisse und Dogmen werden als Zusammenfassungen von wesentlichen biblischen Aussagen gesehen, haben aber keine Autorität, um die Bibel zu interpretieren.
- Im Umgang mit angeblichen Irrtümern und Widersprüchen in der Bibel gehen Evangelikale im Allgemeinen davon aus, dass es sich um Fehler der Textüberlieferung oder der menschlichen Interpretation handelt. Unerklärbares wird auf die Grenzen menschlichen Wissens zurückgeführt und nicht auf Fehler im Text. Es besteht kein Anspruch, sämtliche so genannte Irrtümer oder Widersprüche der Bibel zufriedenstellend erklären zu können.[5] Evangelikale gehen in Bezug auf die Irrtumslosigkeit von der grammatikalisch-historischen Aussage des Textes aus.
- Der Urtext wird als maßgeblicher Bibeltext gesehen. Von daher sind Methoden und Erkenntnisse der Textkritik allgemein akzeptiert und sogar geschätzt.[6]
„Einer der Hauptfehler bei der Interpretation ist der Provinzialismus, der Glaube, dass das System, in dem man selbst ausgebildet wurde, das einzige System ist. Ein weiterer Fehler besteht in der Annahme, dass traditionelle oder vertraute Interpretationen die einzig angebrachten sind.“
Grundzüge des exegetischen Vorgehens
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das exegetische Vorgehen ist für das Alte und das Neue Testament grundsätzlich ähnlich, kleinere Unterschiede ergeben sich aus der Unterschiedlichkeit der Texte und der Sprache. Die folgende Übersicht der Vorgehensweise orientiert sich an den Methodenbüchern Das Studium des Alten Testaments und Das Studium des Neuen Testaments.
Vorgehensweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- 1. Der Text
- Dazu gehört die Übersetzung aus dem Urtext, sowie die Betrachtung textkritischer Schwierigkeiten und Varianten.
- 2. Literarische Analyse
- Eine detaillierte Analyse und Untersuchung zur Grammatik, Syntax, Form, Gattung, den Vokabeln und den stilistischen Merkmalen.
- 3. Historische Fragen
- Versuch einer Einordnung in die damalige Umwelt, sowie Untersuchung der Begriffe unter Berücksichtigung archäologischer Wissenschaften.
- 4. Theologische Auslegung
- Erfassung der theologische Aussagen des Textes und Einordnung in den gesamtbiblischen Kontext (Bezug AT-NT oder NT-AT), die Traditionsgeschichte und die systematische Theologie.
- 5. Hermeneutische Relevanz
- Die Verbindung zur praktischen Theologie: Was hat der Text heute zu sagen und wie kann er homiletisch angewandt werden?
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Manfred Dreytza, Walter Hilbrands und Hartmut Schmid: Das Studium des Alten Testaments. Eine Einführung in die Methoden der Exegese. 2., überarbeitete Auflage, R. Brockhaus, Wuppertal 2007, ISBN 3-417-29471-1.
- Heinz-Werner Neudorfer, Eckhard Schnabel (Hrsg.): Das Studium des Neuen Testaments. Einführung in die Methoden der Exegese. 3. Auflage, R. Brockhaus, Wuppertal 2006, ISBN 978-3-417-29430-9.
- Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. 5. Auflage, R. Brockhaus, Haan 2003, ISBN 3-417-29355-3.
- Walter C. Kaiser: Toward an Exegetical Theology. Baker, Grand Rapids 1981, ISBN 0-8010-2197-9.
- Helge Stadelmann: Evangelikales Schriftverständnis. Jota Publikationen, Hammerbrücke 2002, ISBN 3-935707-27-4.
- Wolfgang J. Bittner: Wort Gottes als menschliches Zeugnis von Gott. Ein evangelikaler Zugang zur Bibel. In: Ulrich Luz (Hrsg.): Zankapfel Bibel: eine Bibel – viele Zugänge. TVZ, Zürich 2002, ISBN 3-290-10874-0.
- Kevin J. Vanhoozer (Hrsg.): Dictionary for Theological Interpretation of the Bible. Grand Rapids 2005, ISBN 0-8010-2694-6.
- William Sanford LaSor, David Allan Hubbard, Frederic William Bush: Das Alte Testament. Entstehung – Geschichte – Botschaft. 3. Auflage, Brunnen, Gießen 1992, ISBN 3-7655-9344-3 (evangelikales Standardwerk über das Alte Testament).
- Erich Mauerhofer: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments. Hänssler, Holzgerlingen 1999, ISBN 3-7751-2340-7.
- Thomas Schirrmacher (Hrsg.): Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung. Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 1993, ISBN 3-926105-07-0 (die Erklärungen von 1978/1982/1986 in deutscher Übersetzung; darin werden Inspiration und Irrtumslosigkeit des hebr./griech. Urtextes affirmiert; im Anhang: Auszüge aus dem Bekenntnis von Westminster, was die Kontinuität dieser Schriftlehre zur traditionellen Auffassung zeigen soll).
- Stephan Holthaus, Karl-Heinz Vanheiden (Hrsg.): Die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel. Bibelbund-Verlag, Hammerbrücke 2002, ISBN 3-935707-07-X.
- Keith Ward: What the Bible Really Teaches. A Challenge for Fundamentalists. SPCK, London 2004, ISBN 0-281-05680-3.
- James Barr: Fundamentalismus. Kaiser, München 1981, ISBN 3-459-01336-2.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Quellen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel
- ↑ Norman Geisler: Bible, Canonicity of. In Baker, Encyclopedia of Christian Apologetics:
- ↑ Christopher Seitz: Canon in Dictionary for Theological Interpretation of the Bible
- ↑ Klyne Snodgrass: Exegesis in Dictionary for Theological Interpretation of the Bible
- ↑ Baker, Encyclopedia of Christian Apologetics: Bible, Alleged Errors in
- ↑ Peter M. Rodgers: Textual Criticism: Dictionary for Theological Interpretation of the Bible
- ↑ Bernhard Ramm: Biblische Hermeneutik. International Correspondence Institute – Deutsches Büro, Asslar 1991, ISBN 3-923924-29-1, S. 37 (Originaltitel: Protestant Biblical Interpretation).