Eisenarchitektur
Eisenarchitektur, auch Gusseisen-Architektur bzw. mit dem engl. Begriff Cast-Iron-Architektur, ist ein Architekturstil, bei dem das Baumaterial Gusseisen eine strukturelle Rolle spielt. Der Stil entwickelte sich in der Zeit der Industriellen Revolution, als Gusseisen bezahlbar massengefertigt wurde, während moderne Stahlerzeugungsverfahren noch nicht entwickelt waren.
Konstruktiver Gebrauch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gusseisen war schon seit Jahrhunderten in Gebrauch, bisweilen auch in der Architektur der Prä-Moderne. In besonderem Maße bedienten sich die Erbauer einiger Tempel in China der Vorteile seiner Druckfestigkeit und vielseitigen Formbarkeit. In Großbritannien wurde im 18. Jahrhundert nach dem Beginn der industriellen Revolution – bedingt durch neue Verkokungsmethoden und dadurch neue Herstellungsverfahren – Gusseisen so preisgünstig und in so großen Mengen produziert, dass man es im Bauwesen einsetzte, um größere Gebäude zu errichten. Eines der ersten Projekte, heute Weltkulturerbe[1], war The Iron Bridge in Shropshire, ein Beispielsfall für eine Tragstruktur, die fast vollständig aus Gusseisen bestand. Die Brücke, die den Transport des Gusseisens aus der Eisenhütte gewährleisten sollte, war allerdings weit überdimensioniert (die eisernen Teile wogen insgesamt 380 Tonnen[2]), und die Bauherren (vor allem Abraham Darby III) erlitten finanzielle Einbußen. Die Qualität des verwendeten Eisens ist nicht hoch, und in der heutigen Konstruktion sind mehr als 80 Risse deutlich zu sehen. Später verbesserten Ingenieure wie Thomas Telford sowohl Konstruktionsmethoden (die Iron Bridge war nach zimmermannsmäßigen Prinzipien zusammengefügt) als auch die Materialqualität ihrer Brücken (beispielsweise Buildwas, wenige Kilometer flussaufwärts) und Aquädukte (etwa das Pontcysyllte-Aquädukt in North Wales).
Gusseisen hat einige konstruktive Vorteile und Schwächen. Es ist sehr druckbeständig, nimmt dagegen schlecht Zug- und Biegespannungen auf, und bei der Hitze eines Feuers kann seine Stabilität plötzlich versagen. Zu Beginn der industriellen Revolution wurde es üblich, Gusseisen im Fabrikbau einzusetzen, teilweise in der irrigen Annahme, solche Konstruktionen seien feuerfest. Damals gab es in Fabriken häufig Brände. William Strutt (1756–1830) war von Bauten einer der Pioniere dieser Bauweise. Allerdings stürzten viele Gebäude durch Sprödbrüche in großen Gusseisenstützen später zusammen. Die Stützen knickten oft an der Basis, wo die Spannungen am größten waren, oder an Stellen mit Materialfehlern und Lunkern im Innern von Gussstücken.
Gusseisen wurde auch bei Eisenbahnbrücken verwendet. Es gab einige Unfälle, vor allem, wenn statt Bögen gerade Balkenkonstruktionen eingesetzt wurden. Erstmals wurde Gusseisen 1830 nach einem Entwurf von William Fairbairn beim Water Street-Endbahnhof in Manchester verwendet. Diese Brücke wurde aus Gusseisen gebaut, damit die überbrückte Straße darunter genügend Lichtraumprofil hatte. Sie bewährte sich und wurde erst um 1900 wegen der weitverbreiteten Bedenken gegen eiserne Unterkonstruktionen im britischen Eisenbahnwesen abgerissen. Um größere Spannweiten zu erzielen, setzte Robert Stephenson (irrtümlich) geschmiedete Träger beim Aufbau einer Brücke über den River Dee ein. Solche Brücken, bei denen die Trägerteile zusammengeschmiedet waren, mussten nach dem Eisenbahnunfall auf der Dee-Brücke am 24. Mai 1847 abgerissen werden. Schmiedeeiserne Träger wurden nun mit Nieten zusammengefügt. Sobald Walzstahl in den späten 1860er Jahren erhältlich war, verwendete man diesen. Gusseisen wurde allerdings weiter bei Eisenbahnunterführungen eingesetzt, und es kam dort zu einigen Unfällen mit Toten. Als schlimmstes Eisenbahnunglück gilt der Eisenbahnunfall auf der Firth-of-Tay-Brücke: der zentrale Teile der Brücke brach während eines Sturms in dem Moment ein, als ein Zug darüberfuhr; alle etwa 75 Menschen an Bord starben. Die Schwachstellen waren gusseiserne Anschlussstücke, an denen Traversträger befestigt waren. Nach diesem Einsturz wurden Gusseisenkonstruktionen bei Brückenneubauten endgültig aufgegeben. Die meisten kleineren Gusseisenträger-Aufbauten wurden nach einem weiteren Unfall an Norwood Junction 1891 abgerissen und ersetzt.
Vereinzelt wurde Gusseisen außerdem für Turmkonstruktionen verwendet, so zum Beispiel beim König-Friedrich-August-Turm bei Löbau (Sachsen).
Auch bei Gewächshäusern baute man die Tragstruktur aus Gusseisen, zum Beispiel den monumentalen Crystal Palace für die erste Weltausstellung in London 1851. Diese Glas-und-Eisen-Architektur wurde später in vielen Ländern nachgeahmt.
Als weiteres herausragendes Beispiel der Eisenarchitektur gilt die Infrastruktur der 1901 eröffneten Wuppertaler Schwebebahn, die in ihrer diesbezüglichen Bedeutung allenfalls mit dem Eiffelturm verglichen werden kann.[3]
Gebrauch als Verkleidung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im 19. Jahrhundert führten der niedrige Preis und die allgemeine Verfügbarkeit von Gusseisen auch zu vielfältigem Gebrauch für Dekorations- und Verkleidungszwecke. John Haviland aus Philadelphia entwickelte das Konzept der Gusseisenfassade, das von James Bogardus in New York weitreichend und in großem Umfang adaptiert und weiterentwickelt wurde. Gusseisen konnte in eine Vielzahl von Formen gepresst werden, was kunstvoll ausgearbeitete Fassaden ermöglichte, die billiger als traditionell in Stein gehauene waren. Diese Fassaden konnten außerdem in einer Vielzahl von Farben beschichtet werden. Viele Gebäude hatten aufwändigen neoklassizistischen oder historistischen Fassadenschmuck. Viele der Gebäude, die vor allem Büro- und Industriebauten waren, sind immer noch zu besichtigen, besonders in den New Yorker Stadtvierteln SoHo und Tribeca. In Europa befinden sich die besten Beispiele viktorianischer Lagerhäuser in Glasgow, Schottland, das im späten 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung erlebte.
Die Technik bewährte sich allerdings nicht. Die Fassaden mussten oft bald braun angestrichen werden, weil das Eisen rostete, und bei Bränden brach die Konstruktion oft zusammen, noch bevor die Flammen das Metall erreichten. Allein die Strahlungswärme eines nahen Feuers reichte aus, das Eisen zu erweichen.[4]
Wegen der Entwicklung des modernen Stahls, das sich weit besser im Einsatz als Baustoff eignete, schwand auch die Bedeutung als Fassadenverkleidung in dieser Epoche. Viele Innovationen der Gusseisenzeit wurden aber in die Ära der Stahlskelettbauten übernommen und halfen bei der Entwicklung des Wolkenkratzers.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau (Hrsg.): Eisenarchitektur: Literaturdokumentation. Eine Fachbibliografie. Fraunhofer-IRB-Verlag, Stuttgart 2002 ff. (DNB 966021681)
- John Gloag und Derek Bridgwater: A History of Cast Iron in Architecture. Allen and Unwin, London 1948.
- Ruth-Maria Ullrich: Glas-Eisenarchitektur: Pflanzenhäuser des 19. Jahrhunderts = Grüne Reihe 12. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1989. ISBN 978-3-88462-037-3
- Friedrich Heinzerling: Die Brücken in Eisen: Baumaterial, Technische Entwicklung, Konstruktion und statische Berechnung der eisernen Brücken (1870)
- Josef Durm, Erwin Marx, Hermann Ende, Friedrich Heinzerling, Georg Barkhausen, Eduard Schmitt (3. Auflage 1901): Konstruktionselemente in Stein, Holz und Eisen (3. Abschnitt: Konstruktionselemente in Eisen: S. 141–282, online). Handbuch der Architektur Band 3.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Cast-iron architecture - The Columbia Encyclopedia, Sixth Edition.
- Glass, iron and prefabrication: AD 1837-1851 - History of Architecture
- No. 836: Iron Buildings
- Victorian cast-iron buildings in Glasgow, Scotland
- Bernhard Rösch, Gusseisenarchitektur, in: RDK Labor (2017)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ UNESCO World Heritage Centre: Ironbridge Gorge
- ↑ Ernst Werner: Die eisernen Brücken, in ICOMOS: Eisen-Architektur: Die Rolle des Eisens in der historischen Architektur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (PDF; 881 kB)
- ↑ Esther Ruelfs: Wie ein Engel, Artikel in die tageszeitung vom 8. März 1997, online auf taz.de, abgerufen am 13. Dezember 2024
- ↑ John Maass: The Gingerbread Age: A View of Victorian America, New York, Greenwich House, 1983, ISBN 0-517-01965-5, S. 97ff