Neufichteanismus
Neufichteanismus bezeichnet die Rezeption und Fortentwicklung der Fichteschen Philosophie innerhalb der allgemeinen Idealismusrezeption um 1900. Der Neufichteanismus durchbricht die Selbstbeschränkung der Philosophie auf wissenschaftstheoretische Fragestellungen, wie sie für den Neukantianismus kennzeichnend war, und versucht, mit Hilfe des Deutschen Idealismus die neu aufbrechenden philosophischen, religiösen und weltanschaulichen Fragen zu beantworten.
Ausgangspunkt für den Neufichteanismus war die Lehre des Neukantianers Heinrich Rickert, dass Wahrheit und Wirklichkeit „Werte“ seien, dem „Sollen“ also eine logische Priorität gegenüber dem „Sein“ zukomme. „Wirklichkeit“ konstituiere sich demnach erst in einem praktischen Akt des Subjekts für das Subjekt. Dieser Grundgedanke, der den weithin empfundenen Dualismus von reiner Vernunft und praktischer Vernunft bei Kant überwinden sollte, blieb für viele Neufichteaner leitend. Da es ihnen insofern auch um eine Neuinterpretation, ja „Vollendung“ Kants aus der Perspektive des späten Fichte (vgl. Wissenschaftslehre von 1810 u. a.) ging, werden einige Neufichteaner zugleich dem Neukantianismus zugerechnet.
Die Rezeption der Fichteschen Staats- und Freiheitsidee wurde hauptsächlich von sozialkonservativen Kräften wie Robert von Mohl, Friedrich Julius Stahl oder Lorenz von Stein betrieben. Bedeutender Repräsentant eines nationalpolitischen Neufichteanismus (sog. „Weltkriegsphilosophie“) war Rudolf Eucken.
Durch die Fichte-Gesellschaft von 1914 sowie die ihr nahestehende, von Wilhelm Stapel herausgegebene Zeitschrift Deutsches Volkstum fanden die politischen Anliegen der Neufichteaner weit über universitäre Kreise hinaus Beachtung. Stapel als Vertreter der völkisch-nationalen Neufichtenianer, welche die Weimarer Republik kritisierten, bescheinigte Fichte, er habe eine Art Demokratie entworfen, „die sich bis in die innerste Gesinnung von dem unterscheidet, was heute als Demokratie bei uns eingeführt ist“. Auf dieser Basis konnte im Nationalsozialismus Fichtes Freiheitsauffassung instrumentalisiert werden, um den völkischen Aspekt in den Vordergrund zu stellen.
Bekannte Neufichteaner
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000.
- Friedrich Wilhelm Graf: Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration, in: Gangolf Hübinger u. a. (Hgg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Band 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 53–85.
- Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004.
- Hermann Lübbe: Neufichteanismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 4, Mohr-Siebeck, Tübingen 1960, Sp. 1410–1411.
- Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974, S. 194–205.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.