Anatoli Anatoljewitsch Neratow

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Außenminister Sergej Sasonow hinter seinem Schreibtisch, von dem aus während Sasonows Krankheit schon 1911 auch Anatoli Neratow interimistisch die Amtsgeschäfte leitete

Anatoli Anatoljewitsch Neratow (russisch: Анатолий Анатольевич Нератов) (* 2. Oktober 1863 im Russischen Reich; † 10. April 1938 in Villejuif, Frankreich) war ein russischer Diplomat.[1] Er war Stellvertreter von fünf Außenministern sowohl unter der zaristischen als auch unter der provisorischen Regierung.

Anatoli Anatoljewitsch Neratow wurde geboren, während in Russisch-Polen der Aufstand von 1863 tobte; nach der Niederschlagung des Aufstandes war sein Vater Anatoli Iwanowitsch Neratow (1830–1907) kurzzeitig russischer Gouverneur des polnischen Kielce (1869–1871).[2] Anatoli Anatoljewitsch wuchs jedoch vor allem in Sankt Petersburg auf. Nach dem Besuch des Alexander-Lyzeums in Zarskoje Selo trat Neratow um 1888 oder 1890 in den Auswärtigen Dienst ein.[3] Von 1906 bis 1910 war er zunächst Vizedirektor der 1. Abteilung des russischen Außenministeriums[4], von 1910 bis 1917 dann Unterstaatssekretär bzw. stellvertretender Außenminister.[1][5] Obwohl er während seiner gesamten Dienstzeit kein einziges Mal im Ausland war[3], agierte Neratow in Krisenzeiten viermal kurzzeitig sogar als amtierender Interims-Außenminister[5]:

Der neue Volkskommissar für Auswärtiges, Leo Trotzki, hatte sofort nach der Oktoberrevolution seinen Sekretär Iwan Salkind zu Neratow entsandt. Salkind forderte Neratow auf, sich dem Rat der Volkskommissare zu unterstellen und die diplomatischen Geheimverträge aus den Archiven des zaristischen Außenministeriums herauszugeben, was Neratow verweigerte.[11] Auch Trotzki selbst konnte Neratow nicht umstimmen.[12][13][14] Neratow floh stattdessen zunächst mit einigen der Geheimdokumente.[12][15] Daraufhin wurde Neratow im November 1917 als Vize-Außenminister ohne Pensionsanspruch entlassen[15][16], sein Büro übernahm Salkind.[17] Schließlich stellte sich Neratow[12], die geheimen Dokumente wurden beschlagnahmt und veröffentlicht. Anfang 1918 behauptete Neratow, dass ein Teil dieser veröffentlichten Dokumente Fälschungen, bloße Abschriften und Zusammenfassungen oder wertlose Notizen seien.[15] Im Russischen Bürgerkrieg beriet er die „Weißen[1], zunächst unter General Denikin[18], dann dessen Nachfolger General Wrangel, der ihn im April 1920 zum Leiter der russischen diplomatischen Vertretung in Konstantinopel ernannte.[1] Als die Entente zum Ende des Türkischen Befreiungskrieges Konstantinopel räumte, floh Neratow ins französische Exil. Er starb 1938 in Villejuif im russisch-französischen Krankenhaus, einer Einrichtung des von General Wrangel 1924 gegründeten militärischen Emigrantenverbandes ROVS.[19]

Einzelnachweise

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  1. a b c d Архив Александра Н. Яковлева - Альманах "Россия. ХХ век" - Биографический словарь: Нератов, Анатолий Анатольевич
  2. worldleadersindex.org: Finland, Poland and the Russian Baltic Governorates
  3. a b c Михайловский, Георгий Николаевич: Записки. Из истории российского внешнеполитического ведомства, 1914–1920 гг. Книга 1. Анатолий Анатольевич Нератов
  4. Mikhail Nikolaevich Pokrovskiĭ, Otto Hoetzsch: Die internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus, Band 1, Teil 5, Band 5 (Dokumente aus den Archiven der zaris[tis]chen und der provisorischen Regierung), Seite 426. Reimar Hobbing Verlag, Berlin 1954
  5. a b Marina Soroka: Britain, Russia and the Road to the First World War - The Fateful Embassy of Count Aleksandr Benckendorff (1903–16), Seiten 207–223 und 292. Routledge, London/New York 2016
  6. Raymond Poincaré: Memoiren - Die Vorgeschichte des Weltkrieges (1912-1913), Seiten 229–233. Paul-Aretz-Verlag, Dresden 1928
  7. Jonathan Mercer: Reputation and International Politics, Seiten 171–175 and 202–210. Cornell University Press, Ithaca 2010
  8. Энциклопедия «Вокруг света»: Министерство иностранных дел Российской Федерации
  9. Außenministerium der Russischen Föderation: Штюрмер, Борис Владимирович
  10. Joseph T. Fuhrmann: The Complete Wartime Correspondence of Tsar Nicholas II and the Empress Alexandra - April 1914-March 1917, Seite 752. Greenwood Press, Santa Barbara 1999
  11. Михайловский, Георгий Николаевич: Записки. Из истории российского внешнеполитического ведомства, 1914–1920 гг. Книга 1. Начало саботажа
  12. a b c John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Seiten 111 und 235. MEHRING Verlag GmbH, Essen 2011
  13. Михайловский, Георгий Николаевич: Записки. Из истории российского внешнеполитического ведомства, 1914–1920 гг. Книга 1. Троцкий в министерстве
  14. Außenministerium der Russischen Föderation: Троцкий, Лев Давидович
  15. a b c Wladimir P. Potjomkin (Hrsg.): Geschichte der Diplomatie, Band 2 (Die Diplomatie der Neuzeit, 1872-1919), Seiten 359-363. SWA-Verlag, Berlin 1948.
  16. Sozialistische Klassiker 2.0: Leo Trotzki, 19171126, Befehl des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten
  17. Alexander I. Solschenizyn: Zweihundert Jahre zusammen - die Juden in der Sowjetunion, Band 2, Seite 86. Herbig, München 2003
  18. David Golinikow: Fiasko einer Konterrevolution, Seite 349f. Dietz Verlag, Berlin 1982
  19. Marina Graboff: La Russie fantôme: l'émigration russe de 1920 à 1950. S. 135. L'Age d'Homme, Lausanne 1995