Sestine

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Die Sestine ist eine Gedichtform, die aus sechs sechszeiligen Strophen besteht, denen noch eine dreizeilige Schluss-Strophe folgt; dabei werden die Reimwörter der ersten Strophe in den folgenden Strophen wieder aufgenommen. In sestina steckt das italienische Wort sei „sechs“/sesta „die sechste“, womit auf das strukturierende Prinzip dieser Gedichtform verwiesen ist.

Die Sestine ist durch eine komplexe Wiederholungsstruktur charakterisiert. Die Reimwörter der ersten Strophe werden durch sämtliche sechs Strophen in festgelegter Folge beibehalten. Von der vorangegangenen Strophe wird zunächst das Reimwort der letzten Verszeile, dann der ersten, der zweitletzten, der zweiten, der drittletzten und schließlich der dritten Verszeile wieder aufgegriffen. Wenn man die Reimwörter einer Strophe mit 1–6 nummeriert, dann kommen sie in der darauffolgenden Strophe in folgender Reihenfolge vor: 6 1 5 2 4 3; die übernächste Strophe enthält diese Reimwörter dann in der Folge 3 6 4 1 2 5 usw. Dieses Schema wird als Retrogradatio cruciata bezeichnet. An die sechs Strophen schließt sich eine dreizeilige Coda an, in der sämtliche Reimwörter in der ursprünglichen Reihenfolge der ersten Strophe noch einmal (zwei pro Zeile) wiederkehren: drei der sechs Reimworter befinden sich am Ende der drei Verse, die anderen drei innerhalb der Verse. In der italienischen Dichtung ist für die Sestine das Versmaß des Endecasillabos verbreitet, in der deutschsprachigen Dichtung wird stattdessen zumeist der jambische Fünfheber verwendet.

Friedrich Rückert: Sestine (aus den italienischen Gedichten)[1]

1 Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee, A Schnee 1
2 Und lauten Fußtritts durch die Flur der Frost B Frost 2
3 Einhergeht auf der Spiegelbahn von Eis; C Eis 3
4 Dann ist es schön, geschirmt vorm Wintersturm, D Sturm 4
5 Und unvertrieben von der holden Glut E Glut 5
6 Des eignen Herds, zu sitzen still daheim. F heim 6
7 O dürft ich sitzen jetzt bei der daheim, F heim 6
8 Die nicht zu neiden braucht den reinen Schnee, A Schnee 1
9 Die mit der sonn’gen Augen sanfter Glut E Glut 5
10 Selbst Funken weiß zu locken aus dem Frost! B Frost 2
11 Beschwören sollte sie in mir den Sturm, D Sturm 4
12 Und tauen sollte meines Busens Eis. C Eis 3
13 Erst muß am Blick des Frühlinges das Eis C Eis 3
[…] usw. bis Z. 36
Coda:
37 Mit Blütenschnee schmückt sich der kahle Frost, A,B Frost 2
38 Das Eis wird Lichtkristall und Wohllaut Sturm, C,D Sturm 4
39 Wo ich voll Glut zu dir mich denke heim. E,F heim 6

Literaturhistorische Entwicklung

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Die Ursprünge dieser Gedichtform sind in der Troubadourlyrik des 12. Jahrhunderts zu finden. Als Urheber gilt Arnaut Daniel, der in seiner Kanzone Lo ferm voler die Sestine etablierte. In der Folge übernahmen andere Troubadoure dieses Reimschema. Später wurde die Sestine insbesondere im mittelalterlichen resp. frühhumanistischen Italien als Gedichtform verwendet. So unter anderem durch Dante Alighieri (Al poco giorno) sowie Francesco Petrarca, der die Sestine in seinen Rerum Vulgarium Fragmenta verwendete.

Bis ins 16. Jahrhundert lässt sich diese stark durch Petrarca geprägte Form verfolgen, bevor sie im Zuge der literarischen Entwicklung der Folgejahrhunderte, die ein gewisses Misstrauen gegenüber komplex-artifiziellen Strophenformen mit sich brachte, verdrängt wurde. Bis heute wird die Sestine lediglich punktuell verwendet, wie etwa bei Giuseppe Ungaretti oder Giovanni Raboni.

Deutsche Vertreter

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Martin Opitz hat in seine Schäffery von der Nimfen Hercine eine Sestine eingefügt, für diese aber statt des Schemas 1 2 3 4 5 6, 6 1 5 2 4 3 … (Retrogradatio cruciata) das Schema 1 2 3 4 5 6, 6 1 2 3 4 5 … verwendet, das dadurch verbindlich für die Sestinen des deutschen Barock wurde; es findet sich unter anderem bei Andreas Gryphius (Was frag ich nach der Welt? Sie wird in Flammen stehn, …) und Hans Aßmann Freiherr von Abschatz („Jedwedes Tier, das wohnt auf dieser weiten Erde, …“). Georg Rodolf Weckherlin folgte in seiner Doppelsestine Über meiner Myrten Tod Opitz' Beispiel allerdings nicht. In der deutschen Romantik finden sich Sestinen auch in dramatischen Bezügen. Wilhelm von Schütz verwendet in seinem Schauspiel Lacrimas gleich drei Sestinen. Bei Sophie Bernhardi findet sich je eine Sestine in Die Brüder und Frühlingszauber, zwei in Egidio und Isabella; Zacharias Werner verwendet die Form in Martin Luther. Im lyrischen Rahmen haben sich zu dieser Zeit Friedrich Rückert und Joseph von Eichendorff (Sestine, „Von Bergehöhen Abendstrahlen fließen …“) an der Sestine versucht. Rudolf Borchardt schrieb eine Sestine der Sehnsucht. Zeitgenössische deutschsprachige Beispiele für die Sestine finden sich bei Oskar Pastior (Eine kleine Kunstmaschine. 34 Sestinen)[2], Jan Wagner (die tassen)[3] oder Clemens J. Setz (Sestine von den schädlichen Strukturen)[4].

Andere Dichter: Luís de Camões, Ezra Pound, Rudyard Kipling, W. H. Auden, Joan Brossa, John Ashbery.

  • János Riesz: Die Sestine. Ihre Stellung in der literarischen Kritik und ihre Geschichte als lyrisches Genus, Fink, München 1971.
  • Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart 1997, S. 117 f.
  • Bendikt Ledebur: Sestine I. In: Jürgen Engler (Hrsg.): Neue deutsche Literatur, Band 51 (Lesarten). 2003, S. 148–152.
  • Pia-Elisabeth Leuscher: Sestine. In: Jan-Dirk Müller u. a. (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft. Band 3. Berlin / New York 2003, S. 435–437.
  • Fritz Schlawe: Neudeutsche Metrik. Stuttgart 1972, S. 83 (= Sammlung Metzler 112).
  • Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München 1981, S. 72f.

Einzelnachweise

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  1. Friedrich Rückert: Sestine, Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee. pinselpark.org, abgerufen am 17. Oktober 2016.
  2. Oskar Pastior: Eine kleine Kunstmaschine. 34 Sestinen mit einem Nachwort und Fußnoten, München, Hanser 1994.
  3. Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001–2015, Hanser Berlin 2016, S. 233.
  4. Clemens J. Setz: Die Vogelstraußtrompete, Suhrkamp, Berlin 2014, S. 17.