Bericht über den Deutschlandbesuch des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von UN-Bildungsbericht)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Am 21. März 2007 legte UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Bildung, Vernor Muñoz, in Genf seinen Deutschlandbericht vor. Muñoz hatte im Frühjahr 2006 zehn Tage lang die Bundesrepublik Deutschland bereist.

Ein vorläufiger Bericht war der Regierung und der KMK-Konferenz vorab vertraulich zur Kommentierung vorgelegt worden.

Grundlagen der Bewertung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Grundlage der Beurteilung waren die auch von Deutschland unterzeichneten völkerrechtlichen Verträge, die das Recht auf Bildung betreffen: die allgemeine Menschenrechtserklärung, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Konvention über die Rechte des Kindes, die Europäische Sozialcharta, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Internationale Konvention über die Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung, die Konvention über die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen, die Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder abwertende Behandlung oder Bestrafung, die Konvention über die Rechte des Kindes das Zusatzprotokoll über Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie, die Europäische Konvention über Menschenrechte und die Europäische Sozialcharta.

Außerdem wurde seit 2001 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorbereitet. Es wurde am 13. Dezember 2006 verabschiedet und trat am 3. Mai 2008 in Kraft, in Deutschland am 26. März 2009. Deutschland gehörte zu den mehr als achtzig Mitgliedsstaaten, die bereits am 30. März 2007 sämtliche Teilverträge des Abkommens unterzeichneten. Artikel 24 fordert im englischen Text die inklusive Bildung, in der deutschen Übersetzung die integrative Bildung.[1]

Reaktionen auf den vorläufigen Bericht

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Februar 2006 inspizierte er das deutsche Bildungssystem; während einer zehntägigen Reise besuchte er verschiedene Bildungseinrichtungen, sprach mit Wissenschaftlern, Politikern sowie Eltern- und Lehrervertretern. Dabei kritisierte Muñoz unter anderem die wachsenden Kompetenzen der deutschen Bundesländer in der Bildung (vgl. Föderalismusreform). Durch die weitreichenden Befugnisse sei es schwierig, eine einheitliche Qualität der Bildung zu gewährleisten. Muñoz wies zudem darauf hin, dass Bildung in Deutschland durch mangelnde Chancengleichheit geprägt sei; sie sei wie in keinem anderen entwickelten Land von den Vermögensverhältnissen der Eltern abhängig. Ebenfalls negativ wertete er den frühen Zeitpunkt der Aufteilung der Schüler nach dem 4. Schuljahr auf weiterführende Schulen. Außerdem kritisierte er, dass Kindergartenplätze in Deutschland kostenpflichtig seien. Muñoz bestätigte mit seinen Beobachtungen Aussagen der PISA-Studien und der protestierenden Studierenden 2005/2006, handelte sich aber auch die Kritik ein, während eines zehntägigen Besuchs könne man nicht in dieser Absolutheit das Bildungssystem eines Landes bewerten.

Im Anschluss an die Reise empfahl Muñoz der deutschen Regierung, das mehrgliedrige Schulsystem, das sich „auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie Kinder mit Behinderung negativ“ auswirke, noch einmal zu überdenken.[2]

Im Zuge der Vorveröffentlichung versuchte die Kultusministerkonferenz, den Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats zu einer Änderung seines Berichts zu bewegen. Dieser sah hierfür jedoch keinen Anlass.

Inhalte des Berichts

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Verlaufe seines Besuchs hat der Sonderberichterstatter die Umsetzung des Rechtes auf Bildung im Lichte von vier Querschnittsthemen analysiert:

  1. die Auswirkungen des deutschen föderalen Systems,
  2. die Reform des Bildungssystems, die infolge der Ergebnisse des OECD-Programms zur internationalen Bewertung von Schülerleistungen(PISA) durchgeführt wurde,
  3. die Struktur des Bildungswesens,
  4. der Paradigmenwechsel bei der Migration in Verbindung mit demographischen Veränderungen und sozioökonomischen Faktoren.

Gegliedert ist der Bericht in fünf Kapitel:

I. Das Recht auf Bildung:Grundsätze, Normen und Standards
a. Internationaler rechtlicher Rahmen
b. Innerstaatliche rechtliche Rahmenwerke und nationale Politiken II. Wichtige Aspekte des deutschen Bildungssystems
III. Die Bildungsreform im Lichte des PISA-Programms der OECD
IV. Bildungspolitische Herausforderungen
a. Gesellschaftliche und bildungspolitische Chancen
b. Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund
c. Bildung von Kindern mit Behinderungen
d. Erziehung und Betreuung in der Frühen Kindheit
V. Schlussfolgerungen und Empfehlungen

In der Zusammenfassung des Berichts heißt es:

Es „haben zahlreiche Untersuchungen, die im Rahmen des PISA-Programms durchgeführt wurden, gezeigt, dass in Deutschland ein enger Zusammenhang zwischen sozialem/Migrationshintergrund der Schüler und den Bildungsergebnissen besteht. Dies war u. a. auch ein Auslöser der Bildungsreform. Die Reform wird vor allem von der Notwendigkeit bestimmt, ein System zu schaffen, das den spezifischen Lernbedürfnissen jedes einzelnen Schülers besser entgegenkommt. In dieser Hinsicht legt der Sonderberichterstatter der Regierung eindringlich nahe, das mehrgliedrige Schulsystem, das selektiv ist und zu einer Form der De-facto-Diskriminierung führen könnte, noch einmal zu überdenken. In der Tat geht der Sonderberichterstatter davon aus, dass bei dem Auswahlprozess, der im Sekundarbereich I stattfindet (das Durchschnittsalter der Schüler liegt abhängig von den Regelungen der einzelnen Länder bei 10 Jahren) die Schüler nicht angemessen beurteilt werden und dieser statt inklusiv zu sein exklusiv ist. Er konnte im Verlaufe seines Besuchs beispielsweise feststellen, dass sich diese Einordnungssysteme auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie Kinder mit Behinderungen negativ auswirken.“
„Im Hinblick auf Kinder von Migranten und Kinder mit Behinderungen vertritt der Sonderberichterstatter die Auffassung, dass es notwendig ist, Aktionen einzuleiten, um soziale Ungleichheiten zu überwinden und um gleiche und gerechte Bildungsmöglichkeiten für jedes Kind sicherzustellen, insbesondere für diejenigen, die dem marginalisierten Bereich der Bevölkerung angehören.“[3]
  1. Wandel von einem selektiven Bildungssystem zu einem System, bei dem das Individuum unterstützt wird
  2. größere Unabhängigkeit der Schulen
  3. Verbesserung der Bildungsinhalte und Methoden, insbesondere durch eine systematische Sprachausbildung der Migranten
  4. Verstärkung der demokratischen Schulkultur
  5. verstärkte Kindergartenangebote, die Einführung von Ganztagsschulen und den Verzicht auf ein gegliedertes Schulsystem
  6. eine andere Ausbildung für Lehrer, die nicht nur in einem Fachgebiet spezialisiert sein sollten, sondern auch auf pädagogischer Ebene
  7. stärkere Investitionen und mehr Finanzmittel für frühkindliche Unterstützung.[4]

Reaktionen auf den Bildungsbericht

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jürgen Zöllner, der Präsident der Kultusministerkonferenz, kritisierte u. a. dass Muñoz angeblich feststelle, dass es keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Schulsystem und Schulerfolg gebe, aber dennoch eine grundlegende Änderung der deutschen Schulstruktur fordere. Tatsächlich heißt es jedoch im Bericht, dass nur PIRSL und PISA keinen Zusammenhang herstellen, da dies nicht ihre Aufgabe sei, dass aber sehr wohl verschiedene Elemente auf diesen Zusammenhang hindeuten.[5] Weiterhin wandte sich Zöllner eindeutig gegen Muñoz’ Vorschlag, Homeschooling zuzulassen, da dies die Gefahr von Parallelgesellschaften berge.

Im Bundestag wurde für den 29. März 2007 eine Behandlung des Berichts einberaumt.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) begrüßten den Bericht und forderten, die „groteske Kritik“ an dem Menschenrechtsbeobachter fallen zu lassen und stattdessen seinen Vorschlag aufzugreifen, das Problem der Bildungsbenachteiligung weiter zu erforschen.[6]

Einige deutsche Bildungspolitiker widersprachen den Thesen des UN-Inspektors. Bayerns Kultusminister Siegfried Schneider warf Muñoz vor, die Qualität der beruflichen Bildung in Deutschland völlig außer Acht zu lassen und an einem einzigen Besuchstag nicht adäquat auf das bayerische Schulsystem eingehen zu können.[7]

Der Deutsche Lehrerverband kritisierte, dass Muñoz nur auf die Sekundarstufe I eingegangen sei. Der Deutsche Philologenverband verwies darauf, dass Muñoz den Stellenwert der beruflichen Bildung in Deutschland ignoriere.[8]

Antwort der Bundesregierung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zunächst hatte die Regierung in Abstimmung mit der Kultusministerkonferenz auf der 4. Sitzung des VN-Menschenrechtsrates am 21. März 2007 Stellung genommen. Eine weitere Stellungnahme wurde nach Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs Andreas Storm vom 7. November 2007 nicht für nötig gehalten, anlässlich von PISA 2006 sollten die Ergebnisse kommentiert werden. Die Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Bildung trügen grundsätzlich die Länder.[9]

Im April 2009 legte die Bundesregierung eine dreiseitige Stellungnahme vor. Munoz bezeichnete die Darstellung als „dünn“. Er empfahl unter anderem, den Anspruch auf Inklusion gerichtlich einzuklagen, Deutschland sei Teil des Internationalen Völkerrechts.

Kritik an den Reaktionen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von einer großen deutschen Tageszeitung, dem bildungspolitischen Sprechern der FDP und dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes kamen Stellungnahmen wie die folgenden, an denen wiederum Kritik geübt wurde: So hieß es beispielsweise, dass „ein Professor aus Costa Rica“[10], der einen „Sechs-Tage-Trip“[10] durch Deutschland unternähme und „(…)der kaum des Deutschen mächtig [sei]“[11] sich „(…)[er]dreiste(…)[den Deutschen] die Leviten zu lesen(…)“.[11] Des Weiteren wurde unter der Überschrift „Der UN-Querulant aus Costa Rica“ vom Präsidenten des Lehrerverbandes gemutmaßt, dass die „Nörgeleien“ auf „Einflüsterungen“ zurückzuführen seien und „Widerrede eine patriotische Pflicht“ gegen die Verschwörung des „internationalen Gesamtschulkartells“ sei.[12]

In einem Kommentar von Tanjev Schultz in der Süddeutschen Zeitung wurde an solchen Aussagen kritisiert, dass sich Deutschland wie ein „Schurkenstaat“ und einzelne Bildungspolitiker wie „Despoten“ verhalten hätten.[13] Außerdem bemerkte Pascal Lechler in einem Kommentar der Tagesschau: Ebenso wie afrikanische Länder sich Besuche von Menschenrechtsbeobachtern aus Europa gefallen lassen müssen, dürften Menschenrechtsbeobachter mit einer Herkunft aus Costa Rica die Menschenrechtssituation in Deutschland begutachten.[14]

Da eine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung immer noch nicht erfolgt war, erneuerte der UN-Menschenrechtsinspektor Vernor Muñoz in Berlin im Juli 2007 anlässlich der internationalen Tagung der Lehrergewerkschaften seine Kritik am streng gegliederten Schulsystem Deutschlands, das Migrantenkinder und Kinder aus bildungsfernen Schichten benachteilige. Er rief die Bundesregierung auf, endlich auf die Kritik zu reagieren.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärte: Der Bundespräsident müsse eine nationale Bildungsdebatte anstoßen, falls die Politik weiter „gekränkt, aggressiv und überheblich“ auf Muñoz’ Kritik reagiere.[15][16]

  • Bernd Overwien, Annedore Prengel (Hrsg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2007, ISBN 978-3-86649-076-5

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf
  2. Die Welt: Muñoz fordert Ende des dreigliedrigen Schulsystems. 21. März 2007. (Zuletzt abgerufen am 21. März 2007)
  3. UN-Bildungsbericht, deutsche Arbeitsübersetzung (PDF)
  4. 23. 03. 2007. In: Das Innovationsportal des Deutschen Bildungsservers. Abgerufen am 15. April 2016.
  5. Vernor Muñoz: „Es ist richtig, dass weder PISA noch PIRLS eine direkte Verbindung zwischen Schulstruktur und Schullaufbahn herstellen, weil sie diese Beziehung nicht unmittelbar behandeln. Dem Sonderberichterstatter ist bewusst, dass die dreigliedrige Struktur in Deutschland eine lange Tradition hat, dennoch macht er auf die Existenz zahlreicher Elemente aufmerksam, die darauf hindeuten, dass die Bildungsstruktur sehr wohl einen entscheidenden Einfluss auf Schulabschluss, Lernerfolg und Unterrichtsqualität hat.“ UN-Bildungsbericht, deutsche Arbeitsübersetzung
  6. GEW: „Muñoz-Vorschlag für wissenschaftliche Forschungen aufgreifen“ (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)
  7. Pressemitteilung des Bayerischen Kultusministeriums Nr. 43 vom 21. März 2007
  8. Bildung: Harsche Kritik an UN-Schulbericht FAZ vom 21. März 2007
  9. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607052.pdf
  10. a b Pressemitteilung der FDP im Bundestag vom 22. März 2007: MEINHARDT: Muñoz-Bericht ist eine Zumutung (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)
  11. a b Heike Schmoll: UN-Sonderberichterstatter Muñoz: Dreistes Urteil über das deutsche Schulsystem. 21. März 2007, f.a.z.-net
  12. Josef Kraus: Der UNO-Querulant aus Costa Rica. Kommentar zum Bericht des UNO-Beauftragten Vernor Muñoz (Memento vom 22. Juli 2007 im Internet Archive)
  13. Tanjev Schultz: Studie der Vereinten Nationen – Vernichtendes Zeugnis. sueddeutsche.de, 21. März 2007, archiviert vom Original am 23. April 2008; abgerufen am 3. Juni 2012.
  14. Pascal Lechner: Kommentar der Tagesschau vom 21. März 2007
  15. Thorsten Harmsen: Vom Wert der Bildung, Berliner Zeitung
  16. GEW: „Bundespräsident soll sich mit Muñoz-Bericht beschäftigen“. gew.de, 24. Juli 2007, archiviert vom Original am 27. September 2007; abgerufen am 3. Juni 2012.