Lischanagletscher
Lischanagletscher | ||
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Lischanagletscher im Jahr 1922 von der Maiensäss Prui oberhalb von Ftan aus gesehen. Links vom Gletscher der Piz Lischana, rechts davon der Piz San Jon. | ||
Lage | Graubünden, Schweiz | |
Gebirge | Sesvenna-Gruppe | |
Typ | Plateaugletscher | |
Länge | 3,5 km Ausdehnung um 1850, heute auf Relikte reduziert (Stand 2012). | |
Fläche | 4 km² Ausdehnung um 1850, Reliktsumme heute ca. 4 Hektaren (Stand 2012). | |
Exposition | Mehrheitlich nach Osten; Triazza-Relikt: Norden; Lischana-Relikt: Nordwesten. | |
Höhenbereich | 3033 m ü. M. – 2600 m ü. M. (1850) | |
Breite | max. 1,5 km | |
Koordinaten | 822799 / 182714 | |
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Entwässerung | Aua da Sesvenna, Clemgia, Inn | |
Besonderheiten | Im 19. Jahrhundert zweitgrösster Unterengadiner Gletscher |
Der Lischanagletscher war bis ins 19. Jahrhundert ein grosser Plateaugletscher im Unterengadin. Heute ist er auf zwei kleine Relikte zusammengeschrumpft.
Das ehemalige Firngebiet ist von zahlreichen Bergseen übersät, unter anderem den Lais da Rims.
Name
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Schweizerischen Kartenwerke bezeichneten den Lischanagletscher von 1853 bis 1924 bündnerromanisch als Vadret Lischanna (deutsch Lischannagletscher),[1] gelegentlich erschien in der Literatur auch die Schreibweise Vadrett Lischanna.[2] 1925 wechselte die namengebende Bergspitze vom Piz Lischana zum Piz Rims und der Gletscher hiess von da an Vadret da Rims (deutsch Rimsgletscher), obschon der Piz Rims zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 2 Kilometer vom schrumpfenden Gletschergebiet entfernt lag. Die Bezeichnung Vadret da Lischanna wurde nur noch für den kleineren, in die Val Lischana fliessenden Kargletscher verwendet.[3] Die orthografische Korrektur zu Vadret da Lischana fand mit der Kartenausgabe von 1952 statt.[4]
Lage
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Mitte des 19. Jahrhunderts, am Ende der Kleinen Eiszeit also, bedeckte der Lischanagletscher eine Fläche von ca. 4 Quadratkilometern, nämlich das Gebiet, das begrenzt wird durch die Gipfel Piz Lischana, Piz San Jon, Piz d'Immez und Piz Curtinatsch. Der Lischanagletscher war – nach dem Silvrettagletscher – der zweitgrösste Gletscher des Unterengadins und der grösste auf der rechten Talseite.
Die tiefste Stelle erreichte der Gletscher um 1850 in der Val Lischana auf etwa 2600 m ü. M.[1] Während der Würm-Kaltzeit am Ende der Eiszeit (etwa bis 8000 v. Chr.) reichte der Lischanagletscher bis in Lagen von 2000 m ü. M. hinunter.[5]
Der östliche Vadret da Rims, der frühere Hauptteil des Lischanagletschers, existierte bis 1996.[6]
Der westliche Vadret da Lischana hat sich in der Zeitspanne von 1895 bis 2008 um 400 Meter zurückgezogen. Ein letzter Vorstoss erfolgte in den beiden Wintern von 1964 bis 1966, und zwar je um circa 27 Meter.[7] 1973 noch mit 0,9 Quadratkilometern und 900 m Länge vermessen, betrugen die entsprechenden Werte im Jahr 2000 noch 0,1 Quadratkilometern bzw. 400 m.[8] Er verschwand zwischen 2002 und 2004 von der Landeskarte.[9][10]
Vom ursprünglichen Lischanagletscher übrig geblieben sind heute also nur der Gletscherrest zuoberst in der Val Lischana sowie der Vadret da Triazza, ein kleines, nach Norden gerichtetes Firngebiet in einer Mulde zwischen Piz Lischana und Piz Triazza.
Politisch gehörte die heutige Hochebene bis 2014 zur ehemaligen Gemeinde Sent GR und damit zur Gemeinde Scuol. Die verbliebenen Gletscherreste in der Val Lischana und der Val Triazza gehören ebenfalls zu Scuol.
Seen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bis Ende des 19. Jahrhunderts war der Lischanagletscher ein ausgedehnter Plateaugletscher. An seinem Rand lagen mehrere kleine Seen,[11] doch auch mitten im Eisplateaus, etwa 200 nordwestlich vom heutigen Lai d'Immez, befand sich dauerhaft ein See von etwa 100 m Länge, der erst in den 1920er Jahren verschwand.
Das Gebiet der heutigen Lais da Rims (deutsch Rims-Seen) lag schon Mitte des 19. Jahrhunderts ausserhalb des vergletscherten Gebiets,[12] ebenso der etwas tiefer in einer abflusslosen Mulde gelegene Dolinensee Lai da Gonda Grossa (deutsch See der grossen Geröllhalde).[1][13]
Der Lai d'Immez (deutsch Mittelsee) bildete sich ab Mitte der 1920er Jahre am Rande des Vadret d'Immez, eines Gletscherrelikts des Lischanagletschers am Nordabhang des Piz d'Immez. Zur heutigen Grösse von 4 Hektaren wuchs der See Mitte der 1960er Jahre, womit er heute der grösste See des Hochplateaus ist. Sein Wasserspiegel liegt heute bei 2832 m ü. M.[14]
Ebenfalls Mitte der 1920er Jahre bildete sich der Lajet da Lischana (deutsch Lischana-Seelein) unter dem Rückzug des Vadret da Rims, der früheren Hauptteil des Lischanagletschers. Auch er wuchs erst in den 1960er Jahren zur heutigen Grösse an und liegt heute auf 2857 m ü. M.[15]
Von den Seen des heutigen Hochplateaus hat nur der Lajet da Lischana einen oberirdischen Abfluss, nämlich bei der Fora dal aua (deutsch Wasserloch). Dieser Abfluss führt als Aua Sesvenna (deutsch Sesvennabach) in die Clemgia und von dort in den Inn.[16]
Wandergebiet
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Fuorcla da Rims, höchste Stelle des früheren Lischanagletschers, kann von der Lischanahütte aus in 1,5 Stunden erreicht werden. Wanderwege führen von da auf den Piz Lischana, via Lajet da Lischana nach S-charl oder an den Lais da Rims vorbei zum Schlinigpass, dem Übergang vom Schlinigtal ins Val d’Uina. Der Schwierigkeit der meisten Wanderrouten im Gebiet des früheren Lischanagletschers liegt zwischen T2 und T4.[17]
Fauna
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Gebiet gibt es Murmeltiere und Steinböcke.[18]
Sprachwelt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Sage
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der romanischen Sage Il Grip da la sumglientscha (deutsch Der Felsen der Ähnlichkeit) nach soll vom früheren Gletschersee aus an einer Felswand am Piz Mezdi[19] ein Menschkopf zu sehen gewesen sein. Es ging die Kunde um, jemand, dessen Gesicht diesem Felsengesicht gleiche, werde zum glücklichsten Menschen. Ein Steinhauer, der ins Tal kam, erkannte im Spiegelbild der Felswand grosse Ähnlichkeit zu seinem Gesicht und wünschte sich, dem Felsengesicht noch mehr zu gleichen. Stattdessen verlor er über mehrere Wochen die Ähnlichkeit und zog wieder ins Unterland. Unter verschiedenen Umständen kam er jedoch im Zeitraum vieler Jahre wieder in die Gegend, und sein Gesicht kam der Form des Felsengesichts mal näher oder entfernte sich aber wieder. Eines Abends fanden die Leute des Tales den Steinhauer beim Sonnenuntergang tot neben dem Gletschersee und waren erstaunt, dass sein Gesicht nun dem Felsengesicht vollständig glich.
Die Sage wurde unter anderem von den Unterengadiner Schriftstellern Jon Semadeni und Cla Biert literarisch aufgegriffen.[20][21]
Wetterregeln
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Zwei Wetterregeln aus Scuol mit Bezug auf den Lischanagletscher lauten im Unterengadiner Idiom Vallader:
„Scha'l vadret da Lischana as muossa da dalöntsch in s-chüra culur, as müda l'ora bainbod.“
„Wenn sich der Lischanagletscher von weitem in dunkler Farbe zeigt, ändert sich das Wetter bald.“
„Schi's vezza bain ils quatter auals chi cuorran gio dal vadret Lischana, schi's müda l'ora.“
„Wenn die vier Bäche, die vom Lischanagletscher herunterfliessen, gut sichtbar werden, so ändert sich das Wetter.“
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c Dufourkarte.
- ↑ Beispiel: Ueber das Verhältniss der Topographie zur Geologie bei Darstellung von Gebirgskarten. Jakob Melchior Ziegler, 1869. Wurster, Winterthur.
- ↑ Siegfriedkarte, Stand 1925.
- ↑ Siegfriedkarte, Stand 1952.
- ↑ Eiszeitalter: Westliche Ostalpen mit ihrem bayerischen Vorland bis zum Inn-Durchbruch und Südalpen zwischen Dolomiten und Mont Blanc. René Hantke. 1983.
- ↑ Landestopografie 1996/1998.
- ↑ Längenmessung Vadret da Lischana (PDF; 147 kB), Gletscherberichte (1881–2002). «Die Gletscher der Schweizer Alpen», Jahrbücher der Glaziologischen Kommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) herausgegeben seit 1964 durch die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich. No. 1–122. Aufgerufen am 9. September 2013.
- ↑ Schweizer Gletscherinventar 2000, zitiert in Gletscher und Klimawandel in Graubünden (PDF; 1 MB), Amt für Wald, Graubünden, 2009. Aufgerufen am 9. September 2013.
- ↑ Landestopografie 2002/2004.
- ↑ Das Unterengadin im Treibhaus ( vom 4. März 2016 im Internet Archive), Maturaarbeit Marius Jenny, mit Bild der Reste des Lischanagletschers (Bild ETH Zürich, Stand 2002). PDF aufgerufen am 9. September 2013.
- ↑ Geographisches Lexikon der Schweiz. 1902.
- ↑ Beschreibung und Bild der Lais da Rims, Website von Sent GR. Aufgerufen am 10. September 2013.
- ↑ Bild des Lai da Gonda Grossa, Website von Sent GR. Aufgerufen am 10. September 2013.
- ↑ Bild des Lai d'Immez, Website von Sent GR. Aufgerufen am 10. September 2013.
- ↑ Beschreibung und Bild des Lajet da Lischana, Website von Sent GR. Aufgerufen am 10. September 2013.
- ↑ Bild der Fora dal Aua, Wanderbeschrieb bei hikr.org. Aufgerufen am 10. September 2013.
- ↑ Tourenangaben ( vom 30. September 2013 im Internet Archive) der Lischanahütte. Aufgerufen am 10. September 2013.
- ↑ Menükarte der Lischanahütte von 2012. Aufgerufen am 9. September 2013.
- ↑ Unklare Identifikation: Einen Piz Mezdi gibt es im Lischanagebiet nicht; möglich ist eine Identifikation mit dem Piz San Jon d'Immez, der von Scuol aus im Süden (roman. mezdi) liegt. Der Piz Mezdi in der Val S-charl ist relativ weit entfernt.
- ↑ Jon Semadeni: Il grip da la sumglientscha. Erzählung, publiziert in den Annalas da la Societad Retorumantscha, 1981.
- ↑ Cla Biert: La legenda del grip della sumglientscha. In: La müdada. (deutsch Die Wende). Eigenverlag, Thusis 1962, OCLC 837858275.