Willenskraft

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Willenskraft oder Willensstärke (englisch willpower) ist eine alltagssprachliche Bezeichnung für den Fachbegriff Volition aus der Psychologie und Managementlehre. Willenskraft gilt als Synonym für charakterliche Merkmale wie Ausdauer (Beharrlichkeit), Zähigkeit, Entschlossenheit, Tatkraft, Robustheit oder Zielstrebigkeit. Allen Begriffen ist gemeinsam, dass sie die psychische Energie bezeichnen, die notwendig ist, um Unlustgefühle, Ablenkungen oder andere Hindernisse auf dem Weg zur Zielerreichung zu überwinden. Sind neben der Willensstärke auch alle weiteren Bedingungen erfüllt, um den Willen (die Absicht, die Intention) in die Tat umzusetzen, spricht man von Umsetzungskompetenz.

Der Begriff Willenskraft wird auch im Zusammenhang mit dem Überwinden unerwünschter Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Emotionen verwendet. Beispiele sind Ess- und Trinkgewohnheiten, Störungen im Sozialverhalten oder (unangemessene) Impulsivität.[1] Die Willenskraft spielt eine wichtige Rolle im Konzept der Selbstmanagement-Therapie von Frederick Kanfer, einer therapeutischen Variante des Selbstmanagements mit dem Ziel, die Selbstregulations­fähigkeit (des Patienten) zu stärken.[2]

Historische Entwicklung

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Der Psychologe Narziß Ach (1871–1946) gehört zu den Ersten, die sich mit dem Phänomen des Willens wissenschaftlich mit experimentellen Methoden beschäftigt haben.[3] Nach seiner Erkenntnis zeigt sich der Erfolg unserer Bestrebungen in der Verwirklichung dessen, was wir wollen angesichts von Widerständen. Dies nannte er den Wirkungsgrad des Willens. Damit meint er das Resultat von zwei Kräften: der Willensstärke einerseits und den (oft widerstrebenden) Gewohnheiten andererseits. Es geht um die durch den Willen gesteuerte Überwindung von Hindernissen (Gewohnheiten).[4] Eine Abweichung vom zielbewussten Handeln, so Ach, bedeutet einen Verlust von Energie und schwächt die Willenskraft. Gleichzeitig hat die Verwirklichung einer Zielvorstellung mehrere Vorteile. Zum einen entsteht eine Bewusstheit des Könnens, und zum anderen führen wiederholte Erfolgserlebnisse dieser Art zum Entstehen von (neuem) Wissen (durch Erfahrung). Besonders wertvoll ist dabei das Freiheitsbewusstsein oder das Gefühl, die Kraft und die Macht zu haben, das auszuführen, was man will. Diese Bewusstheit des Erfolges durch das Erreichen von Zielen ist außerdem von Stolz und Lustgefühlen begleitet.[5]

Weitere interessante Diskussionsbeiträge zu diesem Thema (in historischer Perspektive) stammen von William James (1842–1910), Kurt Lewin (1890–1947) und Milton Erickson (1901–1980). Entscheidende Impulse zur Weiterentwicklung dieses Themas kamen aus dem kybernetischen Modell der Selbstregulierung (auch als Selbststeuerung bezeichnet). Die Weiterentwicklung besteht darin, dass nicht Motive oder Persönlichkeitsmerkmale als primäre „Ursache“ menschlichen Handelns angesehen werden, sondern die willentliche oder bewusste Entscheidung,

  1. worauf jemand seine Aufmerksamkeit richtet,
  2. welche Motive und Ziele er auswählt,
  3. für welche Handlungen (Mittel zur Zielerreichung) er sich entscheidet,
  4. wie er die Erfolgskontrolle seiner Aktivitäten durchführt,
  5. welchen Impulsen er (nicht) folgt und
  6. wie er mit seinen Emotionen umgeht.

Folglich ist menschliches Fehlverhalten auf einen Mangel dieser Fähigkeiten zurückzuführen (self-regulatory failure).[6]

Einen weiteren wesentlichen Beitrag leistete der Neurologe Hans Kornhuber (1928–2009) mit der Entdeckung des Bereitschaftspotentials. Damit hat er dem Thema Selbstregulierung eine naturwissenschaftlich fundierte Grundlage verliehen. Die aktuelle Neurologie hat das kybernetische Paradigma für die Steuerung des Verhaltens bestätigt.[7] Die Tatsache, dass der gesamte Themenkomplex (Willenskraft, Volition, Selbstregulierung bis hin zur Motivation) in der breiten Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit erregte, führt Joseph LeDoux auf die „kognitive Revolution“ (Kognitive Wende) zurück.[8]

Praktische Anwendung

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Das Thema Willensstärke (Volition) spielt im Alltag eine wichtige Rolle. Beispielsweise hat die empirische Studie von June Tangney und Co-Autoren herausgefunden, dass Menschen mit ausgeprägter Willensstärke wesentlich erfolgreicher mit emotional belastenden Situationen umgehen können; sie verfügen über ein stärkeres Selbstbewusstsein, haben bessere persönliche Beziehungen und sind weniger anfällig für den Missbrauch von Alkohol, Nikotin oder Nahrung.[9] Zu den gleichen Ergebnissen kamen Studien im Bereich der Medizin, an Schulen und im Sport.[10] Diese Erkenntnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass willensstarke Menschen im Leben besonders erfolgreich sind. In der Psychotherapie wurde das Willensthema auf dem Boden neuropsychologischer Konzepte in der Tradition von A. R. Lurija[11] in der Integrativen Therapie durch Hilarion G. Petzold praktisch umgesetzt mit einem willensdiagnostischen Interview und willenstherapeutischen Methoden der Förderung von Entscheidungs-, Umsetzungs- und Durchhaltekraft[12][13]. Das wurde auch in Supervision[14][15][16] und Coaching, wo es um performanzorientierte Umsetzung von Erkenntnissen geht, aufgegriffen und systematisch entwickelt.

Eine Kernfrage lautet, wie man die Willenskraft operationalisieren und messen kann; denn nur so ist es möglich, diese Fähigkeit zu trainieren und in der Praxis anzuwenden.[17] Ein Instrument (Test) für diesen Zweck ist das so genannte Selbststeuerungsinventar. Ein Beispiel für den allgemeinen und klinischen Bereich ist das Inventar von Julius Kuhl und Arno Fuhrmann.[18] Ein weiteres Beispiel ist die Self-Control and Self-Management Scale von Peter Mezo.[19] Ein Selbststeuerungsinventar (Test) zur Messung der Willensstärke speziell für Fach- und Führungskräfte wurde am Steinbeis-Institut für Management-Innovation entwickelt und anhand einer Stichprobe von rund 14.000 Teilnehmern validiert.[20]

  • Narziß Ach: Über den Willen. Leipzig 1910.
  • Roy Baumeister und John Tierney: Die Macht der Disziplin. Campus, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-593-39360-5 (amerik. Originaltitel: Willpower. Rediscovering the Greatest Human Strength, Penguin Book Press, New York 2011)
  • Roy Baumeister, Kathleen Vohs (Hrsg.): Handbook of Self-Regulation. New York, The Guilford Press, 2004.
  • Anne-Marie Elbe, Brigit Szimanski, Jürgen Beckmann: The development of volition in young elite athletes. In: Psychology of Sport and Exercise, 2005.
  • Patrick Haggard: Human volition: towards a neuroscience of will. In: Nature Reviews/Neuroscience. Vol. 9, 2008.
  • Rick Hoyle (Hrsg.): Handbook of Personality and Self-Regulation. Wiley-Blackwell, 2010.
  • Frederick Kanfer: Motivation theory and industrial and organizational psychology. In: M. D. Dunette, L. M. Hough (Hrsg.): Handbook of industrial and organizational psychology. 2. Auflage. Consulting Psychology Press, Palo Alto, CA 1990.
  • Frederick Kanfer: Die Motivierung von Klienten aus der Sicht des Selbstregulationsmodells. In: Julius Kuhl, Heinz Heckhausen (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Band 4: Motivation, Volition und Handlung. Göttingen 1996.
  • Joseph LeDoux: Das Netz der Persönlichkeit. Düsseldorf 2006.
  • Kurt Lewin: Die Entwicklung der experimentellen Wilenspsychologie und der Psychotherapie. In: Archiv für Psychiatrie. Band 85, 1929.
  • Peter Mezo: The Self-Control and Self-Management Scale: Development of an Adaptive Self-Regulatory Coping Skills Instrument. In: J. Psychol. Behav. Assess. 2009, 31.
  • Waldemar Pelz: Volition – die Umsetzungskompetenz. Forschungsbericht der THM Business School, Gießen 2015. (Download PDF)
  • June P. Tangney, Roy F. Baumeister, Angie Luzio Boone: High Self-Control Predicts Good Adjustment, Less Pathology, Better Grades, and Interpersonal Success. In: Journal of Personality. Vol. 72, 2004.
  • Brian Tracy: Keine Ausreden! Die Kraft der Selbstdisziplin. Gabal, Offenbach 2011, ISBN 978-3-86936-235-9.

Einzelnachweise

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  1. Walter Mischel und Ozlem Ayduk, Willpower in a Cognitive-Affective Processing System, in: Roy Baumeister und Kathleen Vohs (Editors), Handbook of Self-Regulation, New York, The Guilford Press: 2004
  2. Frederick Kanfer: Motivation theory and industrial and organizational psychology. In: M. D. Dunette, L. M. Hough (Hrsg.): Handbook of industrial and organizational psychology. 2. Auflage. Consulting Psychology Press, Palo Alto, CA 1990.
  3. Kurt Lewin: Die Entwicklung der experimentellen Wilenspsychologie und der Psychotherapie. In: Archiv für Psychiatrie. Band 85, 1929.
  4. Narziß Ach: Über den Willen. Leipzig 1910, S. 5 ff.
  5. Narziß Ach: Über den Willen. Leipzig 1910, S. 13 ff.
  6. Eran Magen, James Gross: Thy Cybernetic Process Model of Self-Control. In: Rick Hoyle (Hrsg.): Handbook of Personality and Self-Regulation. Wiley-Blackwell, 2010, S. 145 ff. sowie Michael Rosenbaum, Karin Ben-Ari: Learned helplessness and learned resourcefulness: effects of noncontingent success and failure on individuals in self-control skills. In: Journal of Personality and Social Psychology. Vol. 48, Nr. 1, 1985, S. 198 ff.
  7. P. Haggard: Human volition: towards a neuroscience of will. In: Nature Reviews Neuroscience Vol. 9 (2008)
  8. Joseph LeDoux: Das Netz der Persönlichkeit. Düsseldorf 2006.
  9. June P. Tangney, Roy F. Baumeister, Angie Luzio Boone: High Self-Control Predicts Good Adjustment, Less Pathology, Better Grades, and Interpersonal Success. In: Journal of Personality. Vol. 72, 2004.
  10. Anne-Marie Elbe, Brigit Szimanski, Jürgen Beckmann: The development of volition in young elite athletes. In: Psychology of Sport and Exercise. 2005 und Jean-Paul Broonen u. a.: Is volition the missing link in the management of low back pain? In: Joint Bone Spine. 2010, Online-Version
  11. H. G. Petzold, N. Michailowa: Alexander Lurija – Neurowissenschaft und Psychotherapie. Integrative und biopsychosoziale Modelle. Krammer, Wien 2008.
  12. H. G. Petzold, J. Sieper: Integrative Willenstherapie - Perspektiven zur Praxis des diagnostischen und therapeutischen Umgangs mit Wille und Wollen. Hrsg.: POLYLOGE. Band 8. Hückeswagen 2012 (fpi-publikation.de).
  13. K. Rast-Pupato: Wille und Wollen im Rahmen der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen – Aus Sicht der Integrativen Therapie. Hrsg.: POLYLOGE. Band 20/2006 (fpi-publikation.de).
  14. M. Chudy: Der Wille in der Supervision – Einstieg in eine komplexe Diskussion – Ein Versuch zur Überschau für Praktiker. Hrsg.: SUPERVISION. Band 12/2011 (fpi-publikation.de).
  15. A. Moser: SELBSTSTEUERUNG - DER WILLE ZUM SOUVERÄNEN SELBST! Konzepte für die Supervision. Hrsg.: SUPERVISION. Band 08, 2015 (fpi-publikation.de).
  16. C. Müller: Die Bedeutung des Willens für die Supervision. Hrsg.: SUPERVISION. Band 11/2011 (fpi-publikation.de).
  17. Frederick Kanfer: Die Motivierung von Klienten aus der Sicht des Selbstregulationsmodells. In: Julius Kuhl, Heinz Heckhausen (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Band 4: Motivation, Volition und Handlung. Göttingen 1996.
  18. J. Kuhl, A. Fuhrmann: Decomposing Self-Regulationand Self-Control: The Volitional Components Inventory. In: J. Heckhausen, C. S. Dweck: Motivation and Self-Regulation Across the Life Span. Cambridge (UK) 1998.
  19. P. G. Mezo: The Self-Control and Self-Management Scale: Development of an Adaptive Self-Regulatory Coping Skills Instrument. In: J. Psychol. Behav. Assess. Band 31, 2009, S. 83–93.
  20. Waldemar Pelz: Umsetzungskompetenz als Schlüsselkompetenz für Führungspersönlichkeiten. In: Corinna von Au (Hrsg.): Leadership und angewandte Psychologie. Band 3: Eigenschaften und Kompetenzen von Führungspersönlichkeiten. Springer Verlag, Berlin 2016. Zusammenfassung