ʿAbd al-Dschabbār ibn Ahmad

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ʿImād al-Dīn Abū l-Hasan ʿAbd al-Dschabbār ibn Ahmad al-Hamadhānī (arabisch عماد الدين ابو الحسن عبد الجبّار بن احمد الهمذاني, DMG ʿImād al-Dīn Abū l-Ḥasan ʿAbd al-Ǧabbār ibn Aḥmad al-Hamaḏānī; geb. zwischen 932 und 937 in Asadābād ca. 50 km westsüdwestlich von Hamadan; gest. 1024) war ein islamischer Kalām-Gelehrter, der zu seiner Zeit der bedeutendste Vertreter der muʿtazilitischen Schule von Basra war[1] und von 977 bis 995 das Amt des Ober-Qādīs (Qāḍī l-quḍāt) von Raiy bekleidete.

ʿAbd al-Dschabbār erhielt zunächst in Hamadan eine Ausbildung in aschʿaritischer Theologie und schafiitischem Fiqh. 957 ging er nach Basra und studierte bei Abū Ishāq Ibn ʿAiyāsch, einem muʿtazilitischen Theologen der bahschamitischen Richtung. Unter seinem Einfluss ging er in der Theologie zur muʿtazilitischen Lehre über. Nach einiger Zeit reiste er nach Bagdad, wo er sich Abū ʿAbdallāh al-Basrī (st. 980), dem führenden Theologen der Bahschamīya, anschloss. 970 begann ʿAbd al-Dschabbār während eines Aufenthaltes in Rāmhormoz mit der Erstellung seines theologischen Hauptwerks mit dem Titel al-Muġnī fī abwāb at-tauḥīd wa-l-ʿadl. Noch bevor er dieses Werk abschließen konnte, wurde er 977 von dem buyidischen Wesir as-Sāhib ibn ʿAbbād (st. 995), der ein Anhänger der Muʿtazila war, zum Oberkadi von Rey berufen. Nach dem Tod von as-Sāhib ibn ʿAbbād entließ der buyidische Herrscher von Rey, Fachr al-Daula (st. 997), ʿAbd al-Dschabbār und konfiszierte seine Besitztümer. Die Zeit bis zu seinem Tod verbrachte er mit Unterricht und dem Abfassen von Büchern. ʿAbd al-Dschabbār hatte zahlreiche Schüler. Unter ihnen befand sich auch der zwölfer-schiitische Theologe asch-Schaich al-Mufīd.[2]

ʿAbd al-Dschabbār hat mehr als siebzig Werke zur muʿtazilitischen Dogmatik, zur Koranexegese, zum Hadith, zum islamischen Recht und zu anderen Themen abgefasst. Die meisten von ihnen sind verloren.[3] Zu denjenigen Werken, die in der Forschung besonders viel Aufmerksamkeit erhalten haben, gehören:

  • Kitāb al-Uṣūl al-ḫamsa. In diesem sehr kurzen Werk, das nur in einer Handschrift aus der Vatikanbibliothek überliefert ist,[4] gibt ʿAbd al-Dschabbār eine Einführung in die fünf Hauptprinzipien der muʿtazilitischen Theologie nach Art einer Bekenntnisschrift.[5] Zwischen 970 und 990 verfasste er einen eigenen Kommentar zu diesem Werk. Dieses Werk mit dem Titel Šarḥ al-Uṣūl al-ḫamsa hat sich jedoch nicht erhalten. Die angebliche Ausgabe von ʿAbd al-Karīm ʿUthmān (Kairo: Maktabat al-Wahba 1965) ist in Wirklichkeit die Mitschrift einer Vorlesung des zaiditischen Gelehrten Mankdīm (st. 1034) über ʿAbd al-Dschabbārs Kommentar.[6]
  • al-Muġnī fī abwāb at-tauḥīd wa-l-ʿadl ("Summa über die Themen des Einheitsbekenntnisses und der Gerechtigkeit"), 20-bändiges dogmatisches Werk, das erst 1950/51 von einem Team ägyptischer Gelehrter in einer Moschee in Sanaa wiederentdeckt wurde.[7] Die einzelnen Bände – nicht alle haben sich erhalten – sind folgenden Themen gewidmet: 4. das Sehen Gottes (ruʾyat al-bārī), 5. die nicht-islamischen Sekten (al-firaq ġair al-Islāmīya), 6. die göttliche Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (taʿdīl wa-t-taǧwīr), der göttliche Wille (al-irāda), 7. die Erschaffenheit des Korans (ḫalq al-Qurʾān), 8. das Erschaffene (al-maḫlūq), 9. die Erzeugung (taulīd) der Handlung durch den Menschen, 11. die Belastung (taklīf) des Menschen mit den religiösen Pflichten, 12. vernunftbasierte Betrachtung und Erkenntnisse (an-naẓar wa-l-maʿārif), 13. der göttliche Gnadenerweis (luṭf), durch den der Mensch zum Guten geführt wird, 14. die Frage der Verpflichtung Gottes zum Besten (al-aṣlaḥ), 15. Prophezeiungen und Wunder (tanabbuʾāt wa-muʿǧizāt), 16. der Iʿdschāz ("Unnachahmlichkeit, Wundercharakter") des Korans, 17. die religionsgezetzlichen Bestimmungen (aš-šarʿīyāt), 20. das Imamat.
  • Taṯbīt dalāʾil an-nubūwa, im Jahre 995 abgefasste Abhandlung über die Beweise für Mohammeds Prophetentum, in der die Argumente derjenigen nicht-muslimischen Gruppen, die dieses zurückweisen (Christen, Juden u. a.), widerlegt werden. Das Werk wurde 1966 in Beirut von ʿAbd al-Karīm ʿUthmān in zwei Bänden ediert.
  • Faḍl al-iʿtizāl wa-ṭabaqāt al-Muʿtazila wa-mubāyanatu-hum li-sāʾir al-muḫālifīn, Abhandlung über den Vorrang der muʿtazilitischen Lehre, die Klassen der Muʿtazila und den Unterschied ihrer Lehre gegenüber abweichenden Lehren. Das Werk wurde 1974 in Tunis von Fu'ād Saiyid ediert.[8] Eine seiner wichtigsten Vorlagen war das Kitāb al-Maṣābīḥ von Muhammad ibn Yazdād.[9]
  • al-Muḥīṭ bi-t-taklīf, Abhandlung über die Belastung des Menschen mit den religiösen Pflichten, die nur aus Zitaten in späteren Werken bekannt ist.

Die fünf Hauptprinzipien

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ʿAbd al-Dschabbār legte die muʿtazilitische Lehre auf fünf Hauptprinzipien fest:

  1. at-Tauhīd („Einheitsbekenntnis“)
  2. al-ʿAdl („die Gerechtigkeit [Gottes]“)
  3. al-Waʿd wa al-waʿīd („Göttliches Heilsversprechen und göttliche Strafandrohung“)
  4. al-Manzila baina l-manzilatain ("Die Zwischenstufe [für den Todsünder]")
  5. al-Amr bi-l maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar (Das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten)

Die drei letztgenannten Prinzipien lassen sich seiner Meinung nach wiederum aus den beiden erstgenannten Prinzipien des Einheitsbekenntnisses und der göttlichen Gerechtigkeit ableiten.

Das Wesen Gottes

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Gott wird von ʿAbd al-Dschabbār negativ definiert als etwas, das weder Substanz noch Gegenstand, Akzidens oder Substrat ist. Hinsichtlich der göttlichen Attribute unterscheidet er zwischen essentiellen und aktiven Attributen. Die aktiven Attribute (ṣifāt al-fiʿl) wie das Wollen und die Rede sieht er nicht als anfangsewig an. Besonders die Erschaffenheit des Korans als der spezifisch göttlichen Rede ist für ihn eine zentrale Lehrauffassung.[10] ʿAbd al-Dschabbār negiert wie andere Muʿtaziliten die Möglichkeit, Gott zu sehen, mit der Begründung, dass sich Gott nicht auf einen Ort beschränke.[11]

Das muʿtazilitische Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit impliziert für ihn, dass keine der Handlungen Gottes böse ist.[12] Schmerz und Leiden, die der Mensch im Diesseits erlebt, sind für ihn von Nutzen, weil sie eine Belohnung im Jenseits nach sich ziehen.[13] Nach ʿAbd al-Dschabbārs Vorstellung nehmen nicht nur Menschen an der Auferstehung teil, sondern alle Lebewesen, die ein Anrecht auf Kompensation ihres Leidens im Diesseits erworben haben.[14]

Die religiösen Pflichten hat Gott den Menschen deswegen auferlegt, damit sie eine Gelegenheit haben, sich eine Belohnung im Jenseits zu verdienen. Die Motivation des Gläubigen, seine Pflicht zu erfüllen, kommt nach seiner Vorstellung durch göttlichen Gnadenerweis (luṭf). Wenn er diese Hilfe nicht leisten würde, wäre er ungerecht, was nach ʿAbd al-Dschabbār unvorstellbar wäre.[15] Diese Lehrauffassung ist rezipiertes Gedankengut von Bischr ibn al-Muʿtamir. ʿAbd al-Dschabbār betont sehr stark die Eigenverantwortlichkeit des Menschen. Von Bischr ibn al-Muʿtamir wiederum hat er hierbei die Lehre von der "Erzeugung" (taulīd) der Geschehensketten durch das Handeln des Menschen übernommen.[16] Sie impliziert, dass der Mensch auch für alle indirekten Folgen seiner Handlungen verantwortlich sei.

ʿAbd al-Dschabbār bekräftigt allgemein das Gesetz der Kausalität, doch kennt er auch das Prinzip göttlicher Gewohnheit (ʿāda), die wechseln kann.[17] Krankheiten, Schmerzen und alle anderen Formen von Leid werden ihm zufolge durch eben solche wechselnde Gewohnheit Gottes hervorgebracht.[18]

Die islamischen Rechtsquellen: Hadith und Idschmāʿ

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Nach ʿAbd al-Dschabbārs Definition ist die Sunna der Befehl des Propheten, der fortwährend ausgeführt werden muss, oder seine Handlung, die kontinuierlich befolgt werden muss. Dieser Name soll aber nur für das gelten, was als Aussage oder Handlung des Propheten erwiesen ist. Das, was als Berichte einzelner (aḫbār al-āḥād) überliefert werde, werde, wenn es die Bedingungen der Vertrauenswürdigkeit erfülle, werde zwar gemäß dem üblichen Sprachgebrauch (ʿalā waǧh at-taʿāruf) Sunna genannt. Nach ʿAbd al-Dschabbār ist es jedoch schimpflich (yaqbuḥ), wo eine Aussage oder Handlung als Sunna zu bezeichnen, weil man kein definitives Wissen darüber habe und so nicht davor sicher sei, diesbezüglich ein Lügner zu sein. Daher sei es von der Vernunft her beim Bericht des einzelnen (ḫabar al-wāḥid) nicht zulässig, zu sagen: „Der Prophet hat definitiv gesagt“, sondern nur „Es wird vom Propheten berichtet“.[19]

Für ʿAbd al-Dschabbār sind die meisten Hadithe somit aufgrund rationaler Überlegungen unsicher. Er lehnt den von einzelnen überlieferten Hadith an sich selbst ab, sondern aus der Überzeugung, dass viele Traditionen dieser Art unecht sind und ihre Überlieferer aufgrund ihrer Nachlässigkeit und ihres Mangels an Verständnis nicht verlässlich sind.[20] Die Idschmāʿ akzeptiert ʿAbd al-Dschabbār als Argument im Bereich des islamischen Religionsrechts.[21]

  • G.C. Anawati, R. Caspar und Mahmoud el-Khodeiri: “Une somme inédite de théologie moʿtazilite: le Moghni du Qâḍî ʿAbd al-Jabbâr” in Mélanges de l'Institut Dominicain d'Etudes Orientales du Caire (= MIDEO) 4 (1957) 281–316; 5 (1958) 417–424.
  • Binyamin Abrahamov: ʿAbd al-Jabbār’s theory of divine assistance (luṭf). In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam. 16 (1993) 41–58.
  • Marie Bernand: L’ Iǧmāʿ chez ʿAbd al-Ǧabbār et l’objection d’An-Naẓẓām. In: Studia Islamica. Band 30, 1969, S. 27–38.
  • Marie Bernand: Le problème de la connaissance d’après le Muġnī du cadi ʿAbd al-Ǧabbār. Algiers 1982.
  • Maha Elkaisy-Friemuth: God and humans in Islamic thought: ʿAbd al-Jabbār, Ibn Sīnā and al-Ghazālī. Routledge, London 2006.
  • Daniel Gimaret: Les Uṣūl al-ḫamsa du Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār et leurs commentaires. In: Annales Islamologiques. Band 15, 1979, S. 47–96.
  • Judith K. Hecker: Some notes on Kitāb al-tawlīd from the Mughnī of the Qādī ʿAbd al-Jabbār. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam. Band 2, 1980, S. 281–319.
  • Margaretha T. Heemskerk: Suffering in the Muʿtazilite theology. ʿAbd al-Jabbār’s teaching on pain and divine justice. Brill, Leiden 2000.
  • Margaretha T. Heemskerk: A Muʿtazilite refutation of Christianity and Judaism. Two fragments from ʿAbd al-Jabbār's al-Mughnī fī abwāb al-tawḥīd wa-'l-ʿadl. In: Barbara Roggema, Marcel Poorthuis, and Pim Valkenberg (Hrsg.): The three rings. Textual studies in the historical trialogue of Judaism, Christianity, and Islam. Leuven 2005, S. 183–201.
  • Margaretha T. Heemskerk: Artikel ʿAbd al-Jabbār b. Aḥmad al-Hamadhānī. In: Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Everett Rowson (Hrsg.): Encyclopaedia of Islam, THREE, zugänglich über Brill online.
  • George F. Hourani: Islamic rationalism. The ethics of ʿAbd al-Jabbār. Oxford 1971.
  • George F. Hourani: The rationalist ethics of ʿAbd al-Jabbār. In: S. M. Stern, Albert Hourani und Vivian Brown (Hrsg.): Islamic philosophy and the classical tradition. Essays presented by his friends and pupils to Richard Walzer on his seventieth birthday. Columbia SC 1972. S. 105–115.
  • Guy Monnot: Penseurs musulmans et religions iraniennes. ʿAbd al-Jabbār et ses devanciers. Paris 1974.
  • J. R. T. M. Peters: God’s created speech. A study in the speculative theology of the Muʿtazilî Qâḍî l-quḍât Abūl-Ḥasan ʿAbd al-Jabbâr ibn Aḥmad al-Hamadânî. Brill, Leiden 1976.
  • Shlomo Pines: Gospel quotations and cognate topics in ʿAbd al-Jabbār’s Tathbīt in relation to early Christian and Judaeo-Christian readings and traditions. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam. Band 9, 1987, S. 195–278.
  • Yusuf Rahman: The miraculous nature of Muslim scripture. A study of ʿAbd al-Jabbār’s Iʿjāz al-Qurʾān. In: Islamic Studies. Band 35, 1996, S. 409–424.
  • Gabriel Said Reynolds: A Muslim theologian in the sectarian milieu. ʿAbd al-Jabbār and the critique of Christian origins. Brill, Leiden und Boston 2004.
  • Michael Schwarz: "The qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār's refutation of the Ašʿarite doctrine of 'acquisition' (kasb)" in Israel Oriental Studies 2 (1976) 229–263.
  1. Abrahamov: ʿAbd al-Jabbār’s theory of divine assistance (luṭf). 1993, 43.
  2. Vgl. Hemskeerk in EI³.
  3. Vgl. Heemskerk 2000, 36.
  4. Vgl. Heemskerk: Suffering in the Muʿtazilite theology. 2000, S. 46.
  5. Der arabische Text wird bei Gimaret 79-96 wiedergegeben. Eine englische Übersetzung liefern Richard C. Martin und Mark W. Woodward in ihrem Buch Defenders of Reason in Islam. Muʿtazilism from Medieval School to Modern Symbol. Oxford: Oneworld Publ. 1997. S. 90–115.
  6. Heemskerk: Suffering in the Muʿtazilite theology. 2000, S. 3–5.
  7. Vgl. Heemskerk 2000, 2f.
  8. Das Digitalisat ist hier abrufbar.
  9. Vgl. Josef van Ess: Der Eine und das Andere: Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten. Bd. I. Walter de Gruyter, Berlin, 2011. S. 390–393.
  10. Vgl. dazu die Studie von Peters.
  11. Vgl. al-Muġnī fī abwāb at-tauḥīd wa-l-ʿadl. 4. Bd. Ruʾyat al-bārī. Kairo: Wizārat aṯ-Ṯaqāfa wa-ʾl-Irs̆ād al-Qaumī 1965. S. 42.
  12. Vgl. Hemskeerk in EI³.
  13. Vgl. Heemskerk 2000.
  14. Vgl. Heemskerk in EI³.
  15. Abrahamov: ʿAbd al-Jabbār’s theory of divine assistance (luṭf). 1993, 41–43.
  16. Vgl. dazu den Aufsatz von Hecker.
  17. Vgl. Ayman Shabana: Custom in Islamic law and theory: the development of the concepts of ʿurf and ʿādah in the Islamic legal tradition. New York 2010. S. 60–63.
  18. Vgl. Heemskerk in EI³.
  19. ʿAbd al-Ǧabbār ibn Aḥmad: Faḍl al-iʿtizāl wa-ṭabaqāt al-Muʿtazila. Ed. Fuʾād Saiyid. Tunis 1974. S. 185f.
  20. Binyamin Abrahamov: Islamic theology: traditionalism and rationalism. Edinburgh University Press, Edinburgh. S. 45f.
  21. Abd al-Ǧabbār: al-Muġnī fī abwāb at-tauḥīd wa-l-ʿadl. Kairo 1962. Bd. XVII, S. 160ff. Digitalisat