Alaisiagae
Alaisiagae („die Allgeehrten“) ist der Name oder Beiname der vier germanischen Göttinnen Baudihillia, Friagabis, Beda und Fimmilena, die in drei Inschriften aus dem nordenglischen Housesteads am Hadrianswall (Northumberland) überliefert sind.[1] Die Inschriften stammen aus dem 3. Jahrhundert von Votivsteinen des Tempelbezirks des römischen Kastells Vercovicium und wurden von zwei römischen Auxiliareinheiten, dem Cuneus Frisiorum Vercovicianorum und dem Numerus Hnaudifridi errichtet.
Die als Paar auftretenden Alaisiagae stehen in engem Verbund mit dem in einem Inschrift durch germanische Stifter aus der Civitas Tuihanti (die niederländische Region Twente) verehrten Gott Mars Thincsus. Besonders die Beda und Fimmilene als Begleiterinnen des Mars Thincsus sollen sowohl für die Alaisiagae als auch für den Mars Thincsus ihre Funktion als Thinggottheiten in der germanischen Volks- und Gerichtsversammlung anzeigen. Laut Forschungsansätze des 19. Jahrhunderts, die im 20. Jahrhundert vor allem durch Georges Dumézil vertreten wurden, haben ihre Namen Bezug auf das Rechtsinstitut des Things (deshalb Mars Thincsus) und besonders auf das mittelalterlichen Bodthing (zu Beda) und das Fimelthing (zu Fimmilena), die im westfriesischen Schulzenrecht des 12. Jahrhunderts erwähnt werden. Bodthing erscheint hier als "gebotenes Thing", Fimelthing als ein zusätzliches Afterding oder Ungehorsamsthing.[2][3][4] Der zeitliche Abstand zwischen dem römischen Zeitalter und den spätmittelalterlichen Quellen ist immerhin beträchtlich. Der norwegische Historiker Frode Iversen warnt deshalb vor voreiligen Schlussfolgerungen, meint aber die erwähnten Götternamen könnten tatsächlich auf den Existenz eines germanischen Systems von festen Rechtsversammlungen (Thincsus) hinweisen, mit Sondersitzungen (Beda) und informellen Sitzungen (Fimmilena).
Andere Deutungen versuchen in den Alaisiagae, ebenfalls nach Aspekten des Mars Thincsus, als germanischer Mars einen Gott des Kriegs (siehe Tiwas/Tyr), walkürenartige mythische Wesen oder auch bei der Friagabis (etymologisch bedingt) Segensgottheiten zu sehen. Siegfried Gutenbrunner identifizierte Baudihillia oder Beda zusätzlich als "Kampfdämon mit der Streitaxt", währenddessen es sich bei Friagibis oder Fimmilena um einen "Dämon des Regenerationskults mit dem Hiebmesser" handeln sollte. Seiner Ansicht nach ginge es tatsächlich um Walküren, die eine Funktion im Rechtssystem hatten.[5] Da in der heutigen deutschen Forschung für die letzteren Ansätze gewissermaßen ein Non liquet besteht, wird dem Rechtsbezug häufig den Vorrang gegeben. Dagegen hat man in der angelsächsischen Forschung (zum Beispiel Helga Ellis Davidson) die Walkürenthese weiterhin vertreten.[6] Neuere Ansätze versuchen die Alaisigae und verwandte Göttinnen vor allem als Matronen oder Urmütter in einem Ahnenkult zu deuten.[7]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Siegfried Gutenbrunner: Die germanischen Götternamen der antiken Inschriften. (= Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 24). Niemeyer, Halle/Saale 1936, S. 24–25, 41–49.
- Frode Iversen: Concilium and Pagus–Revisiting the Early Germanic Thing System of Northern Europe. In: Journal of the North Atlantic. Special Volume 5, 2013, S. 5–17.
- Hermann Reichert: Mythische Namen. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 20. de Gruyter, Berlin/New York 2002, ISBN 978-3-11-088551-4, S. 462–471 (kostenpflichtig Germanische Altertumskunde Online bei de Gruyter).
- Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 7–8, 44, 117, 265–266.
Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Roman Inscriptions of Britain Nr. 1576, 1593, 1594.
- ↑ Botding. In: Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Deutsches Rechtswörterbuch. Band 2, Heft 3 (bearbeitet von Eberhard von Künßberg). Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, Sp. 425 (adw.uni-heidelberg.de – Erscheinungsdatum 1932 oder 1933).
- ↑ Fimmelding. In: Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Deutsches Rechtswörterbuch. Band 3, Heft 4 (bearbeitet von Eberhard von Künßberg). Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, Sp. 537 (adw.uni-heidelberg.de – Erscheinungsdatum zwischen 1935 und 1938).
- ↑ Siehe auch Gerhard Köbler, Altfriesisches Wörterbuch. 4. Aufl. 2014, online unter den Buchstaben B und F, wo den Namen Fimelthing allerdings in Nachfolgung der altfriesischen Lexika mit Mittellateinisches fēmella „Frauenzimmerchen“ in Verbindung gebracht wird.
- ↑ Siegfried Gutenbrunner: Eddastudien II : Skuld helt skildi, en Skggul onnor. In: Arkiv för Nordisk Filologi. 71, 1956, S. 14–24, hier S. 21.
- ↑ Helga R. Ellis Davidson: Gods and Myths of Northern Europe. 1964; Ders.: Lost Beliefs of Northern Europe. Routledge, London / New York 1993, S. 48. Neuerdings: Philip A. Purser: Her Syndan Wælcyrian: Illuminating the Form and Function of the Valkyrie-Figure in the Literature, Mythology, and Social Consciousness of Anglo-Saxon England. Dissertation Georgia State University, 2013. (scholarworks.gsu.edu).
- ↑ Ton Derks, Gods, Temples and Ritual Practices: The Transformation of Religious Ideas and Values in Roman Gaul, 1998, S. 119–130. Daniël Augustinus Gerrets: Op de grens van land en water: dynamiek van landschap en samenleving in Frisia gedurende de Romeinse tijd en de Volksverhuizingstijd Groningen 2010, S. 132 (books.google.nl).