Art/Brut Center Gugging
Das Art/Brut Center Gugging ist ein Kulturzentrum, das sich auf den ehemaligen Klinikarealen der 2007 geschlossenen NÖ Landesnervenklinik Ost – Klosterneuburg-Gugging befindet.[1]
Gegenwart
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Art/Brut Center Gugging besteht aus folgenden Teilinstitutionen:
- Haus der Künstler
- museum gugging
- galerie gugging
- Offenes Atelier
In der gegenwärtigen Konstellation des Kulturzentrums greifen die historisch gewachsenen Teilinstitutionen ineinander: das Haus der Künstler ist eine vollbetreute Wohneinrichtung für Kunstschaffende mit Psychiatriehintergrund oder Behinderung. In der Wohneinrichtung wird die Basis für die künstlerische Tätigkeit der Bewohner geschaffen. Im Haus der Künstler und besonders im offenen Atelier werden Kunstschaffende individuell im schöpferischen Prozess unterstützt und gefördert. Das museum gugging und die galerie gugging bieten die Infrastruktur für einen den Kunstschaffenden und deren Werken entsprechenden professionellen Ausstellungsbetrieb.[2]
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Leo Navratil und die Zeichentest-Methode
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Jahr 1954 markierte den Beginn der Entstehung von Bildwerken in der damaligen psychiatrischen Klinik Heil- und Pflegeanstalt Gugging: Der Psychiater Leo Navratil führte mit seinen Patienten spezielle Zeichentests zu diagnostischen Zwecken durch.[3] Angeregt dazu wurde er durch die Auseinandersetzung mit der Methode „Personality projection in the drawing of a human figure: A method of personality investigation“[4] der amerikanischen Psychologin Karen Machover aus dem Jahr 1949. Navratil wurde überrascht von der Kreativität und dem künstlerischen Potenzial einzelner seiner Patienten. Dass es beinahe ausschließlich männliche Bildautoren sind, liegt daran, dass Navratil in den Männerabteilungen des psychiatrischen Krankenhauses tätig war.[5]
1965 veröffentlichte Navratil Schizophrenie und Kunst. Ein Beitrag zur Psychologie des Gestaltens.[6] Mit diesem Buch gelangten erstmals Abbildungen von Werken bzw. Lyrik aus der Klinik in Gugging an die Außenwelt. Die Publikation erregte das Interesse anderer Künstler dieser Zeit, wie beispielsweise Peter Pongratz oder Arnulf Rainer.[7] Sie suchten darauf die psychiatrische Klinik in Gugging auf, um die Schöpferinnen und Schöpfer der unter Pseudonymen veröffentlichten Werke aus Navratils Publikation kennenzulernen und um mehr Werke zu sehen.
Jean Dubuffet und Art brut
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Jahr 1969 kam es zum ersten Briefwechsel zwischen Navratil und Jean Dubuffet[5], unter anderem Begründer des Terminus Art brut. Nachdem Navratil im Rahmen dieser Korrespondenz zwei Radierungen von Johann Hauser an Dubuffet geschickt hatte, erwuchs Dubuffets Interesse an den Kunstschaffenden in der Anstalt in Gugging. In weiterer Folge kam es zur Zuteilung der Werke aus Gugging und der Kategorisierung zur Art brut durch Dubuffet selbst. Werke aus Gugging wurden ab diesem Zeitpunkt verstärkt innerhalb dieser Zuschreibung rezipiert, die im wissenschaftlichen Diskurs fortlaufend kritisch diskutiert wird.[8]
Die erste Ausstellung von Kunst aus Gugging: „Pareidolien“
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Jahr 1970 fand die erste Ausstellung von Kunstwerken aus Gugging statt. Schauplatz war die Galerie nächst St. Stephan im Stadtzentrum Wiens. Der Titel der Ausstellung lautete: „Pareidolien. Druckgraphik aus dem Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg.“[5] Gezeigt wurden 84 teilweise kolorierte Radierungen. Die Ausstellung war ein öffentlicher Erfolg. Das Interesse der Medien sowie der Besucherandrang waren hoch. 500 Blätter der gezeigten Graphiken wurden verkauft. Unter anderem erfolgte ein Ankauf von Werken aus Gugging durch die Albertina Wien.[5]
Gründung Haus der Künstler und Art/Brut Center Gugging
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Zu Beginn der achtziger Jahre wurden Umstrukturierungen im Krankenhaus in Gugging vorgenommen. Diese brachten eine entscheidende Chance für Navratil und eine Gruppe künstlerisch talentierter Patienten mit sich: 1981 konnte Navratil, unter entscheidender Initiative des Klinikdirektors Alois Marksteiner, das „Zentrum für Kunst-Psychotherapie“[9] bzw. das spätere Haus der Künstler gründen. 18 Patienten zogen in das Zentrum ein und hatten ab diesem Zeitpunkt die Möglichkeit in ihrem Wohnbereich ihren kreativen Tätigkeiten nachzugehen und dabei besondere Unterstützung zu erfahren.[3]
Im Jahr 1986 trat Johann Feilacher, ab diesem Zeitpunkt Leiter des hauses der künstler sowie späterer Gründer des Art/Brut Center Gugging und künstlerischer Direktor des museum gugging, Navratils Nachfolge an. Unter Feilachers Initiative begann man 1983 die Bemalung der Fassade der Wohneinrichtung. 1986 erfolgte durch ihn die Umbenennung des „Zentrums für Kunst-Psychotherapie“ in Haus der Künstler. Mit der Umbenennung initiierte Feilacher sowohl eine inhaltliche Umorientierung der Wohneinrichtung, als auch die Aufhebung des Patientenstatus – Menschen und Kunstschaffende wurden in den Mittelpunkt gerückt.[10]
1994 wurde die galerie gugging als Verkaufsgalerie gegründet. Ab dem Jahr 1997 begann man mit der Renovierung und dem Umbau des ehemaligen Kinderhauses der „NÖ Landes-Irrenanstalt Kierling Gugging“, um Galerieräumlichkeiten sowie Arbeits- und Lagerräume zu schaffen. Im Jahr 2006 wurde in diesen Räumlichkeiten schließlich das Art/Brut Center Gugging in seiner heutigen Form eröffnet.[10]
Künstler aus Gugging
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bekannteste Kunstschaffende aus Gugging der ersten Generation sind die Künstler Johann Hauser, Oswald Tschirtner, August Walla sowie der Lyriker Ernst Herbeck.
Die erste Generation der Künstler aus Gugging waren Patienten der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Der Psychiater Leo Navratil entdeckte zu Teilen deren künstlerisches Talent im Rahmen der von ihm in Gugging praktizierten Zeichentest-Methode[4] bzw. wurde er in Folge seiner Tätigkeit darauf aufmerksam gemacht. Das beinahe ausschließlich männliche Geschlecht der ersten Generation von Künstlern aus Gugging ist darauf zurückzuführen, dass Navratil in den Männerabteilungen des psychiatrischen Krankenhauses tätig war.[5]
Heute werden die Werke von Kunstschaffenden aus Gugging der ersten Generation und der gegenwärtigen, im Rahmen wechselnder Ausstellungen im museum gugging präsentiert bzw. von der galerie gugging vertreten. Werke aus Gugging sind darüber hinaus Teil internationaler privater und öffentlicher Sammlungen, wie des Philadelphia Museum of Art, des Milwaukee Art Museum oder des Setagaya Art Museum, Tokyo.
Folgende Künstler gingen aus Gugging hervor (Auswahl):
- Franz Artenjak (1920–1985)
- Josef Bachler (1914–1979)
- Laila Bachtiar (* 1971)
- Josef Blahaut (1922–unbekannt)
- Anton Dobay (1906–1986)
- Leonhard Fink (* 1982)
- Alois Fischbach (1926–1987)
- Johann Fischer (1919–2008)
- Franz Gableck (1910–1974)
- Johann Garber (* 1947)
- Johann Hauser (1926–1996)
- Ernst Herbeck (1920–1991)
- Helmut Hladisch (* 1961)
- Rudolf Horacek (1915–1986)
- Franz Kamlander (1920–1999)
- Franz Kernbeis (1935–2019)
- Fritz Koller (1929–1994)
- Johann Korec (1937–2008)
- Rudolf Limberger (1937–1988)
- Fritz Opitz (1911–1987)
- Otto Prinz (1906–1980)
- Heinrich Reisenbauer (* 1938)
- Arnold Schmidt (* 1959)
- Philipp Schöpke (1921–1998)
- Günther Schützenhöfer (* 1965)
- Jürgen Tauscher (* 1974)
- Oswald Tschirtner (1920–2007)
- Karl Vondal (1953–2024)
- August Walla (1936–2001)
- Erich Zittra (1915–1980)
Auszeichnungen und Ehrungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Jahr 1990 wurde die Gruppe der Künstler aus Gugging mit dem Oskar-Kokoschka Preis ausgezeichnet.
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kunstschaffende waren fasziniert von Kunst aus Gugging und suchen bis heute die kreative Auseinandersetzung damit: Arnulf Rainer, Alfred Hrdlicka, Eduard Angeli, Peter Pongratz, Franz Ringel, Loys Egg, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, André Heller waren früh an einer Auseinandersetzung interessiert.
Vermittelt durch André Heller besuchte im Jahr 1994 David Bowie gemeinsam mit Brian Eno das haus der künstler in Gugging. Der Besuch wurde von der Fotografin Christine de Grancy dokumentiert.[11] Im Jahr darauf erschien in Zusammenarbeit mit Eno Bowies Album 1. Outside, das sich mit menschlicher Existenz abseits der Norm auseinandersetzt.
Der Modeschöpfer Christopher Kane kreierte im Jahr 2015 eine Kollektion, zu der er sich vor Ort in Gugging vor allem von den Werken von Johann Korec und Heinrich Reisenbauer inspirieren ließ. Die aus diesem Besuch resultierende Pre-Fall Collection[12] wurde im Jänner 2017 erstmals in Kanes Showroom in Paris präsentiert.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Leo Navratil: Die Künstler aus Gugging. Medusa Verlagsgesellschaft, Wien/Berlin 1983, ISBN 3-85446-080-5.
- Gerhard Roth: Das Haus der schlafenden Vernunft. Mit Fotos von Christine de Grancy, In: ZEITmagazin, 1988, S. 32–45.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Sabine Plakolm-Forsthuber: Eine vollkommene Irrenanstalt. Zur Baugeschichte der "Irrenanstalt Kierling-Gugging". In: Stadtgemeinde Klosterneuburg, Stadtarchiv/Stadtmuseum, in Kooperation mit dem Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege der TU Wien, dem Institute of Science and Technology Austria. (Hrsg.): Klosterneuburg. Geschichte und Kultur; Von der Anstalt zum Campus. Geschichte und Architektur des Krankenhauses in Maria Gugging. 1. Auflage. Band 3. Wien 2009, ISBN 978-3-85028-489-9.
- ↑ Schwarz, Lisa: „Eine Gratwanderung nach Gugging...“ Gugginger Kunst in zweiter Generation. In: Diplomarbeit, Universitätsbibliothek Universität Wien. Universitätsbibliothek Wien, 2010, abgerufen am 30. August 2018.
- ↑ a b Navratil, Leo: Die Gugginger Methode : Kunst in der Psychiatrie. 1. Auflage. G. Fischer, Ulm 1998, ISBN 3-437-51036-3, S. 366.
- ↑ a b Machover, Karen: Personality projection in the drawing of a human figure (A method of personality investigation). In: Harrower, Molly (Hrsg.): American Lecture Series. 2. Auflage. Band 25. Charles C Thomas, Springfield Illinois USA 1949.
- ↑ a b c d e Leo Navratil: Gugging 1946–1986 / 2, Die Künstler und ihre Werke. Brandstätter, Wien 1997, ISBN 3-85447-717-1, S. 354–355.
- ↑ Navratil, Leo: Schizophrenie und Kunst. Ein Beitrag zur Psychologie des Gestaltens. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1965.
- ↑ Bogaczyk-Vormayr, Malgorzata, 1979-, Neumaier, Otto, 1951-: "Outsider art" : interdisziplinäre Perspektiven einer Kunstform. Wien 2017, ISBN 978-3-643-50831-7.
- ↑ Art Brut? Outsider Art? In: artlog.net. Archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 31. August 2018; abgerufen am 19. September 2018. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Navratil, Leo: Die Künstler aus Gugging. [2. Aufl.]. Medusa, Wien 1983, ISBN 3-85446-080-5, S. 32.
- ↑ a b Feilacher, Johann: Kunst aus Gugging von 1970 bis zur Gegenwart. In: Feilacher, Johann; Ansperger, Nina (Hrsg.): gehirngefühl.! : Kunst aus Gugging von 1970 bis zur Gegenwart. Residenz Verlag, Salzburg – Wien 2018, ISBN 978-3-7017-3450-4, S. 21–23.
- ↑ Bowies Nachmittagskaffee in Gugging - derStandard.de. Abgerufen am 3. Oktober 2018.
- ↑ Christopher Kane Pre-Fall 2017 Fashion Show. In: Vogue. Abgerufen am 3. Oktober 2018.
Koordinaten: 48° 18′ 47,4″ N, 16° 15′ 29,9″ O