Altorientalistik
Die Altorientalistik ist die Wissenschaft von Sprache und Kultur des Alten Orients. Ihr Forschungsinteresse reicht vom Auftreten der ersten Keilschrifttexte im späten 4. Jahrtausend v. Chr. bis zu den letzten überlieferten Keilschrifttexten im ersten Jahrhundert n. Chr. Da die ersten größeren Textfunde aus dem antiken Assyrien stammten, wird die Altorientalistik in Deutschland traditionell auch als Assyriologie bezeichnet. Als Begründer der modernen Assyriologie gilt Henry Creswicke Rawlinson.[1] Der geographische Forschungsraum der Altorientalistik umfasst klassisch die Gebiete des antiken Mesopotamien (heute auf dem Gebiet von Irak und Syrien) sowie der levantinischen Küste (heute Syrien und Libanon). Eher zu den Randgebieten des Forschungsinteresses gehören Kleinasien (vor allem Anatolien) und Persien (Iran) sowie für die sogenannte Amarna-Zeit auch Ägypten.
In der deutschen Hochschulpolitik ist die Altorientalistik als Kleines Fach eingestuft.[2]
Charakteristik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Altorientalistik ist eine philologisch-historische Disziplin. Ihre Hauptquelle sind etwa 550.000 Texte, die mit Keilschrift auf Tontafeln geschrieben die Jahrtausende überdauert haben. Diese Keilschrifttexte stellen neben dem altägyptischen Textkorpus das älteste und nach dem altgriechischen das umfangreichste Textmaterial des gesamten Altertums dar. Der größte Teil dieser Texte liegt allerdings noch unpubliziert in zahlreichen Museen und Privatsammlungen der Welt; archäologische Ausgrabungen bringen zudem jährlich neue Tontafeln zum Vorschein, so dass die Zahl der Texte immer weiter wächst.
Die Untersuchung der materiellen Zeugnisse des Alten Orients ist Aufgabe der Vorderasiatischen Archäologie. Das Alte Ägypten wird von der Ägyptologie behandelt, auch wenn unter der Bezeichnung Alter Orient im weiteren Sinne bisweilen das alte Vorderasien und das alte Ägypten zusammengefasst werden. Das Alte Palästina, die Welt des Alten Testaments, obwohl historisch und sachlich zum Alten Orient gehörig, wird traditionellerweise von der (Alttestamentlichen) Theologie/Hebraistik untersucht.
Teilgebiete der Altorientalistik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Altorientalistik gliedert sich in folgende nach den Sprachen definierte Teilgebiete (zur umfassenden Übersicht und Klassifikation siehe Altorientalische Sprachen):
Akkadisch (Akkadistik) ist die (ost)semitische Sprache der Babylonier und Assyrer, einst in Mesopotamien (Irak, Syrien) gesprochen, darüber hinaus im gesamten Vorderasien gebräuchlich und vom 3. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. durchgehend belegt. Das Akkadische ist geographisch und chronologisch die am weitesten verbreitete und nach der Zahl und Diversität der Texte die bestbezeugte Sprache des Alten Orients.
Sumerisch (Sumerologie) ist die isolierte – also mit keiner anderen Sprache verwandte –, älteste überlieferte Sprache der Menschheit, die Sprache der Schrifterfinder aus dem südlichsten Viertel Mesopotamiens, vom 3. bis zum frühen 2. Jahrtausend v. Chr. (und im Kult und der Wissenschaft auch noch später) belegt.
Hethitisch (Hethitologie) ist die älteste belegte indogermanische Sprache der Bewohner Kleinasiens (Türkei) aus der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Neben dem Hethitischen stehen die nur unzureichend bekannten Sprachen Luwisch (in Keilschrift sowie einer eigenen Hieroglyphen-Schrift geschrieben), Palaisch (beide zusammen mit dem Hethitischen Mitglieder des anatolischen Sprachzweigs) sowie Hattisch (eine isolierte, mit keiner anderen verwandte Sprache).
Amurritisch, Ugaritisch, Phönizisch und Altaramäisch (Aramäisch) sind vier miteinander eng verwandte, (nordwest)semitische Sprachen aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr., gesprochen in Syrien. Amurritisch ist nur durch eine sehr große Zahl von Personennamen und einige Lehnwörter im Akkadischen rekonstruierbar. Die anderen drei Sprachen sind durch Texte in den ältesten Alphabeten der Welt überliefert. Eng verwandt ist auch das Althebräische, die Sprache des Alten Testaments der Bibel; Hebräisch und Phönizisch haben sich wahrscheinlich sogar erst um 1000 v. Chr. auseinanderentwickelt.[3]
Hurritisch und Urartäisch sind zwei miteinander verwandte, aber sonst an keine andere Sprache (außer vielleicht das Kassitische) genetisch anbindbare Idiome, erstere im 3. und vor allem 2. Jahrtausend in Mesopotamien (Irak, Syrien) und Kleinasien (Türkei), letztere im 1. Jahrtausend v. Chr. in der Südosttürkei und Armenien gesprochen.
Elamisch ist eine isolierte Sprache aus dem Südwesten Irans, vom 3. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr., allerdings etwas ungleichmäßig belegt.
Altpersisch ist die indogermanische (genauer indoiranische) Sprache des Achämenidenreichs aus der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr., in einer eigenen Keil-Silbenschrift geschrieben.
Auf der Basis der Erforschung von Sprachen und Schriften behandelt die Altorientalistik alle Aspekte der altorientalischen Kulturen, soweit sie nicht primär materieller Quellen bedürfen: politische Geschichte, Alltagsgeschichte, Religionsgeschichte, Rechtsgeschichte, Literaturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Gender-Studien etc.
Analog zu der Entwicklung der Digital Humanities und begleitend zur Digitalisierung des Fachs werden gemeinsam mit der Informatik computergestützte Methoden entwickelt, deren Wurzeln in den späten 1960er Jahren in den Arbeiten von Gerhard Sperl zu finden sind.[4] Dieser Bereich ist als Digital Assyriology wie auch Digital Ancient Near Eastern Studies (DANES) bekannt. 2023 wurde ein freier Datensatz für Künstliche Intelligenz publiziert und damit Schriftzeichen in Photographien und 3D-Modellen erkannt.[5]
Lehre
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Altorientalistik wird an den folgenden deutschen Universitäten unterrichtet:
- Freie Universität Berlin,
- Universität Freiburg
- Universität Göttingen
- Universität Heidelberg mit der Uruk-Warka-Sammlung
- Universität Jena mit der staatlichen Hilprecht-Sammlung vorderasiatischer Altertümer
- Universität Leipzig,
- Universität Mainz
- Universität Marburg
- Universität München
- Universität Münster
- Universität Tübingen
- Universität Würzburg
Für die altorientalische bzw. vorderasiatische Archäologie ist darüber hinaus das Deutsche Archäologische Institut (DAI) sowie die Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG) zu nennen. In Österreich wird Altorientalistik an den Universitäten Wien und Innsbruck gelehrt, in der Schweiz an den Universitäten Bern und Genf, in den Niederlanden an der Universität Leiden. Vgl. renommierte Forscher.
Altorientalisten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie. Begründet von Erich Ebeling und Bruno Meissner, fortgeführt von Ernst F. Weidner, Wolfram von Soden und Dietz Otto Edzard, herausgegeben von Michael P. Streck. 15 Bände, Berlin 1932–2018 (das große Referenzwerk der Disziplin).
- Eva Cancik-Kirschbaum: Die Assyrer. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. Beck, München 2003.
- Elena Cassin, Jean Bottéro, Jean Vercoutter (Hgg.): Die Altorientalischen Reiche. Fischer, Frankfurt/M. 2003 (Fischer Weltgeschichte; Bände 2 bis 4)
- Vom Paläolithikum bis zur Mitte des 2. Jahrtausends.
- Das Ende des 2. Jahrtausends.
- Die erste Hälfte des 1. Jahrtausends.
- Iorweth E. Edwards u. a. (Hrsg.): The Cambridge Ancient History. 2., grundlegend überarbeitete Auflage. 14 Bände, teils in Teilbänden. Cambridge University Press, Cambridge 1970–2005.
- Dietz Otto Edzard: Geschichte Mesopotamiens. Von den Sumerern bis zu Alexander dem Großen. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51664-5.
- Brigitte Groneberg: Die Götter des Zweistromlandes. Kulte, Mythen, Epen. Artemis und Winkler, Düsseldorf 2004, ISBN 3-7608-2306-8.
- Marlies Heinz: Altsyrien und Libanon. Geschichte, Wirtschaft und Kultur vom Neolithikum bis Nebukadnezar. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-13280-7.
- Barthel Hrouda (Hrsg.): Der Alte Orient. Geschichte und Kultur aus dem alten Vorderasien. Bassermann, München 2003, ISBN 3-8094-1570-7.
- Manfred Krebernik: Götter und Mythen des Alten Orients. Beck, München 2012.
- Michael Jursa: Die Babylonier. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. Beck, München 2004.
- Hans J. Nissen: Geschichte Alt-Vorderasiens. Oldenbourg, München 1999 und 2011, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte. Band 25), ISBN 978-3-486-59223-8.
- Astrid Nunn: Alltag im alten Orient. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2006 (Antike Welt, Sonderheft; Zaberns Bildbände zur Archäologie) ISBN 3-8053-3654-3.
- Mirjo Salvini: Geschichte und Kultur der Urartäer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-01870-2.
- Jack M. Sasson (Hrsg.): Civilizations of the Ancient Near East. Scribner, New York 1995, ISBN 0-684-19279-9 (4 Bde.)
- Wolfram von Soden: Der Alte Orient. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, erw. Sonderausgabe der 2., unveränderten Auflage 1992, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-18558-7.
- Michael P. Streck (Hrsg.): Sprachen des Alten Orients. 3. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, ISBN 3-534-17996-X.
- Michael P. Streck: Großes Fach Altorientalistik. Der Umfang des keilschriftlichen Textkorpus. In: Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft. Band 142, 2010, (recte 2011), S. 35–58.
- Klaas R. Veenhof: Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexanders des Großen (Grundrisse zum Alten Testament, ATD Ergänzungsreihe Bd. 11). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-51685-1.
- Josef Wiesehöfer: Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr. Edition Albatros, Düsseldorf 2005, ISBN 3-491-96151-3.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Universität Tübingen – Linkliste Altorientalistik
- Was ist Altorientalistik? – Porträtfilm zum Jahr der Geisteswissenschaften
- Fachdefinition – Definition des Faches, die obigem Text zugrunde liegt
- Open Digital Ancient Near Eastern Studies (OpenDANES)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ George A. Miller: Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Grabowski und Christiane Fellbaum. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1993; Lizenzausgabe: Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1995; 2. Auflage ebenda 1996, ISBN 3-86150-115-5, S. 67.
- ↑ siehe Seite der Arbeitsstelle Kleine Fächer zur Altorientalistik ( des vom 8. September 2022 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Noch der Gezer-Kalender, wahrscheinlich ins 10. Jahrhundert v. Chr. zu datieren, ist sprachlich nicht ganz eindeutig zuzuordnen, vgl. Dennis Pardee: A Brief Case for Phoenician as the Language of the “Gezer Calendar”, in: Robert D. Holmstedt, Aaron Schade (Hrsg.): Linguistic Studies in Phoenician in Memory of J. Brian Peckham. Eisenbrauns, Winona Lake 2013, S. 226–246.
- ↑ Bartosz Bogacz, Hubert Mara: Digital Assyriology — Advances in Visual Cuneiform Analysis. In: Journal on Computing and Cultural Heritage. Band 15, Nr. 2. Association for Computing Machinery (ACM), 2022, S. 1–22, doi:10.1145/3491239.
- ↑ Ernst Stötzner, Timo Homburg and Hubert Mara: CNN based Cuneiform Sign Detection Learned from Annotated 3D Renderings and Mapped Photographs with Illumination Augmentation. In: Proceedings of the International Conference on Computer Vision (ICCV). Paris, France 2023, doi:10.48550/arXiv.2308.11277, arxiv:2308.11277.