Attische Seuche

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Attische Seuche
Attisches Grabrelief eines Soldaten mit seiner Frau, um 400 v. Chr.
Daten
Krankheit Infektionskrankheit
Krankheitserreger unbekannt
Beginn 430 v. Chr.
Ende 426 v. Chr.

Die Attische Seuche, genannt auch „Pest von Athen“, war eine Epidemie, die in den Jahren 430–426 v. Chr. während des Peloponnesischen Krieges in Athen, dem Hauptort der antiken Region Attika wütete. Der Krankheitserreger ist unbekannt.

Über den Verlauf dieser Epidemie berichtet der griechische Historiker Thukydides, der selbst daran erkrankte. Sie wird daher auch als Pest des Thukydides oder Seuche des Thukydides bezeichnet. Das lateinische Wort pestis wie auch das altgriechische λοιμός loimós (übersetzt als „Pest, Seuche, jede ansteckende, schnell um sich greifende, tödliche Krankheit“)[1] bezeichnet allgemein eine Infektionskrankheit im Gegensatz zu dem deutschen Wort „Pest“, das ein Lehnwort aus dem Lateinischen ist, sich aber auf das konkrete Pestbakterium bezieht. Kenntnisse über Infektionskrankheiten waren in der Antike vorhanden.[2] Seuchen wurden teilweise auch als „Strafe eines Gottes“ angesehen.

Geschichte und Auswirkungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Attische Seuche traf Athen in den Jahren 430–426 v. Chr. zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, der 431 v. Chr. begann, zu Krisen der attischen Demokratie führte und mit der Kapitulation Athens 404 v. Chr. endete.

Der delisch-attische Seebund, kurz vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges

Über die Ereignisse und die Epidemie während der Belagerung Athens durch die Spartaner berichten die genauen Aufzeichnungen des griechischen Historikers Thukydides, der selbst erkrankte. Thukydides, der attischer Bürger und beim Ausbruch der Seuche mindestens 24 Jahre alt war, schildert deren Verlauf im zweiten seiner acht Bücher über den Peloponnesischen Krieg (Kapitel 47 bis 54)[3] ausführlich. Er beschreibt am eigenen Leib erlebte sowie beobachtete Krankheitszeichen und bemerkte, dass keiner, der die Krankheit überstanden hatte, sie ein zweites Mal bekam; dies kann als erster schriftlicher Hinweis in der westlichen Welt[4] auf ein immunologisches Gedächtnis gesehen werden:

«δὶς γὰρ τὸν αὐτόν, ὥστε καὶ κτείνειν, οὐκ ἐπελάμβανεν.»

„[…] denn zweimal über denselben fiel die Krankheit nicht her, jedenfalls nicht mit tödlichem Ausgang.“

Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch II 51,6, nach der Übersetzung von Michael Weißenberger (de Gruyter, Berlin/Boston 2017, S. 375).[5]

Der Attischen Seuche fiel etwa ein Viertel der Athener Bevölkerung zum Opfer, darunter im Jahr 429 v. Chr. auch Perikles. Thukydides berichtet, dass die einen gestorben seien, weil sich aus Angst vor Infektion niemand um sie gekümmert habe, während andere trotz aller denkbaren medizinischen Betreuung verstarben, da die bekannten Medikamente nicht wirksam waren.[6] Auch Tiere seien von der Krankheit betroffen gewesen. Die Auswirkungen der Seuche werden für die Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg verantwortlich gemacht.

Auf der Suche nach vermeintlich Schuldigen entwickelte sich das Gerücht, die Spartaner hätten die Brunnen vergiftet. Zugleich gab es die Ansicht, Seeleute hätten die Krankheit aus dem Orient eingeschleppt. Verbreitet war auch die Deutung als göttliche Strafe.[7]

Die Krankheit trat – dem Bericht des Thukydides zufolge – plötzlich bei Menschen auf, die vorher noch bei bester Gesundheit gewesen waren, und schritt von oben nach unten fort, indem es zu Beginn zu einem starken (inneren) Hitzegefühl im Kopf mit entzündeten und geröteten Augen kam und sich Schlund und Zunge wie roh anfühlten. Es folgten Niesen, Heiserkeit und Husten sowie grippale Anzeichen. Der Atem kam dabei übelriechend und unregelmäßig, die Erkrankung griff auf den gesamten Körper über, und wenn sie den Magen erreicht hatte, drehte es diesen förmlich um, sodass unter schrecklicher Übelkeit Galle in allen damals unterschiedenen Formen erbrochen wurde. Schließlich erfasste die Krankheit die Schamteile und Gliedmaßen bis in die Finger- und Zehenspitzen. Viele seien nur davongekommen, weil sie diese verloren hätten, während andere wiederum erblindet seien oder ihr Gedächtnis verloren hätten.

Der Körper habe sich nicht übermäßig heiß angefühlt, sei nur leicht gerötet und von Bläschen und Geschwüren übersät gewesen. Innerlich hätten die Erkrankten aber ein heftiges Feuer in sich brennen gespürt, sodass einige von unstillbarem Durst, Schlaflosigkeit und Unruhe getrieben in Brunnen gesprungen seien. Im häufigeren Fall sei man, ohne ganz entkräftet zu sein, nach sechs oder acht Tagen gestorben, seltener sei es nach einer vorübergehenden Erholung zu einem Übergreifen auf den Unterleib mit starker Geschwürbildung und Auftreten einer Diarrhoe gekommen, sodass diese Erkrankten an der daraus folgenden Erschöpfung starben.

Ein „hohler Schluckauf“ wurde als kennzeichnend bei den meisten Erkrankten beschrieben, wodurch heftige Krämpfe ausgelöst wurden und der bei den einen nach Abklingen der Symptome, bei den anderen noch sehr viel später aufgetreten sei.

Der Versuch, die von Thukydides geschilderten Symptome mit einer heute bekannten Krankheit in Zusammenhang zu bringen, hat bis 2006 zu mehr als 200 Veröffentlichungen zum Thema mit mindestens 29 „Verdachtsdiagnosen“ geführt.[8]

Als ursächlich wurden bislang unter anderem folgende Krankheitserreger angegeben:

Als Möglichkeit in Erwägung gezogen werden muss auch, dass es sich um eine heute nicht mehr auftretende Seuche handelte. Ebenso wird eine Identifizierung dadurch erschwert, dass heute bekannte Krankheiten durchaus in der Zwischenzeit Veränderungen hinsichtlich ihrer geographischen Verbreitung, Symptomatik, Übertragung wie auch ihrer Virulenz durchgemacht haben können. Auch ein Zusammentreffen bzw. eine Überlagerung zweier Seuchen wurde als mögliche Erklärung diskutiert. Die früher geäußerte Hypothese, Ergotismus, eine Vergiftung mit Mutterkorn, könne bei der Epidemie (neben einer anderen Krankheit) zumindest mitbeteiligt gewesen sein, wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts als extrem unwahrscheinlich verworfen.

2005 wurde über die Ausgrabung eines Massengrabes mit 150 Leichen im antiken Friedhof von Kerameikos in Athen berichtet. Die Datierung des Grabes auf das 5. Jahrhundert v. Chr. und die Anordnung der Begrabenen sprechen für die Vermutung, dass es sich hier um Opfer der Seuche handeln kann. Von drei geborgenen Zähnen wurde die Zahnpulpa, die wegen ihrer Stabilität über die Jahrhunderte, ihrer (ehemals) guten Gefäßversorgung und ihrer primären Keimfreiheit als geeignetes Material erschien, mittels der Polymerase-Kettenreaktion auf DNA-Fragmente verschiedener Mikroben untersucht. Während die Suche nach sechs potentiellen anderen Erregern ergebnislos verlief, konnte Erbmaterial mit Ähnlichkeit eines Stammes von Salmonella enterica serovar typhi nachgewiesen werden.[10] Die Schlussfolgerung der Autoren, dass damit Typhus als wahrscheinliche Ursache der Attischen Seuche naheliege, wurde allerdings von kritischen Kommentatoren nicht geteilt.[11] So wurde insbesondere bemängelt, dass alleine die Tatsache, dass in den untersuchten Proben Salmonellen-DNA gefunden wurde, keineswegs Todesursächlichkeit bedingt. Auch die Möglichkeit, dass es sich bei diesem Befund um eine Kontamination durch Bodenbakterien handeln könnte, wird diskutiert. Zudem sind die durch Thukydides beschriebenen Symptome nur teilweise mit diesem Untersuchungsergebnis in Einklang zu bringen.

  • F. v. Bormann: Attische Seuche 430–426 v. Zw. In: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. Heft 136. Springer, Berlin/Heidelberg 1952, ISSN 0340-1782, S. 67–84 (Artikelvorschau).
  • Wilhelm Ebstein: Die Pest des Thukydides (Die Attische Seuche.) Eine geschichtlich-medicinische Studie. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1899 (Digitalisat im Internet Archive).
  • Horst Habs: Die sogenannte Pest des Thukydides. Versuch einer epidemiologischen Analyse. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1982, ISBN 3-540-11941-8.
  • Karl-Heinz Leven: Thukydides und die „Pest“ in Athen. In: Medizinhistorisches Journal. Band 26, Heft 1/2. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1991, ISSN 0025-8431, S. 128–160.
  • Ferdinand Peter Moog: Galen liest „Klassiker“ – Fragmente der schöngeistigen Literatur des Altertums im Werk des Pergameners. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2020), S. 7–24, hier: S. 16 (Der Historiker Thukydides).
  • Alexander Rubel: Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen Krieges. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-534-15206-9.
  • Winfried Schmitz: Göttliche Strafe oder medizinisches Geschehen – Deutungen und Diagnosen der ‚Pest‘ in Athen (430–426 v. Chr.). In: Mischa Meier (Hrsg.): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, ISBN 3-608-94359-5, S. 44–65.
Commons: Attische Seuche – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Wilhelm Pape, Max Sengebusch (Bearb.): Handwörterbuch der griechischen Sprache. 3. Auflage, 6. Abdruck. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914 (zeno.org [abgerufen am 3. Mai 2021]).
  2. Beispielsweise Lukrez, de rerum natura 6,1090ff. mit explizitem Bezug auf die Attische Seuche. Thukydides 2,48,3 enthält sich der Spekulation über die Genese und verweist stattdessen auf zeitgenössische medizinische Abhandlungen. Diodor 12,58–59 macht das feuchte Klima für die Genese verantwortlich.
  3. Thukydides 2,47-55 (englisch) (Memento vom 16. Mai 2009 im Internet Archive)
  4. Francesco M. Galassi, Luigi Ingaliso, Elena Varotto: The Covid-19 pandemic as a communication responsibility and opportunity for paleopathology. In: Flinders University. Juni 2020, abgerufen am 3. Mai 2021 (englisch).
  5. Ιστορία του Πελοποννησιακού Πολέμου/Β
  6. Thuk. 2,47–54, Übersetzung von Richard Crawley bei Livius.org.
  7. Berthold Seewald: „Die meisten gingen an innerer Hitze zugrunde“ www.welt.de, 15. Januar 2020
  8. Thomas E. Morgan: Plague or Poetry? Thucydides on the Epidemic at Athens. In: Transactions of the American Philological Association. Vol. 124, 1994, S. 197–209; Manolis J. Papagrigorakis, Christos Yapijakis, Philippos N. Synodinos, Effie Baziotopoulou-Valavani: DNA examination of ancient dental pulp incriminates typhoid fever as a probable cause of the Plague of Athens. In: International Journal of Infectious Diseases. Band 10, 2006, S. 206–214 PMID 16412683; Horst Habs: Die sogenannte Pest des Thukydides. Versuch einer epidemiologischen Analyse. Vorgetragen in der Sitzung vom 14. November 1981 (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse. Nr. 6, 1982). Springer Verlag, Berlin/Heidelberg 1982.
  9. P. E. Olson, C. S. Hames u. a.: The Thucydides Syndrome: Ebola Déjà Vu? (or Ebola Reemergent?) In: Emerging Infectious Diseases. Band 2, Nummer 2, 1996 doi:10.3201/eid0202.960220
  10. Manolis J. Papagrigorakis, Christos Yapijakis, Philippos N. Synodinos, Effie Baziotopoulou-Valavani: DNA examination of ancient dental pulp incriminates typhoid fever as a probable cause of the Plague of Athens. In: International Journal of Infectious Diseases. Band 10, 2006, S. 206–214 PMID 16412683
  11. Beth Shapiro, Andrew Rambaut, M. Thomas P. Gilbert: No proof that typhoid caused the Plague of Athens. In: International Journal of Infectious Diseases. Band 10, 2006, S. 334–335 PMID 16730469.