Avunkulat
Avunkulat (von lateinisch avunculus „Muttersbruder“) bezeichnet in der Ethnosoziologie eine Familienform und gemeinschaftliche Organisationsweise, bei welcher der Onkel mütterlicherseits (der Oheim: Bruder der Mutter) die soziale Vaterschaft für die Kinder seiner Schwester übernimmt;[1] oft ziehen ihre Kinder auch zu ihm (Avunkulokalität) und erben schließlich seinen Status und Besitz, während seine eigenen Kinder bei ihrer Mutter oder deren Bruder verbleiben. Das Avunkulat wurde erstmals bei den nordamerikanischen Indianer-Stämmen der Huronen beobachtet.
Soziale Funktion
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Avunkulat als Form der Elternschaft findet sich weltweit bei vielen der rund 160 Ethnien und indigenen Völkern, die sich nach der mütterseitigen Abstammung organisieren (matrilinear).[2] Bei ihnen spielt der biologische Vater bei der Erziehung und Entwicklung der Kinder keine oder nur eine untergeordnete Rolle und hat somit keine Autorität über seine leiblichen Kinder. In matrilinearen Verwandtschaftssystemen gelten Kinder in jedem Fall als mit ihrer Mutter verwandt, jedoch nicht zwangsläufig auch mit ihrem Vater (dem Partner oder Ehemann ihrer Mutter). Insbesondere in Gesellschaften mit freizügigem Sexualleben und Vielehen ist die genetische Verwandtschaft eines Vaters mit seinen Kindern nicht zu garantieren. Zur Förderung des eigenen Familienverbandes (Clan, Lineage) ist es infolgedessen von Vorteil, die blutsverwandten Kinder der eigenen Schwestern zu unterstützen.[3][4]
Interpretation von Lévi-Strauss
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss argumentierte dagegen 1945 in seinen Analysen anderer Ethnien stark gegen eine genetisch oder psychologisch reduzierende Interpretation. Stattdessen plädiert er dafür, kulturelle Phänomene als Zeichen geistigen Lebens zu sehen. Der menschliche Geist ordnet seiner Ansicht nach mittels Dichotomien und Kategorien die Welt zu einem verständlichen System („wildes Denken“). Auch das Avunkulat will Levi-Strauss im Systemzusammenhang der Familie gedeutet wissen. In seinen Beispielen stellt er heraus, dass die besondere Stellung des Onkels mütterlicherseits gegenüber seinem Neffen, wie sie in vielen Indianerstämmen anzutreffen ist (oder war), jeweils in umgekehrt symmetrischer Weise zu der Beziehung zwischen Frau und Mann oder Schwester und Bruder in Verbindung steht. Dagegen ist in Gesellschaften, in denen Schwester und Bruder mit einem Tabu im Umgang belegt sind, die Beziehung zwischen Ehepartnern sehr vertraulich. Andersherum sind in Gesellschaften, in denen Schwester und Bruder sehr eng miteinander verbunden sind, die Ehen oft durch großes Misstrauen gekennzeichnet. Erst in diesem größeren Zusammenhang kann laut Levi-Strauss die Rolle des Mutterbruders verstanden werden. Kritisiert werden Levi-Strauss’ Thesen über die elementaren Verwandtschaftsbeziehungen bezüglich ihrer Trennung zwischen biologischer Blutsverwandtschaft und sozialer Verwandtschaft, da die biologischen Verwandtschaften ihrerseits ein soziales Konstrukt aus der Sicht der jeweils analysierenden Gesellschaft darstellen.[5]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Avunkulat bei den Khasi (matrilineare Ethnie in Nordostindien)
- Verwandtenselektion (soziobiologische Bevorzugung naher Blutsverwandter)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Claude Lévi-Strauss: Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie. In: Derselbe: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt/M. 1967, S. 43–67 (französisch; erstveröffentlicht 1945).
- Alfred Adler: Avunculat et mariage matrilatéral en Afrique noire. In: L' homme: revue française d'anthropologie. Nr. 16, 1976, S. 7–27 (französisch).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hans-Rudolf Wicker: Die Allianztheorie von Claude Lévi-Strauss (Avunkulat). (PDF: 387 kB, 47 Seiten) In: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 18/19 und 30/31 (überarbeitete Version).
- Jürgen Kiefer, Tim Klauck, Hakan Gündüz Die soziobiologische Kulturtheorie (Avunkulat der Huronen). ( vom 27. Februar 2010 im Internet Archive) Universität Saarland, 2003 (Seminarunterlagen).
- Lukas, Schindler, Stockinger: Avunkulokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997 (vertiefende Anmerkungen, mit Quellenangaben).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Avunkulat. In: Duden.de. Abgerufen am 11. Juli 2020; Zitat: „Avunkulat, das […] Vorrecht des Bruders der Mutter eines Kindes gegenüber dessen Vater in Kulturen mit Mutterrecht (z. B. bei Pflanzervölkern) […] Herkunft: lateinisch-neulateinisch […] Plural: die Avunkulate“.
- ↑
J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (englisch; PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller der damals weltweit erfassten 1267 Ethnien);
Zitat: „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal“ (= 46,1% patrilinear; 12,6% matrilinear).
Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt. Begründet wurde der Ethnographic Atlas Anfang der 1950er vom US-amerikanischen Anthropologen George P. Murdock (1897–1985) zur standardisierten Daten-Erfassung sämtlicher Ethnien weltweit. - ↑ Jürgen Kiefer, Tim Klauck, Hakan Gündüz: Die soziobiologische Kulturtheorie (Avunkulat der Huronen). ( vom 27. Februar 2010 im Internet Archive) Universität Saarland, 2003, abgerufen am 11. Juli 2020 (Seminarunterlagen).
- ↑ Lukas, Schindler, Stockinger: Avunkulokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997, abgerufen am 11. Juli 2020 (vertiefende Anmerkungen, mit Quellenangaben).
- ↑ Hans-Rudolf Wicker: Die Allianztheorie von Claude Lévi-Strauss (Avunkulat). (PDF: 387 kB, 47 Seiten) In: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 18/19 und 30/31 (überarbeitete Version).