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Guide Camp Wikipedia Kassel 2014 - Konfliktmanagement bei unklaren Machtverhältnissen (Prof. Dr. Benno Heussen)


„Weshalb unterwirft man sich der Mehrheit? Weil sie vernünftiger wäre? Nein, weil sie mächtiger ist. Weshalb folgt man überkommenen Gesetzen und Meinungen? Tut man das, weil sie richtiger wären? Nein, aber sie sind in ihrer Art einzig, und sie entheben uns den Anlässen der Meinungsverschiedenheiten. (Fragment 301)


Die Macht ist die Königin der Welt und nicht die Meinung – aber die Meinung ist es, die sich der Macht bedient. Es ist die Macht, die die Meinung bildet. (Fragment 303)


Im allgemeinen entstammen die Stricke, durch die die einen in Respekt den anderen verbunden sind, der Notwendigkeit. Denn es ist nötig, dass es verschiedene Stufen gibt; alle Menschen wollen herrschen und alle können es nicht, aber einige können es. (Fragment 304)


“ (Blaise Pascal: , Pensées (1669))


Wikipedia: Eine Enzyklopädie als offenes System

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Wikipedia versucht, unsere Welt mit virtuellen Mitteln zu beschreiben. Innerhalb weniger Jahre hat die Plattform seit Jahrzehnten eingeführte Print-Werke vom Markt verdrängt.

Das beruht auf drei Gründen:

  • In Print-Formaten kann man zwar Informationen über einzelne Tatsachen erfassen, sie aber nicht in einfacher und überzeugender Weise miteinander in Beziehung setzen.
  • Das Wissen der Welt liegt nicht nur in den Händen der Fachleute, sondern jeder besitzt einen Teil davon jeweils auf seiner individuellen Ebene. Klassische Enzyklopädien haben auf Fachwissen gesetzt und Redaktionen beschäftigt, Wikipedia setzt auf den open mind und die Open Source als Mittel der Qualitätskontrolle. So sind mehr als 20 Millionen Artikel in 282 Sprachen entstanden, die von über 100.000 Autoren geschrieben worden sind.
  • Wikipedia kostet nichts. Die Autoren arbeiten ProBono, die Personal– und Sachausgaben, die die Organisation der Plattform verursachen, werden von Spenden finanziert. Das Spendenaufkommen lag 2012 in Deutschland bei 3,8 Millionen €. (Weltweit bei über 20 Millionen $)

Dieser Erfolg ist das Werk ehrenamtlich tätiger Autoren und engagierter Menschen in der Organisation (oft in Doppelfunktion), deren Motivlage sehr unterschiedlich ist. Die deutschsprachigen Texte stammen von ca. 5000 Autoren[1] , und so ist die deutsche Seite mit aktuell 1.736.997 Artikeln nach der englischsprachigen, der niederländischsprachigen und der schwedischsprachigen Wikipedia die viertgrößte Wikipedia-Ausgabe. Die Zahl schwankt täglich, denn jeder hat unabhängig von seinen beruflichen oder privat erworbenen Kenntnissen, Qualifikationen und/oder Titeln die Möglichkeit, in Wikipedia zu veröffentlichen.

Auf den Webseiten ist nicht ersichtlich, wer die Autoren sind. Wer schreiben will, muss sich nach bestimmten Regeln anmelden und gibt sich dabei fast immer ein Pseudonym, das mit dem bürgerlichen Namen auch Wikipedia-intern nur schwer in Verbindung gebracht werden kann, wenn der Autor es nicht selbst offenbart. Woher er sein Wissen nimmt und welche Qualifikationen er dafür hat, zum enzyklopädischen Wissen beizutragen, ist ihm überlassen. Wer Unsinn schreibt, riskiert lediglich, dass sein Beitrag kritisiert und möglicherweise sogar entfernt wird. Vermutlich deshalb steht die wissenschaftliche Welt nach außen hin Wikipedia kritisch gegenüber. Tatsächlich dürften aber eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten einzelne Anregungen, wenn nicht eine Menge relevanter Inhalte aus der Enzyklopädie entnehmen, ohne es offen zu legen.

Ein Autor muss weder dem Verein Wikipedia noch irgend einer seiner Gruppierungen angehören. Er kann außerhalb der Erarbeitung seiner Beiträge völlig passiv bleiben und mit keinem der anderen Autoren Kontakt halten. Wikipedia gehört in die Welt der Open Source-Ideen und ist von außen betrachtet auf den ersten Blick ein hierarchiefreies und ungewöhnlich offenes System. Sein Erfolg ist unübersehbar: Täglich benutzen Millionen Menschen diese Informationen.

Die Innenwelt von Wikipedia

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Von offenen Systemen wird scherzhaft gesagt: "Wer nach allen Seiten hin offen ist, kann nicht ganz dicht sein". Wäre es bei Wikipedia so, hätte die Plattform niemals Erfolg gehabt. Richtet man den Blick nach innen, finden wir etwa 1000 aktive Autoren, die sich von den ca. 4000 anderen darin unterscheiden, dass sie untereinander lebhaften Kontakt pflegen. Natürlich nicht jeder mit jedem, sondern in überschaubaren Gruppen (Communities), die sich einzelnen Spezialgebieten und der Aufrechterhaltung der Funktionalität der Plattform Wikipedia widmen.

Sie entwickeln über das Verfassen von Beiträgen hinaus folgende Aktivitäten: Überprüfung der Beiträge anderer Autoren innerhalb und außerhalb von Communities auf Vollständigkeit, Richtigkeit, Neutralität (Freiheit von Einzelinteressen) und Einhaltung anderer Regeln, die Wikipedia sich gegeben hat. Dazu gehört vor allem die Zurückweisung von Beiträgen, die Wikipedia als Wörterbuch, als Darstellung neuer Theorien, als Gerüchteküche, als Diskussionsforum oder Chat-Room oder gar als Ersatz für eine eigene Webseite betrachten. Diese Regeln sichern in ihrer Gesamtheit die Eigenschaft der Plattform als Enzyklopädie, also die Darstellung hinreichend gesicherten Wissens. Sie grenzt sich etwa ab gegen die Politisierung von Inhalten, gegenüber wissenschaftlichen Sondermeinungen, gegenüber Essayisten und anderen Einflüssen, um zu verhindern, dass Wikipedia eine Plattform fremder Interessen werden könnte, die sich z.B. als Sockenpuppen (eine kindliche Form des Puppentheaters) verkleiden. Wenn solche Korrekturen nicht akzeptiert werden, können daraus Konflikte entstehen. Zum Stil, in dem solche Konflikte auszutragen sind, gibt es Regeln (Wikiquette). Sie werden aber nicht immer eingehalten und so können edit wars oder deletion wars entstehen.

Aktive Teilnahme an Communities, Portalen oder Barcamps. Hier finden sich örtliche, überörtliche und/oder internationale Meetings, Redaktionskonferenzen etc., in denen Autoren, die sich gegenseitig kennen lernen wollen, untereinander Gedankenaustausch und persönliche Freundschaften pflegen. Es gibt Communities, die sich auf bestimmte Fachgebiete konzentrieren (Naturwissenschaften, Geschichte, Psychologie, Mathematik, Jura etc.), andere werden von den Persönlichkeiten und ihren internen Beziehungen untereinander geprägt, die sie steuern. Im internen Austausch werden nicht nur neue und interessante Themen identifiziert, es wird auch um Formulierungen gerungen, die für den einen objektive Aussagen, für den anderen eine unerwünschte Tendenz aufzeigen. Solche Auseinandersetzungen können sehr lange geführt werden. Zwei typische Fälle:

  • Soll das Sterbedatum mit einem Kreuz versehen werden, obwohl Christen eine Minderheit in der Weltbevölkerung darstellen?
  • Sollte man die Beschneidung weiblicher Genitalien, wie sie z.B. in Afrika üblich ist, als »Genitalverstümmelung« bezeichnen, oder steckt in dieser Begriffswahl bereits eine (unzulässige) Bewertung des Vorgangs? Wer sich im konkreten Fall durchsetzt, hängt von einer Vielzahl einzelner Faktoren ab.

Tätigkeit als Administrator, Guide, Vermittler, Mediator, Ombudsmann. Bei Meinungsdifferenzen, edit wars, oder anderen Streitfällen gibt es vereinbarter Eskalationsverfahren: Beide Seiten sollen zunächst einen Administrator oder Guide ansprechen, wenn sie nicht einen anderen erfahrenen Autor bitten können, den Konflikt zu schlichten; die Redaktionskonferenzen schreiten ein, wenn der Fall ihnen vorgetragen wird, ein Vermittlungsausschuss und schließlich ein Ombudsmann werden tätig. Alle diese Personen sind ehrenamtlich engagiert. Lässt sich überhaupt kein Kompromiss finden, werden gelegentlich alle Beiträge zum Thema gelöscht.

Mitarbeit im Verein Wikipedia bzw. in der zugeordneten gemeinnützigen Förderstiftung: Der Verein ist verantwortlich für die gesamte Infrastruktur, organisiert und finanziert sie einschließlich einzelner Projekte ausschließlich durch Spenden und freiwillige Leistungen. Eine wesentliche Aufgabe ist auch die Pflege der internationalen Kontakte zu anderen Wikipedia Vereinen und den weltweiten Wikimedia Organisationen. Einschließlich Geschäftsführung und technischer Abteilung (Programmierer etc.) wird der Verein in Deutschland von etwa 30 hauptberuflich und ehrenamtlich tätigen Personen gesteuert.

Zusammengefasst: Wikipedia ist eines der weltweit größten und erfolgreichsten ProBono-Projekte, das ein ungewöhnlich günstiges Verhältnis von Aufwand und Wirkung hat. Wenn man die Zahl der Menschen, die sich in den Wikipedia Vereinen aktiv betätigen auf der einen Seite und die Wirkung der Plattform in die Öffentlichkeit hinein betrachtet, ist der Wirkungsgrad außerordentlich hoch.

Konfliktmanagement bei Wikipedia

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Typische Konflikte entwickeln sich bei Wikipedia in folgenden Bereichen:

  • Streit über Strategien und Ziele
  • Divergenzen wegen der Art der Darstellung einzelner Texte
  • unterschiedliche politische Auffassungen
  • Streit über Aufbau – und Ablauforganisation
  • unterschiedliche Auffassungen über Schwerpunkte einzelner Communities
  • Verteilung der Arbeitsbelastung (Work-Life-Balance)
  • Art und Stil der internen Kommunikation

Wenn es derartigen Streit gibt, kann man unterschiedliche Wege gehen, um ihn zu bereinigen:

  • Gespräche zwischen Autoren
  • Entscheidungen in Redaktionskonferenzen
  • Diskussionen in Barcamps
  • Tätigkeit der Administratoren
  • Vorschläge von Mediatoren
  • Anrufung des Vermittlungsausschusses
  • Einschaltung des Ombudsmanns
  • Zulassung mehrerer Versionen
  • Löschungsantrag

Anerkennung durch die Peers

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Die Frage, aus welchen Motiven einzelne Menschen bei Wikipedia mitarbeiten und für die Funktionsfähigkeit der Plattform wie für ihre Inhalte einschließlich des dazugehörenden Konfliktmanagement Sorge tragen, ist noch nicht untersucht. Im Bewusstsein der Mitarbeit an einer so mächtigen Plattform liegt zweifellos eines der Motive der Autoren und Manager von Wikipedia. Aber reicht das? Und wie wirken sich hindernde Einflüsse, interne Konflikte usw. aus?

Irritierend wirkt zunächst das Anonymitätsprinzip. Wer in Wikipedia schreibt, kann von außen nicht als Autor identifiziert werden und erhält dafür keine credits in der Öffentlichkeit. So können die Autoren auch in der wissenschaftlichen Welt trotz einzelner herausragender Leistung keinen credit bekommen. Wer wissenschaftlich zitiert, muss tiefer gehen, als Wikipedia das tut, aber die dort genannten Quellen sind oft genug ein praktisch genutzter Einstieg in das Thema, was in der Wissenschaftswelt nicht offen zugegeben wird. Möglicherweise liegt gerade in dieser Nichtachtung ein Motiv für einen Autor, etwas besonders Gutes zu schreiben.

Anders sieht es jedoch aus der Perspektive der Innenwelt von Wikipedia aus: die Insider wissen – wenn sie sich dafür interessieren – wer die wichtigen und engagierten Autoren sind und so erhalten diese jedenfalls von ihren Peers Respekt und Anerkennung. Aus einer internen Diskussion: »Wikipedia lebt nur von den Personen, die sich wirklich kennen, nicht von den Personen, die sich nur virtuell begegnen.« Es ist nicht einfach, die Spannungsverhältnisse zwischen dem Innen und dem Außen so aufeinander abzustimmen, dass die Gruppe die nötige Kraft für ihre Ziele entwickelt, sich nicht in inneren Kämpfen verschleißt, aber nach außen hin so viel Offenheit und Flexibilität beweist, dass sie auch für diejenigen, die Gruppe nicht angehören, akzeptabel bleibt.

Das soziale Grundgesetz vom Geben und Nehmen

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Es gibt ein weltweit geltendes und uraltes Grundgesetz des sozialen Lebens, das lautet: Wer etwas nimmt, muss auch etwas geben, wer etwas gibt, kann verlangen, dass auch ihm etwas gegeben wird. Einige halten das Gesetz vom fairen Geben und Nehmen für so stark, dass es bereits in unserer Natur verankert sei[2], auf jeden Fall aber ist nachgewiesen, dass es schon bei archaischen Gesellschaften selbstverständlich gegolten hat[3]. In einer der ältesten Sprachen der Welt, dem Sanskrit heißt es »dadami se – dehi me «, in der späteren lateinischen Fassung »do ut des«. Aus diesem Prinzip ist nicht nur das zivile Vertragsrecht entstanden, es prägt unser gesamtes soziales Leben an unzähligen Stellen.

Die hohe Spendenbereitschaft, die Wikipedia am Leben erhält, ist ein unmittelbarer Ausdruck dieser Regel. Im Verhältnis zwischen der Enzyklopädie und ihren Benutzern und Förderern ist sie wirksam. Die Frage: Wie sieht diese Beziehung zwischen Wikipedia und den Autoren aus? Wo stecken Leistung und Gegenleistung im Verhältnis zwischen Wikipedia und den Autoren, die für ihre Arbeit keine Vergütung erhalten? Wie kann es zu Konflikten kommen, wenn doch alle Beteiligten guten Willens sind? Und wie gehen die Beteiligten mit internen Konflikten um? Hin und wieder kommt es nämlich zu Irritationen: Autoren setzen sich mit anderen Autoren über unterschiedliche Auffassungen zu Inhalten, politischen Ansichten und einzelnen Darstellungsfragen auseinander, Administratoren beschäftigen sich mit solchen Konflikten, ein Vermittlungsausschuss wird tätig, ein Ombudsmann versucht Lösungen vorzuschlagen – und trotz allem gibt es eine Menge ungelöste Konflikte, einen Konfliktsumpf, dessen Atmosphäre hin und wieder dazu führt, dass einzelne sich in ihrem Engagement für Wikipedia gestört fühlen, ihre Funktionen niederlegen, systemische Zweifel äußern usw.


Machtstrukturen bestimmen unser soziales Leben

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Der Schlüssel zur Antwort auf diese Fragen liegt in der Erkenntnis, dass Menschen, die sich auf irgend einer sozialen Ebene begegnen, damit – meist ohne es bewusst wahrzunehmen – Machtstrukturen aufbauen, und durch jedes Verhalten (Sprache, Körpersprache, Information, Kommunikation etc.) vorhandene Machtlinien verändern. So entstehen ständig neue Machtdifferenzen zwischen den Beteiligten. Macht ist »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.« (Max Weber[4]). Dieser Grundsatz wirkt zwischen Einzelpersonen wie zwischen Gruppen in jeder denkbaren Formation. Wikipedia gehört als systemische Einheit zum sozialen Leben wie jede andere Gruppe: Es werden Entscheidungen getroffen, die für oder gegen die Interessen einzelner Mitglieder ausfallen müssen und selbst wenn »die Gruppe« eine Entscheidung trifft, wird sie doch von einzelnen Personen vorbereitet, formuliert und durchgeführt, die sich damit »gegen Widerstreben« der anderen durchsetzen. Eine psychologische Analyse von Machtverhältnissen zeigt sechs wichtige Elemente:

  1. Macht macht süchtig. Am stärksten ist die Sucht nach Anerkennung, nicht nach : Reichtum, Wissen, Glück ect.
  2. Macht ist moralisch neutral (auch gute Menschen brauchen Macht), aber sie tendiert – oft hinter geeigneter Maskierung – zur Arroganz.
  3. Macht erzeugt Differenzen und erfordert Widerspruch oder Anpassung – Logik und Gefühle liegen im Streit.
  4. Macht findet ihre Grenze nur in anderer Macht – z.B. Konkurrenten, Rechtssystemen, religiösen oder magischen Gegenkräften. Der größte Feind der Macht ist sie selbst.
  5. Streit wird – über den konkreten Anlass hinaus – immer (auch) um Macht, Rang, Status und Rolle geführt, und meist durch verletzte Gefühle ausgelöst.
  6. Nur die Lösung des Machtkampfes beendet den Streit.

Es gibt drei Grundformen, in denen die Macht in Gruppen verteilt wird – Hierarchie, Oligarchie und gleichrangige Gruppen (typisch: Vereine, Genossenschaften). Zwischen ihnen entwickeln sich – vor allem in der Politik – unzählige Mischformen: Es gibt politische Parteien, die sich an einer Führungsfigur orientieren und bürokratisch geführt werden, in anderen wird die Macht unter einer Hand voll Personen verteilt, wieder andere schwören auf die Basisdemokratie. Welche der Formen nur behauptet wird und welche den Tatsachen entspricht, lässt sich oft nicht mit genügender Sicherheit feststellen. In Wirtschaftsunternehmen hat es seit jeher nur hierarchische Formen gegeben, manchmal abgemildert durch patriarchalische Stile. Wikipedia gehört ohne Zweifel zu den gleichrangig organisierten offenen Gruppen. Dieses Modell hat sich auf dem Gebiet der Enzyklopädien gegenüber proprietären Unternehmensmodellen überlegen durchgesetzt. Es ist also mächtiger.


Machtdifferenzen in gleichrangigen Gruppen

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In hierarchischen Modellen werden Machtdifferenzen dadurch gelebt, dass der Ranghöhere dem Rangniederen gegenüber Anweisungen gibt. Ob dieses Verfahren wirksam ist, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. In mächtigen Bürokratien besteht nahezu immer die Möglichkeit, erteilte Anweisungen dadurch zu umgehen, dass man sie mit gegenläufigen Anweisungen mächtigerer Personen kontrastiert und so neutralisiert. Um dieser Gefahr zu entgehen, haben sich in jüngerer Zeit vor allem in den USA im Bereich der IT Industrie (Microsoft, Google, Facebook, Amazon) Modelle entwickelt, die ungefähr so funktionieren, wie eine Jägerhorde in der jüngeren Steinzeit: Eine kleine Gruppe definiert das Ziel und motiviert andere, die später dazu stoßen mit der Aussicht auf Teilnahme am Erfolg (Aktienoptionen) um so zu erreichen, dass Anweisungen besser befolgt werden: Sie sollen ja dem gemeinsamen Erfolg dienen. Dadurch entsteht eine erhebliche Peers Pressure, die grausamer wirken kann als hierarchische Unterordnung[5]. Von dieser Gefahr sind vergleichbare Formationen nicht frei, denen es nicht auf Gewinnorientierung ankommt, wie etwa Wikipedia.

Ob nämlich die Macht hierarchisch ausgeübt wird, wie in einer Militärdiktatur oder ob sie verdeckte Wege geht, wie in gleichrangigen Gruppen ist zunächst nicht wesentlich, auch wenn die Formen sehr unterschiedlich sind: Im einen Fall wird mit Befehl und Gehorsam agiert, im anderen mit dem Druck, den einzelne oder die ganze Gruppe auszuüben im Stande sind. In beiden Fällen können vielfältige Verhaltensweisen dazu dienen, die wahren Machtverhältnisse zu verschleiern, und so erkennt man die Macht oft nur an den Auswirkungen einer Entscheidung (»An den Früchten werdet ihr sie erkennen« (Matthäus 7,15-23).

An einigen Erfolgsmodellen kann man zeigen, dass der Umgang mit Machtdifferenzen in gleichrangigen Gruppen gelingen kann: es sind die Genossenschaften und im weiteren Sinn die Demokratien. Genossenschaften haben sich bei den Ripuarischen Franken (etwa 600 n. Chr. in der Gegend des heutigen Frankfurt und dann rheinabwärts), aber auch unter mexikanischen Pueblo-Indianern entwickelt und sind soziologisch wie ethnologisch gut erforscht[6]. Moderne Formen finden wir bei den Vereinen, Nichtregierungsorganisationen usw., aber auch in gewinnorientierten Organisationen (Volksbanken, Raiffeisen Genossenschaften , DATEV, freiberufliche Sozietäten usw). Auch in den Handwerkszünften, Kaufmannsgilden, Berggewerkschaften und in allen denkbaren Formen der Selbstverwaltung (Rechtanwaltskammern) ist die Idee der Gleichordnung lebendig. Diese Systeme sind aber – anders als Wikipedia – nicht offen, sondern nach außen hin geschlossen. Dazu verwendet man fachliche Prüfungen (Meisterprüfung, berufliche Zulassungen als Anwalt, Steuerberater etc.) oder das Verfahren der Kooptation, wie es z.B. in elitären Clubs üblich ist: Mitglied kann nur werden, wer von anderen Mitgliedern für längere Probezeiten eingeladen wird, sich auf diese Weise mit anderen Mitgliedern bekannt machen kann und dann eine Mehrheit der Stimmen für seinen Beitritt erhält. Derjenige, der die erste Einladung ausspricht, gilt als Bürge und haftet jedenfalls gedanklich für das richtige Verhalten des Eingeladenen.

Führungsmodelle in gleichrangigen Gruppen

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Gruppen, die auf der Idee der Gleichordnung aufgebaut sind, können sich also genauso stabil entwickeln wie andere, die hierarchisch geführt werden. Allerdings muss es auch bei gleichrangigen Gruppen Verfahren geben, die sicherstellen, dass Entscheidungen getroffen und Machtdifferenzen mit anderen als hierarchischen Mitteln ausgeglichen werden.

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich unter revolutionären Umständen die Idee der »Räte«: Jeder soll Rat geben, und alle sollen (möglichst einstimmig) entscheiden. Die Forderung, Solidarität zu üben, also die Macht eines anderen zu unterstützen, ohne gleichzeitig ein Teil des Machtsystems werden zu können (RäteModell), ist oft versucht worden, bisher aber stets gescheitert. »Du bist nichts, dein Volk ist alles« hieß es bei den Nationalsozialisten, und den Kommunisten gelang es jahrzehntelang, die Illusion aufrecht zu erhalten, die Macht gehöre allen, wenn nur einzelne kein Eigentum hätten. Der Machtkern des Eigentums steckt aber nicht im Wert der Güter, sondern in der Verfügungsmacht[7], zu der auch im Kommunismus nur wenige berufen waren. Dies gelang – wie man an der Sowjetunion sehen konnte – besonders wirksam, wenn man die alten Begriffe (»Genosse«) beibehalten hat, also Gleichheit vortäuschte, wo sie nicht vorhanden war. Außerhalb von genossenschaftlichen Formen ist das bisher nie gelungen, weil die Gleichordnung nur behauptet, tatsächlich aber diktatorisch geführt wurde. George Orwell hat es so formuliert: »Alle sind gleich, aber einige sind gleicher als die anderen.«

Man möchte meinen, außerhalb so strenger Formationen, etwa im Bereich der Kunst sei das anders. Im Gegenteil : »Ich war 15 Jahre als Orchestermusiker tätig und habe zwei oder dreimal versucht, bei einem berühmten Dirigenten zu fragen, warum er diese Stelle so und nicht anders gespielt haben möchte. Ich habe nie eine inhaltliche Antwort bekommen. Immer hieß es: weil ich es so will!« berichtet Nikolaus Harnoncourt. Auch große Regisseure sind keine Fans von Argumenten: von Bert Brecht über Fassbinder bis Peymann oder gar Frank Castorf[8] werden schreckliche Dinge berichtet – Peter Zadek soll eine Ausnahme gewesen sein. Wenn die Machtverhältnisse klar sind, wie bei Generälen und Dirigenten, gibt es bewährte Standardverfahren, mit ihnen umzugehen.

Die Aufgabe gleichrangiger Gruppen wie Wikipedia besteht also darin, über Verfügungsmacht zu sprechen und sie so zu regeln, dass einerseits keine unerwünschten Hierarchien entstehen, andererseits aber kein Gruppendruck, der wichtige Gruppenmitglieder zur Aufgabe zwingt.

Führung in geschlossenen und offenen Gruppen

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Offene und geschlossene Gruppen unterscheiden sich durch die Regelung des Zugangs zur Gruppe und der Art der Führung. In geschlossenen gleichrangigen Gruppen gibt es typische Methoden, um Entscheidungsprozesse zu ermöglichen und ihre Ergebnisse durchzusetzen.

Vier Beispiele:

  • Vereine: Hier gibt es meist einen Präsidenten, einen Geschäftsführer und einen Kassenwart, am ranghöchsten aber steht die Mitgliederversammlung. Das ist eine Fiktion. Der Deutsche Fußballbund oder der ADAC zeigen uns, dass die unscheinbarsten Figur (der Kassenwart) in allen Fragen das letzte Wort hat (»die Kasse ist leer«). Bei ehrenamtlichen Vereinen kann man diese mächtige Figur auf Jahrzehnte hin nicht ersetzen, denn oft ist er der einzige, der arbeitet , weil er die Steuererklärung abgeben muss (die anderen bekommen die Bundesverdienstkreuze). Wortbeiträge in Versammlungen kennen wir von ihm nicht, aber er muss sich nicht artikulieren, weil er um seine Macht weiß.
  • Universitäten: der Rektor, der Dekan, der Institutsleiter sind während der Zeit, in der sie ihre Ämter besetzen, mächtige Leute. Wenn sie wieder in die Reihe zurücktreten, überlassen Sie Ihren Nachfolgern aber nur einen Teil ihrer Macht, denn sie nehmen viele der dort geschaffenen Beziehungen, Informationen, Fördermittel usw. mit. In der Fakultätsversammlungen dürfen und werden sie das nie zeigen, aber wenn man die Entscheidungen genau analysiert, sieht man, wie die Machtlinien verlaufen.
  • Freiberufliche Partnerschaften (Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Ärzte, Ingenieure): in den meisten dieser Gruppierungen wird nach Köpfen abgestimmt, aber einer der Partner macht z.B. fünfmal mehr Umsatz und Gewinn als die anderen. Das ist jener, den man selten in den Versammlungen sieht (»einer muss ja hier den Umsatz machen«), und auch er muss zur Sache selten etwas beitragen, weil er alles hinter den Kulissen in seinem Sinne regeln kann. Die Zeit in den Versammlungen wird mit Petitessen zugebracht (Kaffeeflecken im Teppichboden), weil über die wirklich wichtigen Dinge längst entschieden ist.

In geschlossenen Gruppen wird über Machtansprüche zwar selten gesprochen (weil sie ebenso wie bei offenen Gruppen geleugnet werden), aber die Mitglieder der Gruppe wissen meist, wie sie verlaufen.

In offenen Gruppen hingegen – also bei Wikipedia – sind die Strukturen nicht annähernd so festgeschrieben wie bei geschlossenen Gruppen und so wächst die Gefahr, dass die Machtverhältnisse nur noch von sehr wenigen Personen, die lange dabei sind, verstanden werden können. Gerade weil hier nicht mit offenen Karten gespielt werden darf, entstehen eine Vielzahl von Konflikten. Für sie hat man keine Standardlösungen, weil die Konflikte »eigentlich« gar nicht existieren dürfen. So kommt es zu Hierarchiebildungen, die nicht kontrollierbar sind, weil sie unsichtbar bleiben. Das macht das Konfliktmanagement unendlich schwierig. Bewältigen kann man es nur, wenn man die Kultur der offenen Gruppe definieren kann und sichere Mehrheiten dafür findet, sie zu erhalten. Das aber kann nur gelingen, wenn auch die Machtstrukturen, die jeder Art Gruppenkultur bestimmen, offen angesprochen werden können.

Die Kultur der Gruppe

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Gruppenkultur ist »ein Muster gemeinsamer Grundprämissen, das die Gruppe bei der Bewältigung ihrer Probleme erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bindend gilt, und das daher an neue Mitglieder als rational oder emotional korrekter Ansatz für den Umgang mit Problemen weitergegeben wird[9]. Selbst wenn man die Unternehmenskultur niemals ausdrücklich definiert hat oder nie über sie spricht, ist sie vorhanden: sie besteht dann aus allseits stillschweigend vereinbarten Schweigen über die tatsächlich praktizierten Regeln. Dazu gehört bei Gruppen meist die Regel, Konflikte informell und nicht offen auszutragen, weil sie den Gedanken der Solidarität stützen wollen.

Auch Hierarchien brauchen Solidarität, aber sie reden nicht darüber. Bei Gruppen ist das anders: Hier werden häufig ideale Werte beschworen direkte Befehle, wie sie erreicht werden sollten, sind aber verboten. És darf keinen unmittelbaren Druck geben und deshalb entfalten sich die Konflikte auch hinter den Kulissen und nicht vorne an der Rampe.

In Vereinen, politischen Parteien oder an den Universitäten ist es ganz genauso: wenn jemand etwas falsch gemacht hat, muss man »in die Gremien« und darf unter keinen Umständen offen Kritik üben. Der Verstoß gegen die Solidaritätspflicht wiegt immer schwerer als jeder Fehler, den ein Mitglied der Gruppe gemacht hat. Aus diesem Gegensatz entstehen besonders unter ihnen Schwelbrände, die sich langfristig sehr problematisch entwickeln können – sogar dann, wenn man sich trennt.

Konfliktfähigkeit und Konfliktfestigkeit

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Jede intelligente Konfliktlösung hängt davon ab, dass die Beteiligten fähig sind, Konflikte zu durchleben und die Struktur, in der sie sich befinden, fest genug ist, um den Konflikt und die Versuche, ihn zu lösen, auszuhalten. Friedrich Glasl hat diese beiden zentralen Bedingungen in seinen Büchern im einzelnen analysiert[10].

Bei neuen Mitgliedern von Wikipedia kann es daran fehlen, weil die Personen, die die Machtstrukturen bestimmen, nicht bekannt sind. Es ist auch ein großer Unterschied, wie viel Personen eine Community umfasst.

Kleinere Communities zwischen 3-11 Mitgliedern können ihre Konflikte meist auf »familiärer Weise« lösen, also im persönlichen Gespräch. Zwischen 12-30 Mitgliedern ist das schon etwas völlig anderes. Die Zahl 12 hat eine gewisse Magie. Es gibt keine Mannschaftssportart, die mehr als elf Personen auf einer Seite umfasst. Manchen ist schon aufgefallen, dass es besser nur elf Apostel gegeben hätte, denn der zwölfte war ein Verräter (und der 13. erst recht). Bei mehr als zwölf Mitgliedern muss man feste Strukturen haben, man braucht vereinbarte Verfahren, wie man mit Konflikten umgeht, denn die informellen Methoden versagen allzu oft. Bei mehr als 30 Mitgliedern muss man ein festes Konfliktmanagement einrichten, das jedem bekannt ist und sowohl die Konfliktfähigkeit wie die Konfliktfestigkeit verlässlich sichert.

6 – Phasenmodell für die Regelung von Konflikten

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[11]

Betrachtet man die Systeme zur Konfliktregelung bei Wikipedia, so erscheinen sie für den Zweck völlig ausreichend. Vielleicht werden sie nur zu selten oder falsch benutzt? Ein möglicher Grund liegt darin, dass die Konfliktregelung in unstrukturiertem Gesprächen stattfindet und sich nicht an Ablaufkonzepte hält, die sich in der Praxis bewährt haben und auch innerhalb der Konfliktregelungsmechanismen von Wikipedia realisierbar sind. Eine ganz einfache Strukturierung erfordert nur sechs Schritte:

1. Der Konflikt bricht offen aus – es ist Feuer auf dem Dach Das wichtigste in dieser Phase ist: Informieren! Keine Hektik, tief durchatmen, sich entschuldigen, wenn der Streit es nicht wert ist und sich alle Optionen offen halten In dieser Phase geht es grundsätzlich nur um die Tatsachen und nicht um die Meinung

2. Panik und Gerede – alles geht durcheinander Wenn man eine eingeübte Streitkultur hat, ist diese Phase nicht schwierig. Dann gibt es ein Set von Regeln, in der man seine eigenen Rollen (Kämpfer, Stratege, Schauspieler?) ausleben kann. Hier wie in Situationen, in denen es (noch) keine Streitkultur gibt ist der wichtigste strategische Ansatz: Ruhe entsteht, wenn man den Streit aus der Perspektive des Gegners betrachten kann.

3. Die Brücken werden verbrannt, Strategien sind zu entwickeln Wenn die Kommunikation stirbt, heißt es Strukturieren: es wird eine Checkliste gebildet, bei der die wichtigen Streitpunkte am Anfang stehen, es wird eine Tagesordnung und ein Zeitplan festgelegt, der jedem Punkt auch eine bestimmte Menge Zeit zuordnet und alle anderen organisatorischen Fragen regelt. Man nutzt die Zeit des Stillstandes zur Selbstorganisation

4. Krieg Man muss der Tatsache ins Auge blicken, dass Krieg unvermeidlich sein kann. Sich darauf nicht vorbereiten, heißt fahrlässig handeln. Die Regeln des Krieges: Sich schon im Frieden darauf vorbereiten, teilen und herrschen, Koalition zerschlagen, Strategie und Taktik auf Sieg ausrichten, aber auch geeignete Vorbereitungen zur Flucht treffen!

5. Verhandlung Verhandeln: Verhandeln ist ein soziales Ritual mit eigenen Regeln, die das Ziel haben, Vertrauen nicht nur für den Kompromiss sondern auch für seine spätere Durchführung zu entwickeln . Man sitzt oft Leuten gegenüber, mit denen man nichts zu tun haben will, die man aber auch nicht ignorieren kann. Wenn ein fairer Verhandlungsstil erreichbar ist, liegt auch ein inhaltlicher Kompromiss nahe. Seine wichtigste Voraussetzung: Die Perspektive des Gegners wirklich verstehen und das gelingt durch die Regeln: 1. Erst fragen, dann feststellen, dann fordern. 2. Salamitaktik durch Zwischenbilanzen vermeiden. 3. Nicht drohen sondern handeln. 4. Wenn es (noch) keine Lösung gibt, muss man ein Verfahren entwickeln, in dem Lösungen (vielleicht) möglich sind.

6. Sieg, Niederlage oder Kompromiss Dokumentieren: was immer erreicht ist – auch Zwischenergebnisse – sollten möglichst für alle sichtbar dokumentiert werden, damit die Fortschritte allen unmittelbar vor Augen geführt werden.

  • Bewerten: in Phasen der Unterbrechung wird jede Partei das Bedürfnis haben, die Situation zu bewerten und diese Ergebnisse wieder in die Verhandlung einfließen lassen.

Wird eine Gesamtlösung erreicht, ist sie oft schon in den Köpfen und man muss (nur noch)

  • Entscheide.: über Sieg, Niederlage oder Kompromiss

Das 6 Phasen-Modell unterscheidet sich von anderen Modellen vor allem dadurch, dass es die Machtverhältnisse illusionslos analysiert und daher auch mit dem Scheitern der Verhandlung rechnet. Während des ganzen Ablaufs ist es wesentlich, sich bewusst zu sein, dass die Vernunft und Verstand zwar Entscheidungen vorbereiten können, getroffen und durchgesetzt werden sie durch die Wirkung der Gefühle , die man zwar gelegentlich, aber nicht dauerhaft manipulieren kann. In den asiatischen Kulturen genügt meistens der Grundsatz, dass das eigene Gesicht gewahrt und das Gesicht der anderen respektiert werden muss. Im Westen verfügen wir über solche Konzepte nicht in gleicher Tiefe und müssen uns daher immer wieder neue Gedanken machen, wie wir – vornehmlich durch Zuhören und Betrachten – die Gefühle der anderen wahrnehmen und die eigenen zum Ausdruck bringen, ohne die anderen vor den Kopf zu stoßen.

Das Harvard-Konzept

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Beim dritten Schritt – der Verhandlung – kann es erforderlich sein, ein wenig komplexer zu arbeiten, etwa nach dem Harvard-Konzept.

Es enthält fünf einfache Grundregeln:

Harvard Konzept

Zuerst klärt man die Beziehungsebene (das ist die Oberfläche des Streits, die Kritik am Verhalten, am Stil und an den Formen), dann die jeweiligen Positionen und Ziele. In der jeder Position steckt ein konkretes Interesse und das wichtigste ist es, diese Interessen so offen wie möglich auf den Tisch zu legen, damit man über sie sprechen kann. Das ist bei unklaren Machtverhältnissen die schwierigste Phase.

Ein Beispiel: der Streit beginnt damit, dass ein Autor unbedingt an einer bestimmten Formulierung festhalten will. Erst im Gespräch stellt sich heraus, dass sein eigentliches Ziel die Definitionsmacht nicht nur über seinen eigenen Beitrag, sondern auch über andere Beiträge ist. Dieser Anspruch berührt die Interessen anderer Autoren und ist daher nicht trivial. Fördert man ihn nicht zu Tage, wird der Streit auf Dauer nicht zu lösen sein.

Sieht man die Interessen vor sich, muss man Optionen entwickeln, wie man sie ausgleichen kann. Dazu sind objektive Kriterien nützlich und am Ende prüft man alle Alternativen, die man hat. Die eine ist eine gemeinsame Lösung, die andere die Trennung.

Starke Kompromisse

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Die gemeinsame Lösung darf kein fauler Kompromiss sein. Sie gelingt nur unter folgenden Bedingungen:

  • der Stil, in dem die Verhandlung geführt wird, reißt keine neuen Konflikte auf,
  • Jede Seite glaubt der anderen, hat dass der Konflikt wirklich beendet werden soll und die Verhandlungen nicht nur der Gewinnung taktischer Vorteile gedient haben,
  • der Vereinbarung gelingt es, die unklaren Machtverhältnisse zu beseitigen, also die hinter dem Konflikt stehenden Rang-und Machtfragen neu zu ordnen oder zu bestätigen,
  • der Inhalt der Vereinbarung erfüllt das Minimum dessen, was jede Seite sich vorstellt
  • die Vereinbarung muss die Parteien auch emotional zufrieden stellen und das gelingt nur, wenn beide Seiten sie als fair ansehen.

Zwölf Regeln des Konfliktmanagements

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  1. Konflikte sind schwierig, aber sie enthalten auch Chancen: Die wahre Seele des Streites ist der Anspruch, die Machtverhältnisse zu ändern.
  2. Wenn das Wasser fällt, zeigen sich die Klippen: viele Konflikte brechen erst aus, wenn die Gruppe nicht mehr im Geld schwimmt oder andere Ressourcen schwinden.
  3. Wenn die Welle des Chaos sich überschlägt, sollte man untertauchen, also einen Schritt zurücktreten und sich überlegen, was wohl der eigene Beitrag zum Chaos gewesen sein könnte.
  4. Der Berg bewegt sich nicht: wenn man an anderen beobachtet, dass sie sich nicht bewegen, zeigt das, dass sie die besseren Karten haben – oder sehr gut bluffen können!
  5. Konflikte muss man wie Krankheiten behandeln: Entweder hat man sie selbst, dann hat man wirklich ein Problem, oder die anderen haben sie, dann muss man für Behandlung sorgen. Krankheiten brauchen gut strukturierte Therapien.
  6. Im Streit steht jeder sich selbst am meisten im Weg: daher muss man Distanz schaffen, sich beraten und vertreten lassen, oder einen Vermittler einschalten.
  7. Aus der Perspektive der Anderen sehen lernen: erst wenn man genügend Distanz geschaffen hat, gelingen einem Einsichten in die Motive der anderen Seite und einige davon wird man als berechtigt anerkennen können. Das ist der erste Schritt zur Lösung.
  8. Der Schlüssel zur Lösung eines Konflikts liegt immer in der Hand von Menschen und nicht von Systemen, Regeln etc.
  9. Das Gefühl entscheidet, nicht der Verstand: der Verstand informiert, strukturiert, dokumentiert usw. und das muss er auch, weil das Gefühl sonst völlig verwirrt bleibt. Aber wenn es klar ist, dann entscheidet es auch.
  10. Man kann nur aus Verlusten lernen
  11. Manchmal hat man keine Wahl – auch Krieg ist eine Möglichkeit.
  12. Recht ist relativ.
  • Fisher/Ury/Patton: Das Harvard-Konzept. Der Klassiker der Verhandlungstechnik (2009)
  • Glasl Friedrich: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte. (2009)
  • Glasl Friedrich: Selbsthilfe in Konflikten. Konzepte, Übungen, Praktische Methoden (2007)
  • Heussen Benno: Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement. Teile 1 + 2 (Hrsg : Heussen/Pischel), C.H.Beck, 4. Auflage 2014
  • Heussen, Benno: Wenn schon, denn schon – Streiten, aber richtigvon Machiavelli lernen. Intelligente Konfliktbewältigung, vitolibro e-book , 2014
  • Schulz von Thun: Miteinander reden – Psychologie der Kommunikation. 4 Bände, Rowohlt 2010-2014

Einzelnachweise

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  1. Zum Vergleich: Die angloamerikanischen Texte werden von etwa 1000 Autoren verfasst.
  2. Tor Noerretranders, Über die Entstehung von Sex durch generöses Verhalten. Warum wir Schönes lieben und Gutes tun, Rowohlt 2006
  3. Marcel Mauss, Die Gabe, Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Suhrkamp 4. Auflage 1999
  4. Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Mohr Siebeck Studienausgabe 5. Auflage 2002, § 16
  5. Bericht: Dietmar Dath, FAZ vom 05.07.2014; Wikipedia-Beiträge hierzu:
    • The Wave
    • Stanford-Prison-Experiment
    • Gruppendenken
    • Gruppendynamik
    • Schweigespirale
    • Soziale Norm
    • Milgram-Experiment
    Experimente zum Gruppenzwang: Muzafer Sherif (1935), William Foote Whyte (1943) und Solomon Asch (1951) Max-Planck-Gesellschaft 2011 http://www.mpg.de/4611532/gruppenzwang_vorschulalter
  6. Fikentscher, Zur Anthropologie der Körperschaft. Polis, Genossenschaft, Tewa Pueblo: Ein Feldforschungsbericht, CH Beck 199
  7. Jeremy Rifkin: Access - Das Verschwinden des Eigentums: Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden, Campus 2000
  8. zuletzt: Interview: Der Spiegel 30/2014 Seite 110
  9. Edgar Schein, (MIT Cambridge USA),Organisationskultur, EHP Verlag 2003
  10. Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte (2009); Selbsthilfe in Konflikten: Konzepte, Übungen, praktische Methoden (2007)
  11. Benno Heussen: Wenn schon - denn schon - Streiten - aber richtig. Von Machiavelli lernen: intelligente Konfliktbewältigung, vitolibro, e-book 2014

Fragen und Stichworte für die Diskussion

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  • Konflikte über Texte sind auch Konflikte über die innere Stabilität und die Festigkeit der Grenzen. Sie gehen immer von Menschen und ihren Interpretationen der Welt aus. Richtig?
  • Die Konfliktregeln sind durchdacht , z.B.: Thema ändern-im Hinter-grund stehen lassen-fokussieren-löschen). Warum funktionieren sie nicht in allen Fällen?
  • Gibt es Verbesserungspotenzial bei den Konfliktregeln?
  • Warum stört die lange Zeitdauer mancher Konflikte?
  • Wenn in der Welt von Wikipedia jemand etwas bekommt: Muss er immer eine Gegenleistung geben? Direkt? Indirekt? Sofort? Später?
  • Führung bedeutet: Ziele vereinbaren/ die Rahmenbedingungen schaffen, damit sie erreicht werden können/die Ergebnisse kontrollieren. Gibt es in diesem Sinn Führung bei Wikipedia?
  • Gibt es bei Wikipedia machtfreie Zonen, also Bereiche, auf die niemand einen Einfluss hat?
  • Wenn ja: Könnte das darauf beruhen, dass sich in diesen Zonen die Einflüsse unterschiedlicher Personen gegenseitig neutralisieren?
  • Führung konzentriert sich stets in Personen, die (formelle oder informelle) Führung übernehmen. Richtig?
  • Ist bekannt, welche Personen bei Wikipedia diese Aufgaben übernehmen? Wenn ja: Vernachlässigen sie das Thema »Konflikte über Texte«? Wenn nein: Würde sich etwas ändern, wenn die Führungsverhältnisse (und damit die Machtverhältnisse) allgemein erkennbar werden?
  • Sind einige Teilnehmer an den Konflikten gleicher als die anderen? Wer ist das? Warum ist das so?
  • Gibt es hinter der Fassade der Öffentlichkeit vielleicht doch versteckte Machtlinien zwischen Personen, die sich informell verständigen?
  • Wenn ja: Sind solche informelle Strukturen nützlich? Sind sie produktiv? Stören sie nur? Tragen sie zu Konflikten bei?
  • Oder: Sollte man sie offen legen, bekämpfen, für die Zukunft verhindern? Warum?
  • Ist eine Verrechtlichung der Konflikte im Wege einer Vereinsgerichtsbarkeit et cetera wünschenswert?
  • Kollateralschäden falscher Machtausübung bedenken!
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