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Evolutionäre Erkenntnistheorie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die evolutionäre Erkenntnistheorie bildet dabei eine anfangs vergleichsweise deutsche Traditionslinie.[1] Konrad Lorenz, Rupert Riedl, Gerhard Vollmer setzten eine Auseinandersetzung mit der deutschen idealistischen Philosophie fort, gerade wenn sie versuchten, deren Fragen naturwissenschaftlich zu entzaubern. Warum denken wir in Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität? Kant hatte diese Kategorien als a priori unseres Nachdenkens anerkannt: Wir benötigen sie, bevor wir in ihnen nachdenken. Die evolutionäre Erkenntnistheorie gibt denselben Kategorien in einem Brückenschlag in die Biologie und den Positivismus (Ernst Machs Empiriokritizismus nahm hier wesentliche Positionen vorweg) eine am Ende materialistische Geschichte: Raum, Zeit und Kausalität sind, so die Erklärung, Wahrnehmungsmuster, die sich im Laufe der Evolution als praktisch erwiesen. Der biologische Erkenntnisapparat, unsere Sinnesorgane, unsere Gehirnfunktionen schaffen die Kategorien und Dimensionen unserer Wahrnehmung. So zu denken, wie wir das tun, erwies sich schlicht als Überlebensvorteil. Das ließ sich auf kulturell gebundene Wahrnehmungsmuster ausdehnen: Kulturen entwickeln Erkenntnisse und Erkenntnismuster und stehen mit diesen in einer Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und untereinander in einem evolutionären Wettstreit. Der evolutionsgeschichtliche Ansatz wurde - in Verbindung mit kognitionswissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Perspektiven - von den Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela (siehe auch: Der Baum der Erkenntnis) unter dem Aspekt der Autopoiese als Lebensprinzip mit ständigen biologischen, kommunikativen und kognitiven Rückkoppelungsprozessen weiterentwickelt und differenziert.
Aus Sicht der dekonstruktivistischen, auf die Sprache als Medium unseres Denkens ausgerichteten Diskurstheorien, wie aus Sicht der poststrukturalistischen Geschichtsschreibung wurden die hier gewonnenen Theoreme als zu einfach kritisiert: Es würde eine untere Ebene universeller Wahrnehmungsmuster geschaffen, die für Mensch und Tier gelten solle, aber kaum erklärt, warum es dann doch eine erhebliche Vielfalt in der „Erkenntnis“ zwischen verschiedenen Kulturen gebe. Auf der höheren Ebene, auf der man kulturelle Ausformungen unserer Wahrnehmungsmuster zulässt, würde - so die Kritiker von Seiten der Diskurstheorie - nicht wesentlich komplexer gedacht: Darwinismus würde hier auf die Kulturgeschichte übertragen. Des weiteren wird bezweifelt, dass sich die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster verschiedener Kulturen in einem Wettstreit um das „Überleben“ miteinander befänden und dass alle Erkenntnisse „nützlich“ im Umgang mit der Welt seien. Daneben werfen idealistische und positivistische Philosophen der Evolutionären Erkenntnistheorie Zirkelschlüsse vor: Materie, die Existenz von Körpern, deren Evolution – all dies würde von der evolutionären Erkenntnistheorie vorausgesetzt. Sie benötigte die der Evolution unterworfene Materie für die Produktion der biologischen Erkenntnisapparate, die am Ende der Evolution eben in Kategorien wie Materie, Raum, Zeit und Kausalität denken solle. Ein "Glaube" an die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle stabilisiere - so die Kritiker - die evolutionäre Erkenntnistheorie.
Anhänger des Kritischen Rationalismus, vorwiegend Karl R. Popper und Donald T. Campbell betonen betonen in der evolutionären Erkenntnistheorie das Moment der negativen Selektion.[2] Sie bestreiten, dass es sichere Evidenz gibt – auch nicht in naturwissenschaftlichen bzw. naturalistischen und insbesondere auch nicht evolutionären Erklärungen. Jeder Versuch, bestimmte Meinungen als wahr und gewiss herauszusondern (als „Wissen“), müsse scheitern.[3] Es gebe insbesondere auch im Rahmen evolutionärer Modellbildungen nur blinde Variation zusammen mit selektiver, ausschließlich negativer Rückkopplung. Die Evolution der Lebewesen und die Evolution des menschlichen Wissens gehen dabei ineinander über; sie beide stellen einen objektiven Problemlösungs- und Lernprozess dar, der im Wesentlichen auf den gleichen Prinzipien basiert. Die Selektion in der natürlichen Evolution entspricht dabei der Kritik im Bereich des menschlichen Wissens: „Diese Art der Information – die Abweisung unserer Theorien durch die Wirklichkeit – ist […] in meinen Augen die einzige Information, die wir von der Realität bekommen können: alles andere ist unsere eigene Zutat.“[4] Die Entwicklung basiert demnach also auf der Fehlerkorrektur im Bezug auf eine objektive Problemsituation. Verbunden mit der Position ist ein radikaler, aber nichtbegründender Apriorismus: Jegliches Wissen wird als dem „Inhalt nach a priori, nämlich genetisch a priori“[5] angesehen, nicht jedoch als a priori gültig oder begründet. Aufgrund dieser erkenntnistheoretischen Haltung wird diese Position auch als Totalskeptizismus oder Totalirrationalismus kritisiert[6][7][8][9][10] und weitestgehend ignoriert.[11][12] David Miller, der prominenteste zeitgenössische Vertreter dieser Position, hat sie bekräftigt und die Kritik zurückgewiesen.[13] (Für den Fall, dass es nur um Worte geht, ist er bereit, die Bezeichnung ‚Irrationalist‘ zu akzeptieren.)[14] Er vertritt den Standpunkt, dass die Sichtweise die aktuell einzige existierende ist, die – trotz vieler ungelöster Probleme – im Ansatz ernsthaft behaupten kann, logisch haltbar zu sein.[15]
- ↑ Für Informationen zum aktuellen Theoriestand nebst kurzem historischem Abriss vgl. Michael Bradie / William Harms (2004) Evolutionary Epistemology; sowie zum damit verwandten Komplex naturalistischer erkenntnistheoretischer Konzeptionen Richard Feldman (2001) Naturalized Epistemology
- ↑ Proceedings of the Rethinking Popper Conference, September 10th–14th 2007, Prague, Czech Republic (noch nicht veröffentlicht)
- ↑ David Miller: Critical Rationalism (1994), Kapitel 3
- ↑ Karl Popper: Die Quantentheorie und das Schisma der Physik, zitiert nach Hans-Joachim Niemann: Lexikon des Kritischen Rationalismus, Mohr/Siebeck, Tübingen 2004, Stichwort „Realität“ (S. 311)
- ↑ Karl Popper: Alles Leben ist Problemlösen (1984), S. 129 f.
- ↑ Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse (Suhrkamp, 1968), S. 22
- ↑ David Stove: Popper and After: Four Modern Irrationalists (Oxford: Pergamon, 1982)
- ↑ Jahn M. Böhm: Kritische Rationalität und Verstehen (2005), 1.6.2
- ↑ A. Sokal, J. Bricmont: Intellectual Impostures (1998), Kapitel 4.
- ↑ Weitere siehe David Miller: Conjectural Knowledge. In Paul Levnison (Hrsg.): In pursuit of truth (1982), Anmerkung 4
- ↑ David Miller: Conjectural Knowledge. In Paul Levnison (Hrsg.): In pursuit of truth (1982), Abschnitt 1
- ↑ David Miller: Falsifiability: More than a convention? Out of error (2006), 4.0
- ↑ David Miller: Sokal & Bricmont: Back to the Frying Pan. Pli 9 (2000), S. 156–173.
- ↑ David Miller: A critique of good reasons. Critical rationalism (1994), 3.1
- ↑ David Miller: Some hard questions for critical rationalism. (noch nicht veröffentlicht)