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Soziologie und empirische Forschung
Der Essay "Soziologie und empirische Forschung" von Theodor W. Adorno erschien erstmalig 1957.
1. (Die Spannung von kritischer Theorie und Positivismus)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Soziologie ist die Verbindung unterschiedlicher Verfahrensweisen zur Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene. "Manche gelten der gesellschaftlichen Totalität und ihren Bewegungsgesetz; andere, in pointiertem Gegensatz, einzelnen sozialen Phänomenen, welche auf einen Begriff der Gesellschaft zu beziehen als spekulativ verfemt wird." (S. 196) Diese zwei gegensätzlichen Verfahrensweisen bezeichnet Adorno auch als geisteswissenschaftliche und formale Soziologie. Als populäre Ausdrücke dürften für diesen Gegensatz kritische Theorie einerseits und Positivismus andererseits gelten. Die kritische Theorie zielt auf die Strukturbedinungen der gesellschaftlichen Totalität, will unter die Oberfläche sehen, empfindet die herrschende Ordnung als unterträglich und will das herrschende Unwesen entzaubern. Sie arbeitet erfahrungsbasiert und möchte Begriffe, die von außen an die Sache getragen werden in Begriffe der Sache selbst und ihres Potentials umwandeln. So soll der Ist-Zustand als Wirkliches mit dem Möglichen konfrontiert werden. Sie stellt keine sicheren Prognosen, da diese immer im innergesellschaftlichen Horizont verbleiben, den sie ja gerade negieren bzw. transzendieren will: Das gesellschaftsprägende Prinzip soll aufgehoben werden, anstatt eine am Prinzip ausgerichtete Hypothese an der zukünftigen Erscheinung zu verifizieren. Der Positivismus analysiert demgegenüber Einzelphänome in summarischer Absicht und hält einen theoriebasierten Begriff der Gesellschaft für spekulativ. So entstehen bestenfalls klassifikatorische Oberbegriffe, nie Begriffe des Lebens der Gesellschaft selbst. Dies zeigt sich z.B. darin, dass klassifikatorisch zwar differenzierte Abstraktionsniveaus möglich sind, diese jedoch nicht direkt mit erhöhtem Erkenntnisgewinn verbunden sind:
- "Die Kategorie 'arbeitsteilige Gesellschaft überhaupt' ist höher, allgemeiner als die 'kapitalistische Gesellschaft', aber nicht wesentlicher, sondern unwesentlicher, sagt weniger über das Leben der Menschen und das, was sie bedroht, ohne daß doch darum eine logisch niedrigere Kategorie wie 'Urbanismus' mehr darüber besagen. Weder nach oben noch nach unten entsprechen soziologische Abstraktionsniveaus einfach dem gesellschaftlichen Erkenntniswert. Deswegen ist von ihrer systematischen Vereinheitlichung durch ein Modell wie das 'funktionelle' von Parsons so wenig zu erhoffen." (S. 198)
Bisher sind Theorie und Empirie in der Soziologie unvereint. Einerseits verbleibt eine rein klassifikatorische Theorie im falschen Ganzen. Andererseits sind empirische Beweise für aus der Theorie erkannten Strukturbedingungen allein durch die Eigenheiten der Empirie immer empirisch widerlegbar.
- "Nicht darauf kommt es an derlei Divergenzen zu glätten und zu harmonisieren: dazu läßt bloß eine harmonistische Ansicht von der Gesellschaft sich verleiten. Sondern die Spannungen sind fruchtbar auszutragen." (S. 198)
2. (Probleme der empirischen Soziologie)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Heute wird allgemein der positivistisch-empirischen Soziologie der Vorzug gegeben. Sie ist praktisch verwertbar und verwaltungsaffin. Empirie ist aber nur eine von vielen möglichen Methoden, die Grenzen der Methodik folgen aus den Grenzen der Sache. Gegenstand der empirischen Sozialforschung ist (neben statistischen Daten wie Alter, Einkommen,...) subjektives: Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Statistik ergibt dadurch im methodologischen Sinne objektive Aussagen über subjektives: darüber, wie Subjekte sich und die Welt sehen. Dabei wird von der gesellschaftlichen Objektivität abstrahiert. Z.B. führt der unreflektierte Rahmen der Forschung in Massenmedien oder die caféteria präformierter Fragen eine Ignoranz gegen oder gar Stützung der Verhältnisse. Die Annahme, die Meinungen prägten die Gesellschaft ignoriert bspw. die Machtstrukturen in der Gesellschaft, die wiederum nur statistisch betrachtet werden. Gesellschaftlich Primäres (apersonale Verhältnisse und Strukturen, personelle Macht) wird so zum Sekundären degradiert. Die Vorstellung der Menschen als prägende Subjekte statt geprägte Objekte der Totalität ist eine Fetischisierung der eigenen Forschungsobjekte der empirischen Soziologie. Entsprechend fetischisiert die Methodik sich selbst: Mit Recht werden in der empirischen Soziologie mehr drängende Fragen methodologischer als inhaltlicher Art diskutiert. Die Methodik formt selbst ihren Erkenntnisgegenstand: Z.B. wenn die Forschungsmotivation indifferent aus der methologischen Möglichkeit resultiert statt auf das Erkenntnisziel gerichtet ist. Oder wenn die Begriffsbildung (z.B. für den Begriff Konservatismus) mathematisch statt argumentativ vorgeht, diese statistisch 'sauberen' Definitionen dann aber direkt auf ihre konventionellen Äquivalente bezogen und damit falsch werden.
3. (Empirismus als erkenntnistheoretisch falsche Wissenschaft)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gesellschaftswissenschaft lässt sich nicht wie Naturwissenschaft betreiben. Dies aber nicht wegen einer Würde des Menschen, die sich der Naturwissenschaft entzöge: In Bezug auf die Rezeption von Massenmedien trifft das simple Schema von Reiz und Reaktion objektiv zu. Die von Atomen zu Allgemeinheiten klassifizierende Sozialwissenschaft trifft insofern eine Wahrheit, als sie den Medusenspiegel der atmosierten verwalteten Welt darstellt, also das Mittel, diese grauenhafte Welt genauer zu betrachten, ohne dabei zu Stein zu erstarren. Jedoch fehlt ihr dabei die Selbstreflexion. Die Methoden der Induktion und Deduktion gelten Adorno dabei als szientifischer Ersatz für die notwendige dialektische Vorgehensweise, quantitative und qualitative Forschung betrachtet er als zusammengehörig. Blinde Tatsachenfeststellungen und formale Soziologie erfassen nicht das Wesen der Gesellschaft, sie sind blind für das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem und wollen durch ein einheitliches System die permanente Spannung von Allgemeinem und Besonderem aus der uneinheitlichen Welt schaffen.
4. (Die Spannung von Gesellschaft und naturwissenschaftlicher Betrachtung)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wegen dieser Spannungen ist die Gesellschaft nicht homogen, wie es für eine naturwissenschaftliche Untersuchung (direkte Schlüsse vom Partiellen auf Allgemeines) sein müsste. Sozialwissenschaftliche Gesetze ergeben nie ein bruchloses Allgemeines, sondern eine je historisch konkrete Beziehung von Allgemeinem und Besonderem. Darin schlägt sich notwendig der anarchische Charakter bisheriger Gesellschaftsentwicklung und die Spontaneität der Menschen wieder. Diese Feststellung ist keine unwissenschaftliche Verklärung, sondern ein Hinweis auf den Antagonismus, der in den Zahlen untergeht und sich z.B. aus Vernunft oder einer spezifischen Interessenlage speisen kann. Die Menschen entsprechen nicht den Atomen in der Physik. Die empirische Sozialforschung behandelt sie aber auf diese Weise und produziert dadurch eine neue individualisierte Form der Charaktermaske. In einer befreiten Gesellschaft wäre demgegenüber die Empirie ein Werkzeug zur Verwaltung von Sachen, nicht von Menschen.
5. (Empirie und Totalität)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Soziologie ist insgesamt eine inhomogene Disziplin, bestehend aus Theorie, der Analyse von Verhältnissen/Institutionen und Sozialforschung. Das Erkenntnisziel Gesellschaft fordert deren Verbindung, da Theorie und Empirie aufeinander angewiesen sind. Die Wesensfrage nach der Totalität darf nicht wegen methodologischer Unfassbarkeit ausgeklammert werden. Als Beispiel führt Adorno das Tauschprinzip an: Es handelt sich einerseits nur um einen nichtempirischen Begriff, andererseits handelt es sich um ein real waltendes Phänomen mit harten Konsequenzen. Wenn die empirische Soziologie nur Fakten zählt und abgeleitete Regeln für die relevant prägenden Gesetze hält, produziert sie Ideologie und Rechtfertigung. Forschungshypothesen fürchtet sie gar, da sie statistisch systematische Fehler (bias) erzeugen könnten. Sie folgt dem Aberglauben bzw. Fetisch der Tabula Rasa der Vorraussetzungen und des neutralen Datensammelns.
- "Der Satz, ein Forscher benötige zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration, der so gern zitiert wird, ist subaltern und zielt aufs Denkverbot. Längst schon bestand die entsagungsvolle Arbeit des Gelehrten meist darin, daß er gegen schlechte Bezahlung auf die Gedanken verzichtete, die er ohnehin nicht hatte. Heute, da der besser bezahlte Bürochefe in die Nachfolge des Gelehrten einrückt, wird der Mangel an Geist nicht nur als Tugend dessen gefeiert, der uneitel und wohlangepaßt dem Team sich eingliedert, sondern obendrein durch die Einrichtung der Forschungsgänge institutionalisiert, welche die Spontaneität der Einzelnen kaum anders kennen denn als Reibungskoeffizienten." (S. 211f)
Gedanken kristallisieren sich langsam, durch Erfahrung, Intuition und Denken gegen den gesunden Menschenverstand. Die soziologische Arbeit ist nicht stupides Verfahren, sondern begriffliche Anstrengung; Wissenschaft wäre demnach das herausarbeiten der Wahrheit und Unwahrheit dessen, was das Phänomen sein möchte.
6. (Vermittlung von Forschung und Theorie in Erscheinung und Wesen, z.B. Arbeiterbegriff)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die empirische Erforschung des Subjektiven müsste mit der Analyse der gesellschaftlichen Objektivität verbunden werden. Der Arbeiter müsste z.B. auf sein Selbstbild, aber auch seine Stellung im Produktionsprozess und seine Machtmittel hin untersucht werden. Dies diente vor allem der Ideologiekritik, aber auch der Analyse von Veränderungen des Objektiven durch das Subjektive: Weiss niemand mehr, dass er Arbeiter ist, ändert das den Begriff des Arbeiters, auch wenn die Trennung von den Produktionsmitteln gleich bleibt. Die Erscheinung der Sache kann also auf ihr Wesen zurückwirken. Empirische Sozialforschung und Theorie sollten sich so gegenseitig als Korrektive dienen: Die Betrachtung der Erscheinung kann den Erkenntniswert kritisch relativieren, die Analyse des Wesens die Erscheinung entmythologisieren.
7. (Abschluss)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Soziologische Fakten sind durch Gesellschaft geprägt und darum kein Unmittelbares und Letztes. Verfeinerte empirische Methoden (Motivationsanalyse) können diese Prägung einbeziehen, aber nur funktionale, keine kausalen Zusammenhänge offenlegen. Eine Chance sieht Adorno in der Entwicklung von indirekten Fragemethoden. Die reine Meinungsforschung sei gleichzeitig zu achten und zu verachten, demgegenüber aber der allgemeinen Meinung nicht bestimmend die allgemeine Wahrheit entgegenzustellen, dies habe in der Geschichte bereits zu viel Unheil angerichtet.
- Die "Durchschnittsmeinung (stellt) keinen Approximationswert der Wahrheit dar, sondern den gesellschaftlich durchschnittlichen Schein. An ihm hat teil, was der unreflektierten Sozialforschung ihr ens realissimum dünkt, die Befragten selbst, die Subjekte. Ihre eigene Beschaffenheit, ihr Subjektsein, hängt ab von der Objektivität, den Mechanismen, denen sie gehorchen, und die ihren Begriff ausmachen. Der aber läßt sich bestimmen nur, indem man in den Fakten selber der Tendenz innewird, die über sie hinaustreibt. Das ist die Funktion der Philosophie in der empirischen Sozialforschung. Wird sie verfehlt oder unterdrückt, werden also bloß die Fakten reproduziert, so ist solche Reproduktion zugleich die Verfälschung der Fakten zur Ideologie." (S. 215f)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Theodor W. Adorno: Soziologie und empirische Forschung, in: Gesammelte Schriften Band 9.1 Soziologische Schriften I, Lizenzausgabe WBG, Frankfur a.M. 1998 (1972)