Benutzer:Kl833x9/Boris Nikolaewitsch Schirjaew
Boris Nikolaewisch Schirjaew (russisch Бори́с Никола́евич Ширя́ев, wiss. Transliteration Boris Nikolaevič Žirjaev, * 27. Oktoberjul. / 8. November 1889greg. in Moskau, Russisches Kaiserreich; † 17. April 1959 in San Remo, Italien[1]) war ein russischer Dissident, GULag-Häftling und Schriftsteller der zweiten Auswanderungswelle aus der Sowjetunion im Zuge des Zweiten Weltkrieges. Im Zuge der Besetzung der südrussischen Stadt Stawropol durch die deutsche Wehrmacht kollaborierte er mit den Besatzern durch die Herausgabe antisowjetischer Zeitungen und musste infolgedessen nach Italien fliehen. Er war Mitglied der Russisch-Griechisch-Katholischen Kirche in der Diaspora.
Biografie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Boris Schirjaew wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. Nach dem Abschluss eines Studiums an der historisch-philologischen Fakultät der Lomonossow-Universität Moskau war er als Lehrer und am Theater tätig. Anschließend studierte er an der Georg-August-Universität Göttingen im Deutschen Kaiserreich. Nach seiner Rückkehr nach Russland absolvierte er die Akademie des russischen Generalstabes des russischen Kaiserreichs in Nikolaew.
Erster Weltkrieg und russischer Bürgerkrieg
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Schirjaew freiwillig zum Dienst er in der russischen Armee (17. Husarenregiment in Tschernigow) und stieg in den Rang eines Stabskapitäns auf. 1918 kehrte er in das von den Bolschewiki beherrschte Moskau zurück und trat dann aufgrund eigener Überzeugung in die gegen die Bolschewiki kämpfende Freiwilligenarmee ein. Er wurde von den Bolschewiki im Verlauf der Kämpfe gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Einige Stunden vor seiner Hinrichtung konnte er nach Odessa fliehen. Von dort aus begab er sich nach Zentralasien, um dort weiterhin auf der Seite der Weißen Armeen zu kämpfen. Nach dem Sieg der Roten Armee versteckte er sich und arbeitete als Hirte. Er träumte jedoch immer davon, nach Russland zurückzukehren und begab sich nach Moskau. Dort wurde er 1922 verhaftet.[1]
Leben in der Sowjetunion
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Schirjaew wurde zunächst zum Tode verurteilt. Dieses Urteil jedoch wurde in eine 10-jährige Haftstrafe im „Solowezker Lager zur besonderen Verwendung“ (SLON) umgewandelt. Neben harter körperlicher Arbeit konnte Schirjaew am Lagertheater teilnehmen und arbeitete bei der Herstellung der Zeitschrift „Die Solowezki-Inseln“ mit. Dies war möglich, da man in den 1920er Jahren annahm, durch den Aufenthalt im SLON die Häftlinge zu aktiven Sowjetbürgern umerziehen zu können. In den Jahren 1925 und 1926 konnte er die Kurzgeschichte „1237 Zeilen“ (Zeitschrift „Die Solowezki-Inseln“ 1926, Ausgabe 4)[2] und mehrere Gedichte veröffentlichen. Zusammen mit W.N. Glubowskii sammelte er Lagerfolkore, die in einem separaten Buch veröffentlicht wurde. 1927 wurde die Haftstrafe im SLON in eine Verbannungstrafe in Zentralasien umgewandelt, wo Schirjaew als Journalist arbeiten konnte und an der Universität von Taschkent Vorlesungen hielt. In dieser Zeit publizierte er viele wissenschaftliche Beiträge, wovon der Artikel „Ein supranationaler Staat auf dem Territorium Eurasiens“ 1927 sogar in Paris veröffentlicht wurde. Als er 1932 nach dem Ende der Verbannung in seine Heimatstadt zurückkehren wollte, wurde Schirjaew in Moskau als ehemaliger SLON-Häftling präventiv erneut verhaftet und für drei Jahre in die Stadt Rossosch in der Oblast Woronesch verbannt.[1]
Nach dem Ende dieser Verbannungsfrist lebte Schirjaew von 1935 bis 1942 in Südrussland und im Nordkaukasus in Stawropol und Tscherkessk. Vor dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges gelang es Schirjaew hin und wieder als Lehrer zu arbeiten und Vorträge an Hochschuleinrichtungen des Krai Nordkaukasus zu halten. Zu Beginn des Krieges unterrichtete Schirjaew am Pädagogischen Institut Stawropol Geschichte der russischen Literatur. In dieser Zeit heiratete er seine Studentin Nina Kapralowa.[1]
Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht und Flucht nach Italien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach der Besetzung Stawropols durch deutsche und rumänische Truppen am 3. August 1942 (→Fall Blau) und der Schließung des Pädagogischen Instituts leitete Schirjaew die Redaktion der Zeitung „Stawropolskoe Slowo“, deren erste Ausgabe eine Woche nach der Ankunft der Deutschen auf vier Seiten veröffentlicht wurde. Sie war eindeutig antisowjetischer Natur, obwohl nur Nachrichten von der Front der deutschen Zensur unterworfen waren. Er betrachtete die Ankunft der deutschen Truppen als Gelegenheit, erneut gegen die Herrschaft der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion vorzugehen.[1] Vier Monate später wurde die in „Utro Kawkasa“ umbenannte Zeitung im gesamten Nordkaukasus verteilt. Neben diesen Publikationen half Schirjaew Landsleuten und erreichte die Freilassung einer Reihe von Kriegsgefangenen, wobei er seine eigene Position mehrfach riskierte.[1] Das Problem der russischen Patrioten, die bereit waren, zum Wohl des russischen Volkes mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, thematisierte er später in seinem Roman „Kudejarow Eiche“.
In Folge der deutschen Niederlage in der Schlacht von Stalingrad näherte sich die Rote Armee Stawropol, das am 21. Januar 1943 zurückerobert wurde. Schirjaew floh zusammen mit seiner Familie und den Deutschen Truppen, wobei er zeitgleich die antisowjetische Zeitung „Melitopol Krai“ herausgab. Im Juni 1943 wurde er auf die Halbinsel Krim evakuiert, wo er in der Folgezeit als Redner auf anti-bolschewistischen Kundgebungen auftrat und die deutschfreundliche Zeitung „Stimme der Krim“ veröffentlichte. In Simferopol wurde er mit der Tapferkeits- und Verdienstauszeichnung für Angehörige der Ostvölker ausgezeichnet. 1944 reiste er nach Berlin und von dort aus nach Belgrad.
Dort verbrachte Schirjaew mehrere Monate, nachdem die Krim ab April 1944 von der Roten Armee zurückerobert wurde (→Schlacht um die Krim). Im Februar 1945 wurde er mit seiner Familie nach Norditalien transportiert, wo er zwei Monate im Hauptquartier des XV. SS Kosaken-Kavallerie-Korps arbeitete und die Zeitung „Kosakenland“ herausgab.(→Helmuth von Pannwitz) Nach dem Rückzug der Kosaken nach Österreich blieb er Mai 1945 in Italien und landete in einem Lager für DP in Capua.[1]
Schriftsteller in Italien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Italien musste Schirjaew seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten verdienen um sich Zeit zu verschaffen, um Prosa und literarische Artikel schreiben zu können. Diese Periode umfasst seine Veröffentlichungen in den russischen Zeitschriften "Renaissance" (seit 1950) und "Grani" (seit 1952). Nach Ausführungen des Historikers Michail G. Talalai wurde Schirjaew zu dieser Zeit endgültig zum Schriftsteller. 1946 veröffentlichte Schirjaew in italienischer Sprache die wissenschaftliche Arbeit "Rezension der russischen Gegenwartsliteratur" (1946). Dann erschien in Rom die Geschichte "Solowezker Mette", die später in sein Buch "Die ewige Lampe" aufgenommen wurde. Die ersten drei Bücher von Schirjaew - "DP in Italien" (1952), "Ich bin ein Russe" (1953) und "Lichter des russischen Landes" (1953) - wurden in Buenos Aires mit Unterstützung des in Argentinien lebenden monarchistischen Publizisten Iwan Solonewitsch veröffentlicht, dessen Bruder Boris Solonewitsch ebenfalls auf den Solowezki Inseln inhaftiert war.
Das bedeutendste Werk Schirjaews mit dem Titel „Die ewige Lampe“, das seinem Aufenthalt im Lager auf den Solowezki Inseln gewidmet ist, wurde Mitte der 1920er Jahre begonnen und 1950 fertiggestellt. Es ist eine autobiografische Sammlung von Erzählungen über Erlebnisse des Autors im SLON. Das Buch, das dem Künstler Michail Wassiljewitsch Nesterow gewidmet ist[3], wurde erstmals 1954 im Tschechow-Verlag in New York veröffentlicht. Die zweite Ausgabe dieses Buches wurde 1991 in der UdSSR vom Moskauer Verlag "Stolitsa" nachgedruckt.
Schirjaew erhielt keine religiöse Erziehung, entdeckte aber auf den Solowezki Inseln den christlichen Glauben und konvertierte in Italien zum Katholizismus, um nicht an die sowjetischen Behörden ausgeliefert zu werden. Er übersetzte die Hymne von Franz von Assisi in die russische Sprache. Die Sammlung "Religiöse Motive in der russischen Poesie" war das letzte Buch des Schriftstellers, das nach seinem Tod vom katholischen Verlag "Leben mit Gott" veröffentlicht wurde. Schirjaew starb am 17. April 1959 in San Remo, wo sein Grab noch erhalten ist. Nach seinem Tod wanderte seine Frau Nina zusammen mit ihrem Sohn Lolly Borisowitsch in die Vereinigten Staaten aus. In den Reihen der amerikanischen Armee nahm Lolly am Vietnamkrieg teil.
Werke
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Zur Zeit (Stand Oktober 2020) ist kein einziges Buch Schirjaews in die deutsche Sprache übersetzt worden. Folgende Titel hat Boris Schirjaew in russischer Sprache veröffentlicht (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- "DP in Italien" (russisch Ди-Пи в Италии). Buenos Aires 1952
- "Ich bin ein Russe" (russisch Я — человек русский!). Buenos Aires, 1953
- "Lichter des russischen Landes" (russisch Светильники Русской Земли). Buenos Aires, 1953
- "Die ewige Lampe" (russisch Неугасимая лампада). New York. 1954
- "Der letzte Meister" (russisch Последний барин). 1954
- "Zum Problem der Intelligenz in der UdSSR" (russisch К проблеме интеллигенции СССР). München 1955
- "Kudejarow Eiche" (russisch Кудеяров дуб). 1958
- "Religiöse Motive in der russischen Prosa" (russisch Религиозные мотивы в русской поэзии). Brüssel 1960.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Michail G. Talalai: Boris Schirjaew: Noch ein Poet des russischen Roms, Toronto Slavic Quarterly 2007, Ausgabe 21, Rome and Russia in the 20th Century: Literary, Cultural and Artistic Relations, (russisch, online)
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Konstantin Lvov: Immer und überall - gegen das Sowjetregime; Solowezker Prosa und das Leben von Boris Schirjaew, Zeitschrift Geschichtsunterricht 20. Jahrhundert, 10. November 2019, Publikation der Menschenrechtsorganisation Memorial (russisch)
- Michail Melnikow Kubanski: Stawropol im Schicksalsjahr 1942, 2002, (russisch, abgerufen am 4. Oktober 2020)
Einzelnachweise und Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c d e f g Talalai: Boris Schirjaew: Noch ein Poet des russischen Roms, Toronto Slavic Quarterly 2007, Ausgabe 21
- ↑ Konstantin Lvov: Immer und überall - gegen das Sowjetregime; Solowezker Prosa und das Leben von Boris Schirjaew, Zeitschrift Geschichtsunterricht 20. Jahrhundert, 10. November 2019, (russisch, abgerufen am 03.10.2020)
- ↑ Nesterow tröstete Schirjaew am Tag seiner Verurteilung zu 10 Jahren Lagerhaft im SLON mit der Anspielung auf das dortige Kloster: „Hab keine Angst vor den Solowki. Dort ist Christus nahe.“