Benutzer:Leo Allmann/Menschenmenge/Martin Heidegger
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Bausteine
- Philosophierte Heidegger faschistisch? Ich kann nicht sagen, dass Heideggers Philosophie auf Leser wie zum Beispiel Sartre ("Das Sein und das Nichts") und Derrida (De[kon]struktion) oder Schüler/innen wie zum Beispiel Hannah Arendt (Natalität als Existential), Eugen Fink (gemeinsames Heraklit-Seminar nach '45) und Heinrich Rombach (Strukturale Ontologie) 'toxisch' gewirkt habe. Nazis konnten herzlich wenig mit seinem Denken anfangen, und kaum dürfte ein 'verführbarer' Jungphilosoph wegen Heidegger ein Neonazi geworden sein. (16.6.20)
- Reue bei Heidegger. Die Grammatik fast jeder Sprache kann man für unheilschwanger halten; denn sie pflegt einem Identitätsprinzip zu folgen, das der Rhetorik jedes politischen Totalitarismus in die Hände spielt. Ausgerechnet Heidegger (auf andere Weise, vielleicht jüdischer, Adorno und Derrida) hat diese Fatalität bei seinen philosophischen Kehr(t)wendungen kritisch bedacht und 'in die Frage' gestellt – all dem zum Trotz, was er zu seiner Zeit selber in leichtfertiger Rede verbrochen hat. Es gibt auch bei ihm, ähnlich wie beim Antisemiten Wagner, vor allem 'Noten' im Sinne maß- und tonangebender Aufzeichnungen. Die können einem sogar vorkommen, als wären sie Zeichen einer wahrhaft tätigen Reue bezüglich der weltanschaulichen Entgleisungen, die er persönlich zu verantworten hatte. Solche Zeichen lasse ich mir einer kaum einholbaren Weisheit zuliebe nicht entgehen, und ich möchte sie nicht missen. (19.6.20)
- Wege statt Werke. Das Nicht-Eindeutige ist eine Eigentümlichkeit von (unbegradigten)Wegen. Legt man sie als Werke fest, kann einem leicht ein Indizienbeweis gelingen, und das Irren ist als Irr-Lehre überführt. Die über Heideggers Gesamtausgabe stehende Losung "Wege – nicht Werke" hat meine Lesart bestimmt und ist vor allem das Wasser auf die Mühle meiner philosophischen Leselust. Nicht zuletzt demzufolge bin ich keiner, der ein teils schweifendes, teils bruchstückhaftes Philosophieren als Irrationalismus brandmarkt und stattdessen in spekulativen Systemgebäuden als den Heimstätten vollendeter Vernunft seinen ständigen Denk(ge)wohn(heits)sitz aufgeschlagen hat. / (3.7.20)
- Heidegger als Volkskritiker. Der 1989 in Deutschland eingebürgerte Ausruf "Wir sind das Volk" kommt 1934 auch bei Heidegger vor, in seiner Vorlesung "Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache" (Gesamtausgabe Band 38, S. 56) – nur nicht als Ausruf, vielmehr als Denkspruch, ist es doch eine vom Wesen der Sprache handelnde Logik-Vorlesung. Als Denkspruch bedenkt "Wir sind das Volk" das Wir und findet es dasselbe bedenklich, nicht minder bedenklich als das Ich. Während Ernst Bloch die kollektive Subjektivität als Steigerung und Erfüllung der individuellen hervorhebt – "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst" (Tübinger Einleitung in die Philosophie; erste Sätze), steht bei Heidegger Subjektivität überhaupt in Frage. Damit problematisierte er nicht zuletzt das Völkische der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, wenn auch in der besagten Vorlesung gewiss nicht in einem die Nazis unter seinen Hörern provozierenden Klartext. Diesbezüglich ging er nicht weiter als mit dem Satz: "So wie das Ich das wirkliche Selbstsein verengen und abschließen kann, so sicher kann auch ein Wir das Selbstsein zerstreuen, vermassen, verhetzen und sogar ins Verbrechen treiben." (ebd., S. 51) Dieser Satz hätte der beste Kommentar zu dem "Wir sind das Volk"-Geschrei des fremdenfeindlichen Mobs sein können, das als "Schande von Clausnitz" tituliert wurde. Darüber hinaus kann Heideggers Be/Denken derart fragend erscheinen, dass es allen in die Quere kommt, auch ihm selber in persona. Das weiß ich mit/be/denkend sehr zu schätzen. (6.7.20)
- Ver- und Entschlossenheit. Im Paragraphen 15 von Heideggers Logik-Vorlesung (GA 38) heißt es unter anderem: "Wir können uns vollkommen in die neuen Pflichten und Einrichtungen einstellen und uns doch dem eigentlichen Geschehen verschließen." (S. 74) Ist mit dem "eigentlichen Geschehen" die nationalsozialistische Revolution gemeint? Vielleicht. Dann kann der zitierte Satz durchaus verstanden werden als Eröffnung der Möglichkeit, nur formal Anteil an dieser Revolution zu nehmen, aber innerlich distanziert davon zu sein. Eine Empfehlung – mitzutun oder nicht – wird nicht ausgesprochen. An einer zweiten Stelle (S. 77) sagt Heidegger: "Wir sind entschlossen zu etwas – darin liegt, dass dasjenige, wozu wir entschlossen sind, ständig vor uns steht, all unser Sein bestimmend; es beschäftigt uns nicht gelegentlich, sondern die Entschlossenheit gibt unserem Sein eine ganz bestimmte Prägung und Beständigkeit." Das konnte auch einer sagen, der selber statt zu einer Nazi-Karriere zu einer inneren Emigration entschlossen war, und seinen Hörern freizustellen gewillt war, es ihm gleichzutun. Beide Sätze sind auch unabhängig von der damaligen prekären Situation so aussagekräftig, dass sie für mein heutiges Leben wertvoll sind. Ebenso wie eine Fülle von weiteren Sätzen dieses philosophischen Denkers. (6.7.20)
- Heidegger für alle. Mir fehlt der Ehrgeiz, ein Denken, das mich auf vielen tausend Seiten hochgradig philosophisch anspricht, durchgängig in den braunen Morast ziehen zu wollen, dem der betreffende Autor gelegentlich beim Hineintreten etwas 'Denkwürdiges' abgewann. So mag die willkommene Gelegenheit ergreifen, robust mit dem ganzen Heidegger abzurechnen, wer sich bereits von dessen erwägenswerteren Gedanken nicht angesprochen fühlt. / (19.7.20)
- Theologisch verwertete Phänomenologie. Nachspüren lässt sich unschwer der kaum verkappten Theologie, die dem nach dem "Sein" fragenden Phänomenologen Heidegger eine enorme "Kehre" wert gewesen ist, auf dass ein "anderer Anfang" mit dem zu Tode geglaubten Gott ins Blickfeld gelange. Weniger denkerisch als dichterisch sollte das zuwege zu bringen sein und mindestens so gut auf Deutsch wie auf Altgriechisch. Die jüdische Tradition und Aktualität kann ihm in dieser Domäne nicht recht gewesen sein, obwohl er sich bestimmt ebenso wenig etwa mit den "Deutschen Christen" verstanden hätte. Zu allen gewöhnlichen Geistern suchte er auf den "ontologischen" Abstand zu gehen, seien es gewöhnliche Christen, gewöhnliche Deutsche oder gewöhnliche Nazis. Auf diese Weise ist er freilich in alles ungewöhnlich verstrickt gewesen, und die Geister müssen sich an einem solchen Philosophen scheiden. – An welchem Philosophen eigentlich nicht? (20.7.20)
- Mancher ungewöhnliche Gedanken. Wie "banal" darf "das Böse" sein? Auf diese Relativierung konnte gewiss so leicht kein Zeitgenosse Hannah Arendts kommen. So wenig sie zuletzt mit Heidegger verband, ließen sich doch beide eine sehr ungewöhnliche Art von Sensibilität anmerken, die womöglich auch in beiden Fällen dem Relativierungsvorwurf standhält. Gerade in einem beispiellos apokalyptischen historischen Augenblick kann diese Sensibilität mit besonderem Nachdruck noch auf das Schlimmste überhaupt gefasst sein (wie in Heideggers "Gaskammern"-Bemerkung, GA 97, S. 99). Wann kann man denn auch sonst dafür ein schrecklich stark begründetes Vorgefühl haben? Dass ihr äußerst schmerzvoll gegenwärtige Böse erwies sich Hannah Arendt vielleicht als noch banal im Verhältnis zum vollends ungewöhnlichen – Heidegger würde sagen: seinsgeschichtlich noch ausstehenden. Was doch Menschen so alles durch den Kopf geht – und anderen nicht hinein will! (20.7.20)
Wikipedia
- Martin Heidegger (26.9.1889 - 26.5.1976)
Audio/Video
- Ein Blick aus der Nähe (Arnulf Heidegger 2018, Youtube, 45 Minuten)
Literatur
- Kabale. Das Geheimnis des Hebräischen Humanismus im Lichte von Heideggers Denken (Michael Chighel, Klostermann [Rote Reihe], 2020, S. 3-294)
- Buchbesprechung: Francois Rastier, Schiffbruch eines Philosophie. Heidegger heute (Harald Seubert, Aufklärung und Kritik 4/2017, S. 269-272)
- Heideggers Schwarze Hefte und der "metaphysische Antisemitismus" (Harald Seubert 14.9.2016 [Vortrag], Aufklärung und Kritik 4/2017, S. 7-28)
- Existentielle Stimmungen [Heidegger] > Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben (Ursula Wolf 1998, Rowohlt [rde], 1999, S. 92-94)
- Heideggers Verbindung von Existenzphilosophie und Hermeneutik > Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben (Ursula Wolf 1998, Rowohlt [rde], 1999, S. 156-172)
- Die seinsgeschichtliche Überwindung der Philosophischen Theologie bei Heidegger > Der Gott der Philosophen. Band 1 (Wilhelm Weischedel 1970, dtv, 1985, S. 458-494)