Benutzer:Proofreader/Tagebuch eines Inneren Emigranten
Tagebuch eines Inneren Emigranten - Eine Parabel
mit Dank an Benutzer:Hans Peter für die Inspiration
Zwar wird gerne mit „demokratischen Elementen“ wie der Tatsache geworben, dass jeder im Prinzip die gleichen Rechte habe, am großen Projekt mitarbeiten könne, wie jeder andere auch, aber wenn man nachfragt, stößt man auf das Bekenntnis zum Machiavellismus. Natürlich sei das Projekt alles andere als eine Demokratie, die sei ja auch gar nicht erwünscht, würde das Projekt gefährden, sei auch gar nicht machbar. Ein Projekt wie dieses könne nur mit einer wohlwollenden Diktatur der Elite funktionieren. Ich bin aus dem Osten, ich bin den zynischen Umgang mit der Demokratie gewohnt. Ich lese gerne Geschichtsbücher. Seit 1989 darf ich sogar die lesen, in denen es steht, wie es wirklich gewesen ist. Zum Beispiel, wie nach 1945 ein Herr Ulbricht zu seinen Genossen sagte: „Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen die Fäden in der Hand halten.“ Herr Ulbricht wurde gewählt. Demokratisch. Wer ihn nicht leiden mochte, nun, dem stand das „Right to leave“ frei. Wichtig war, dass der Mann das Projekt DDR sicherte. Gegen Trolle und Vandalen. Misstrauen gegen das Fußvolk ist das Kennzeichen jeder Elitenherrschaft. Wir wissen, wie es richtig laufen muss, sagen sie. Wir, die Partei, haben immer Recht. Selbstkritik nützt nur den Feinden, die das Projekt kaputt machen wollen.
Symptomatisch ist die Haltung: Wer die Führung kritisiert, der ist ein Saboteur, der meint nicht uns und unsere Arbeit, sondern das Projekt. Nun ist es wahr, dass es Saboteure gibt. Die Unverbesserlichen, die Faschisten, die nichts gelernt haben. Die gehören rausgeschmissen und gesperrt, keine Frage. Wer bestimmt nun, wann es sich bei einem Kritiker um einen „Störenfried“ handelt? Wer hat da also die Definitionsmacht? Eine Demokratie, haben wir gelernt, will und soll das Projekt nicht sein, also entscheidet die Elite, die Avantgarde, denn die hat ja das richtige Bewusstsein. Es sind die Wenigen, die da oben. Und weil es wenige sind, haben sie Angst vor der Masse. Es muss aber wie Demokratie aussehen, also sind die Machtmechanismen subtil. Man versucht es mit Unterstellungen: Wer Kritik an der Führung wagt, sei destruktiv, die Betreffenden Saboteure würden praktisch keinen konstruktiven Beitrag zum Projekt leisten. Die Fälle gibt es, es gibt aber auch die gegenteiligen Fälle: Leute, die ihr Arbeitssoll übererfüllen, die konstruktive, fundierte, ideenreiche, gute Arbeit, gerade auch in der Qualitätssicherung geleistet haben. Denen aber das Kastenwesen nicht gefällt, die Selbstgefälligkeit mancher Parteigrößen, ihr Umgang mit unbequemen Kritikern, ihre mangelnde Selbstkritik. Und manche dieser Größen hatte nie einen Spaten in der Hand. Sie sind gleicher als gleich. Gewähren sich selbst Privilegien. Einmal in Amt und Würden, haben diese Größen praktisch eine Amtsstellung auf Lebenszeit, wenn sie nicht gerade kriminell werden. Apparatschiks also, wenn man unhöflich wäre, könnte man sie auch Bonzen nennen, Bonzen sind ein Kennzeichen jeder dictatorship, ob benevolent oder weniger benevolent. Eine demokratische Abwahl ist nicht vorgesehen.
Manchmal ruft jemand nach Reformen, Perestroika, Ernst genommen wird er natürlich nicht. Ich selbst gelte als fleißiger Arbeiter, sozusagen ein Stachanow der Wikipedia, dadurch gelte ich wohl bei einigen Apparatschiks als einigermaßen systemkonform. Ich habe allerdings einen kleinen Fehler. Ich habe ein Faible für Individualisten, ja, ich bin selbst einer. Ein Querkopf. Ich bin diplomatisch genug, das nicht jedem gleich auf die Nase zu binden. Aber ich habe Sympathie für andere Querköpfe, für Leute, die Fragen stellen, auch unbequeme. Ich teile oft nicht deren politische Farbgebung oder inhaltliche Position. Aber meine Devise ist da diese (sie wird gern Voltaire zugeschrieben): Du bist anderer Meinung als ich und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen. Beim Aufbau des Projekts wurde mehr als ein unbequemer Meinungsaussprecher für seine Kritik an der Obrigkeit geschasst, mundtot gemacht. Ich, wie gesagt, gelte als Rad im Getriebe, das erleichtert mir den Zugang zum Inner Circle. Der Stachanow ist nämlich sozusagen auch ein Wallraff, der auch mal das Ohr an die Wand hält, um zu hören, wie es denn zugeht, „ganz oben“. Und da hört er das joviale Geplauder der Genossen. Das Volk ist dumm, es gehört regiert, das ist ganz natürlich. Sagen sie. Und überhaupt, was soll die Kritik an uns, wir meinen es doch gut und wir lieben sie doch letztlich alle. Und sie lieben uns auch, weil wir das Projekt voranbringen. Denn uns in unserem produktiven Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. Sagen sie. Und glauben es auch. Einige sind Zyniker, bekennende Arschlöcher, Machiavellisten. Die da unten wollen betrogen werden. Sagen sie. Andere kuschen oder fügen sich in das scheinbar Unvermeidliche. Wir machen eben die Drecksarbeit. Sagen sie. Uns dankt es sowieso keiner. Viele glauben, dass gute Arbeit nur geleistet wird, wo Druck, vielleicht sogar Zwang herrscht. Klare Strukturen, feste Regeln, deren Übertretung unnachgiebig geahndet wird. Wenn der Wunsch aufkommt, überkommene Regeln zu ändern, wittern sie einen Angriff auf ihre Privilegien. Vielleicht überkommt den einen oder anderen verdienten Genossen trotzdem ein schlechtes Gewissen. Ob das immer so richtig ist, wenn hart zugegriffen wird. Wo gehobelt wird... beruhigt man ihn und verweist auf die gute Sache, den Internationalismus, das hehre Ziel. Das System scheint übermächtig, unausweichlich. Von den Hundertprozentigen werden Schreckensszenarien ausgemalt: Willst du, dass das Projekt zugrunde geht? Stell es dir vor, was passiert, wenn die Saboteure, die Vandalen siegen. Das kannst du doch nicht wollen. Nein, das will man nicht. Also geht man in die innere Emigration. Denn eine Revolution, einen Putsch, einen Umschwung, sowas kann es unter diesen Umständen ja doch wohl nicht geben. Denn die Mauer, soviel steht fest, steht noch in hundert Jahren, Im inneren Kreis wird sie keiner umreißen.
Und ich nehm das Ohr von der Wand und denke mir meinen Teil. Schreib Unbequemes in mein Tagebuch, bin also nicht viel besser als die Mitläufer (bin ja selber einer), und schaue den Rebellen zu, wie sie von den Sicherheitsorganen drangsaliert werden, wie man ihnen den Prozess macht. Ganz legal natürlich. Das herrschende Recht ist das Recht der Herrschenden, alte sozialistische Weisheit. Und wenn ich den Mund zu weit aufmache, bin ich der Nächste. Ein Demokratietroll, der das Projekt gefährdet. Ich erfülle mein Pensum, übererfülle es um 350 %, wahrscheinlich sind die fleißigsten Menschen die, die ihre Wut damit kompensieren. Die haben soviel Energie, dass es auch noch für etwas Freizeit reicht. Und in der Freizeit träumte der Angeklagte. Und las George Orwell.
PS: Es ist nur eine Parabel, ich habe mir die dichterische Freiheit genommen, Dinge, die ich in der realen Welt beobachtet habe, zu überzeichnen. Damit sie deutlicher werden. Bekanntlich kann die subjektive Schilderung der Dinge bisweilen manches klarer erscheinen lassen, wenn man die richtigen Worte und Bilder wählt. Ich hoffe, der Leser hat hier und da einen aha-Effekt.
Zum Weiterlesen: Löschantrag 20.9.2006