Benutzer:Tickle me/Murad Hofmann

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islam.de - Druckdokument - Samstag, 11.03.06 http://www.islam.de/?site=articles&archive=newsnational&article_number=2199

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Montag, 30.08.2004

"Wir müssen durch Parteieintritt - in alle wirklich demokratisch gesinnten Parteien - dazu beitragen, dass die Parteiprogramme islamkonformer werden" Murad Hofmann spricht "Tacheles" zum Demokratieverständnis im Islam, Muslime in westlichen Parteien und den Ergebnissen der Tagung "Islamic Governance" an der Königlichen Akademie für Islamisches Denken im Amman (Jordanien).

Dr. Murad Wilfried Hofmann gehört zu den profundesten deutschsprachigen Kennern des Islam und der islamischen Welt. Der promovierter Volljurist arbeitete 33 Jahre im diplomatischen Dienst, zuletzt als Botschafter in Algerien und Marokko. Er konvertierte 1980 zum Islam, vollzog mehrfach die Pilgerfahrt nach Mekka. Das heutige Ehrenmitglied des Zentralrates der Muslime in Deutschland war von 1983-1987 Informationsdirektor der NATO. Er hat zahlreiche Bücher über den Islam geschrieben, die in vielen Sprachen der Welt übersetzt worden sind. islam.de sprach mit ihm über islamisches Demokratieverständnis, Muslime in westlichen Parteien und den Ergebnissen der Tagung "Islamic Governance" Hier einige Zitate vorweg:

"Ich vermisste auf Seiten der arabischen Muslime vor allem das Gefühl für die Dringlichkeit demokratischer Reformen"

"...... zur Verhinderung von Machtmißbrauch ist Demokratie nicht nur mit dem Islam kompatibel, sondern jeder anderen Regierungsform überlegen (...)1300 Jahre überwiegend despotischer muslimischer Geschichte sollten uns davon überzeugen."

"..... überzeugen, dass sie ihre Schweinshaxe und ihr Kölsch mit Schuss auch dann noch genießen könnten, wenn die Muslime zur Mehrheit würden."


Die Tagungen der Königlichen Ahl al-Bait Foundation for Islamic Thought in Amman (Königlichen Akademie für Islamisches Denken) finden alle zwei Jahre statt und gelten als überaus ergiebig und intellektuell solide (islam.de berichtete). Dr. Murad Hofmann ist dort Vollmitglied und kommt gerade aus Amman zurück.

islam.de: Herr Dr. Hofmann, welche Botschaft geht von der Tagung nach Ihrer Sicht aus und welches herausragendes Ergebnis würden Sie hierbei feststellen wollen?

Dr. Hofmann: Die Ahl al-Bayt Foundation for Islamic Thought in Amman ist zweifellos die seriöseste der von mir periodisch besuchten islamischen Konferenzen. Ihre Qualität beruht auf einer ausgewogenen Mischung von östlichen und westlichen Muslimen, Professoren und Imamen sowie Sunniten und Schiiten. Allerdings ist eine Überalterung der Teilnehmer unübersehbar. 2004 ging es um "Islamic Governance", d.h. die islamische Regierungsform, also ein hochaktuelles Thema. Dabei fiel auf, dass die meisten Muslime aus den muslimischen Kernländern keinen Gegensatz zwischen Schura und Demokratie sehen, obwohl Schura doch nur einen kleinen Aspekt dessen abdeckt, was westliche Muslime mit Demokratie verbinden, nämlich republikanische Staatsform, Gewaltenteilung, Rotation der Staatsämter aufgrund allgemeiner Wahlen, Rechtsstaatlichkeit im Verfassungsstaat. Die nichteuropäischen Muslime stolpern immer noch all zu oft darüber, dass Demokratie wörtlich "Volksherrschaft" bedeutet. Diese nominalistische Denkart hindert sie auch zu erkennen, daß Parlamente in westlichen Demokratien keineswegs beschließen können, was sie wollen, sondern - ebenso wie in einer "Schurakratie" - an unabänderliche Verfassungsvorgaben gebunden sind. Bei Muslimen spielt halt die göttliche Scharia diese begrenzende Verfassungsrolle.

islam.de: Welchen praktischen Nutzen/Wert kann dieses Ergebnis für die hier lebenden Muslime haben und was können sie tun, damit die Gedanken und Arbeiten der Tagung in die gesellschaftspolitische Arbeit der Muslime mit einfließen?

Dr. Hofmann: Dass alle Teilnehmer außer mir sich offensichtlich scheuten, auf dem Boden eines haschemitischen Königreichs die Frage nach der islamischen Staatsform zu diskutieren, trug zu dem zwar intellektuell stimulierenden aber nicht-konkludenten Ergebnis der Tagung bei. Ich vermisste auf Seiten der arabischen Muslime vor allem das Gefühl für die Dringlichkeit demokratischer Reformen. Manche begnügten sich sogar mit dem Hinweis, dass das notwendige Maß an Beratung (Schura) ausweislich des Qur`an ja schon von der Königin von Saba verwirklicht worden sei... Wir können nur hoffen, dass sich die positive Einstellung vieler im Westen lebender muslimischer Denker, darunter Fathi Osman, Taha Jabir al-Alwani, Rashid al-Ghannouchi, Jeffrey Lang und Azam Tamimi, immer stärker von der muslimischen Kernwelt absorbiert wird.

islam.de: Sie haben wegen ihren ausgedehnten Vortragsreisen viele Länder besuchen können, insbesondere im Westen, können Sie uns Beispiele gelungener Umsetzungen dieses Konzeptes nennen?

Dr. Hofmann: Ich sehe mich als eine Art Brückenbauer, der auf seinen Vortragsreisen im Westen und im Osten von beiden Seiten gleichzeitig an einer Begegnung der beiden Welten arbeitet; denn die Missverständnisse und das Misstrauen auf beiden Seiten sind monumental. Leider leisten die meisten westlichen und östlichen Medien keine Aufklärungsarbeit, sondern oft eher propagandistische Desinformation. Seit dem 11. September ist auf beiden Seiten Angst hinzugetreten und damit emotional geschürte Irrationalität. Zumal die Muslime im Westen zu Geiseln von Terroristen geworden sind, welche den Islam im Mund führen, kann ich keine nachhaltige oder gar dauerhafte Erfolgsbilanz aufweisen. Es mag schlechter werden, bevor es besser werden kann.

islam.de: (Scheinbar hinkt Deutschland da hinterher), umso interessanter: In vielen Teilen Deutschlands stehen dieses Jahr z.Z. Kommunal -und Landtagswahlen an, wie kann eine aktive Beteiligung am politischen (Meinungsprozess) dafür aussehen?

Dr. Hofmann: Die Muslime in Deutschland sind auch dann von den hiesigen politischen Prozessen betroffen, wenn sie wie Opfer abseits stehen; dann ist es aber doch ihre Pflicht, sich in die Politik so einzubringen, daß der Islam ein von allen Parteien zu berücksichtigender Faktor vor und nach der Wahl wird. Dies ist keine Assimilation, sondern ein Schritt hin zu der von uns zu erwartenden Integration in die Mehrheitsgesellschaft, als einer ihrer unverwechselbaren Bausteine. Eine islamische Partei zu gründen, liefe auf eine Verschwendung muslimischer Wahlstimmen hinaus. Aber wir dürfen auch nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag auf eine Partei warten, deren Gesamtprogramm, innen- wie außenpolitisch, uns behagt. Vielmehr müssen wir durch Parteieintritt - in alle wirklich demokratisch gesinnten Parteien - dazu beitragen, dass die Parteiprogramme islamkonformer werden, so wie dies auch Katholiken, Protestanten und Juden tun. Insgesamt handelt es sich dabei um die Verwirklichung des Fiqh-Grundsatzes, dass man - vor zwei Übeln stehend - das geringere Übel wählen muss. Politische Isolation wäre jedenfalls das größere Übel.

islam.de: Ein Teil der Muslime macht sich immer noch mit Begriffen Demokratie und Volksvertretung schwer, was würden Sie denen zurufen und empfehlen?

Dr. Hofmann: Als eine Ideologie können wir uns mit Demokratie nicht anfreunden, aber als ein Mechanismus zur Verhinderung von Machtmissbrauch ist Demokratie nicht nur mit dem Islam kompatibel, sondern jeder anderen Regierungsform überlegen; denn nur Demokratie garantiert hinreichend, dass auch die Kontrolleure kontrolliert werden. 1300 Jahre überwiegend despotischer muslimischer Geschichte sollten uns davon überzeugen.

islam.de: Fehlt es etwa an einer Entwicklung einer politischen Kultur unter den Muslimen, oder erstickt gar die stete existenzielle Betrachtungsweise (alles oder nichts, Islam oder kein Islam) jede politische Betätigung, wo es ja vornehmlich um auf Kompromiss aufgebaute Entscheidungen geht?

Dr. Hofmann: Es gibt viele Gründe dafür, warum es in der muslimischen Welt bisher - außer in Malaysia - zu keiner wirklich demokratischen Entwicklung gekommen ist. Dieser Negativbefund ist schließlich für den größten Teil der Menschheit typisch - noch immer in Asien, Afrika und vielfach in Südamerika. Schließlich ist die erst seit 1950 dauerhafte Demokratie hierzulande den Deutschen auch von außen aufgezwungen, nicht von ihnen selbst erkämpft worden. Besondere Hindernisse für eine demokratische Entwicklung in der muslimischen Welt sind in folgenden Faktoren zu sehen: (i) Fehlen einer Zivilgesellschaft; (ii) Bunkermentalität zufolge der Kolonisierung; (iii) schlechte Erfahrungen mit Demokratien (u.a. in Kaschmir, Algerien, Palästina und Tschetschenien); (iv) westliche Unterstützung von absolutistischen und Militärregimen in der muslimischen Welt; (v) PALÄSTINA. Niemand hat Demokratie in der 3. Welt so stark diskreditiert wie imperialistisches Auftreten der USA und ihre Mittäterschaft in Palästina. Hinzukommt die unhistorische sektiererische Intoleranz unter zeitgenössischen Muslimen, die mangelnde Transparenz ihrer Organisationen und der oft zu geringe Bildungsgrad ihrer Imame.

islam.de: Warum diskutieren oft Teile der Mehrheitsgesellschaft über die Beteilung der Muslime in der Politik unter dem Deckmantel der islamischen Infiltrierung unserer Gesellschaft? Stichwort Gang durch die Institutionen - , bei anderen Gruppierungen z.B. Juden, Christen oder anderer relevante Gruppen dieser Gesellschaft erkennt man es an als ein ehrenwertes und ziviles Bürgerrecht an, von dem eine demokratische Gesellschaft ja letztendlich lebt?

Dr. Hofmann: Da Europa in geradezu erschreckendem Ausmaß entchristlicht und damit irreligiös geworden ist, empfinden viele der säkularisierten Europäer jede Form aktiver, in den öffentlichen Raum hineingetragener Religiosität als eine Gefahr für die inzwischen etablierte materialistische und konsumeristische Lebensform. Man fürchtet für seine "Wellness" wie für seine legalisierte Drogenwelt (Nikotin, Alkohol, Haschisch) für den Fall, dass die Muslime das Sagen hätten, so unwahrscheinlich dies statistisch gesehen auch ist. Religionen werden nur noch toleriert, wenn sie zu einer bloßen Privatangelegenheit, also "privatisiert" werden. Vor den Muslimen erschrickt man, weil nur sie ihre Religion noch ganz ernst nehmen und in ihr eine allumfassende Lebensform (ad-din) sehen. Es ist daher essentiell, dass die hiesigen Muslime ihre Umwelt davon unterrichten, dass das islamische Minderheitenrecht das liberalste Statut für Andersgläubige ist, das die Welt bis heute gesehen oder normiert hat. Nur so können wir hoffen, unsere Nachbarn davon zu überzeugen, dass sie ihre Schweinshaxe und ihr Kölsch mit Schuss auch dann noch genießen könnten, wenn die Muslime zur Mehrheit würden.

islam.de: Bruder Murad, wir danken Ihnen für das Gespräch.(Das Interview führte Aiman Mazyek, Chefredakteur islam.de)

Religion als Privatsache

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http://www.i-g-d.com/Religion%20als%20Privatsache.htm (11.03.2006 19:28)

Religion als Privatsache ? - Zur Rolle der Religion im Öffentlichen Raum - von

Murad Wilfried Hofmann.

Die gestellte Frage nach der Rolle der Religion im Staat - Privatsache oder nicht ?- fragt letztlich nach der heutigen Bedeutung des Säkularismus. Ich möchte mich dem mit folgenden Thesen nähern:

1. Säkularismus ist eine weltgeschichtlich junge Erscheinung. 2. Säkularismus ist eine in der Welt begrenzte Erscheinung. 3. Säkularismus funktioniert entweder als Religionsersatz oder gar nicht. 4. Es ist an der Zeit, Säkularismus als Projekt ernsthaft zu hinter fragen.

(1) Im Laute der Menschheitsgeschichte hat es immer wieder Bemühungen um eine Entzauberung und Entsakralisierung der Natur gegeben, übrigens auch im Islam; man denke an lbn Rushd alias Averroes. Doch der Versuch einer radikalen Trennung von Staat und Kirche, Staat und Religion, wurde im Anschluß an Renaissance, Humanismus, Aufklärung. französische Revolution, Industrialisierung und Wissenschaftsgläubigkeit (Szientismus) erst im 19. Jahrhundert unternommen. Triebfeder dafür war ein im wesentlichen europäisch-christliches Phänomen: ein bürgerlich-republikanischer Anti-Klerikalismus, der sich gegen das hier typische Bündnis von Altar und Thron richtete. Säkularismus wurde dabei zu einem Bestandteil der emanzipatorischen Demokratie-Bewegung, von Liberalismus und Kommunismus zugleich.

Die maßgeblichen Schritte auf diesem Weg wurden erst vor relativ kurzem unternommen, nämlich 1855 mit der (1917 bestätigten) radikalen Trennung von Kirche und Staat in Mexiko sowie am 09. 12. 1905 mit der entsprechenden Gesetzgebung in Frankreich. Der türkische Säku1arisnus, dort fälschlich laiklik genannt, datiert aus noch jüngerer Zeit: Aus dem Jahre 1928, als Säkularismus zu einer der sechs Säulen des Kemalismus erklärt wurde.

Das Phänomen “Säkularismus‘ ist in der Tat so neu, daß es dafür im Arabischen bis vor kurzem nicht einmal eine Vokabel gab. Inzwischen hat man aus der linguistischen Wurzel für “die Welt“ – al-‘alam - bzw. “weltlich“ - ‘alami - immerhin das neue Wort “‘almaniya“, also “Weltlichkeit“ für das säkularistische Phänomen in Umlauf gebracht

(2) Wie schon aus diesen wenigen, abschließenden Fällen erhellt, ist Säkularismus zumindest im radikalen Sinne eine geographisch recht begrenzte Angelegenheit. Insbesondere Europa hat mit der einzigen Ausnahme Frankreichs Religion nicht wirklich aus der Öffentlichkeit verbannt. Die englischen und skandinavischen Monarchen sind nach wie vor Oberhaupt ihrer anglikanischen bzw. lutherischen Kirchen. Deutschland ist geradezu vorbildlich mit seiner Integration der Religion in den öffentlichen Raum. Man denke nur an

  • die Erwähnung Gottes im Grundgesetz,
  • die Einziehung von Kirchensteuer,
  • den staatlichen Schutz kirchlicher Feiertage,
  • den Blasphemie-Paragraphen im StGB,
  • das Schwören von Eiden vor Gericht und in der Bundeswehr,
  • die kirchliche Repräsentanz in Aufsichtsgremien der Medien,
  • die staatliche Mitwirkung an der Ernennung katholischer Bischöfe gem. Konkordat,
  • die staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts,
  • die gewohnheitsrechtliche Befugnis zum Läuten von Kirchenglocken,
  • die Ansprachen von Bundespräsident und Bundeskanzler an Weihnachten.

Auch die Türkei ist zwar ein laizistisches Land, womit der Islam keine Probleme hat, aber keineswegs ein säkularistisches; denn die türkische Republik ist nicht etwa religiös neutral, sondern mischt sich ungemein kräftig in das religiöse Leben ein. Eine wirklich säkularistische Türkei würde keinen Diyanet Bakani haben, keine Imame und Muadhdhine besolden sowie weder Moscheen noch Religionsattaches unterhalten, niemandem den Inhalt seiner Freitagspredigt vorschreiben und auch kein Kopftuch verbieten. Der türkische Säkularismus trennt den Staat von der Religion, aber nicht die Religion vom Staat.

Kurzum, man muß nach wirklich säkularistischen Gemeinwesen mit der Lupe suchen.

(3) Diese Feststellung kann nicht verwundern, solange man sich bewußt bleibt, daß Religion staatliche Autorität begründet Wertmaßstäbe setzt sowie ethische Anforderungen stellt und damit Staat und Gesellschaft stabilisiert. Gewiß, sobald Religion und Staat getrennt waren, versuchten faschistische, kommunistische und nazistische Ideologen Staat und Moral aus sich heraus zu begründen. Doch diese Versuche sind nicht nur sämtlich gescheitert; sie hatten zufolge der Vergötterung von Staat und Nation fatale Folgen für die blutige europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Im Westen vergötterten säkularistische Ideologen zwar nicht Staat und Nation, wohl aber das Individuum; die Folgen waren und sind ebenfalls fatal. Schließlich wären der krasse westliche Materialismus und Konsumerismus ohne die Verbannung der Religion ins Private undenkbar. Dann hätten wir es gewiß auch nicht mit so viel moralischer Libertinage zu tun, also auch nicht mit so viel Alkoholismus, Drogenkonsum, Jugendkriminalität, Kinderpornographie, Abtreibung, Gewalt in der Schule, aggressiver Homosexualität und lnternet-Autismus.

Im moralischen Bereich erlebt der säkulare Staat eben seine Grenzen. Das Abschieben der Religion ins Private – chacun a son gou t - erwies sich als erster Schritt zu ihrer Abschaffung als gesellschaftlich wirksame Kraft. Krass gesagt: Ohne verfaßte Religion geht jeder Staat früher oder später, aber ganz sicher, moralisch bankrott. Auch religiöse Sekten können das nicht verhindern.

(4) Vor diesem Hintergrund ist m.E. unumgänglich, daß man das fast Undenkbare denkt und das fast Tabuisierte tut: Die Doktrin von der Begründung des modernen Staates auf seiner Trennung von Religion Zu hinterfragen. Zumindest sollten säkularistisch denkende Menschen einräumen, daß z.B. die katholische und muslimische Kritik am Dogma der Säkularität keineswegs “vormodernes“ Denken verrät.

Bei diesen reformistischen Bemühungen sollten insbesondere folgende Ereignisse in Betracht gezogen werden:

  • Der europäische Säkularismus hat sich ursprünglich aus einem militanten Laizismus bzw. einem radikalen Anti-Klerikalismus entwickelt, also aus einer historisch gewachsenen lokalen Situation. Es ging konkret um Bekämpfung des politischen und wirtschaftlichen Machtmil3brauchs der christlichen Kirchen.

Daraus können somit keine Lehren für den staatlichen Umgang mit unkirchlichen Religionen wie dem Islam gezogen werden.

  • Die Säkularisierung des 19. Jahrhunderts fußte stark auf der damaligen natur- und geisteswissenschaftlichen Arroganz wie sie von Atheisten wie Feuerbach, Marx, Darwin und Freud prototypisch repräsentiert wurde. Heute sehen wir - zumal nach der quantenphysikalischen Revolution - keinen absolutere Widerspruch mehr zwischen Vernunft und Glauben, Wissen und Offenbarung. Die Naturwissenschaft ist sogar mit wie Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg selbst wieder religiös, ja sogar mystisch angehaucht geworden.
  • Die Säkularisierurig gipfelte schließlich im sog. Projekt Moderne, dessen Verheißungen von Fortschritt, Wohlstand und Frieden entsetzlich enttäuscht wurden - mit unmoralischen Exzessen ungeahnten Ausmaßes wie Kolonisierung, Gaskrieg, Atomkrieg, Bombenkrieg und Holocaust. Der moderne Staat und sein vorgebhicher Humanismus wurden so fundamental diskreditiert; daß man einfach nicht weitermachen kann, als sei nichts geschehen.

Schon aus diesen drei Gründen erscheint es mir nicht nur legitim, sondern notwendig, daß man sich im Westen erneut mit dem auseinandersetzt was Säkularismus praktisch - außer Neutralität des Staates gegenüber seinen Religionen und ihre Gleichbehandlung - bedeuten soll.

In Deutschland gibt es dabei keinen Nachholbedarf, wie ich schon aufgezeigt habe. Hier geht es nur um die Durchsetzung der Gleichbehandlung aller Religionen, darunter des immer noch diskriminierten Islam.

In Frankreich jedoch gibt es nicht nur Nachholbedarf; dort wird bereits erheblich an der Rechtslage von 1905, dem laicisme absolu, gekratzt. So hat sich der derzeitige Innenminister befugt gefühlt die muslimische Umma in Frankreich von Staats wegen zu organisieren. Er hat darüber hinaus sogar Einfluß auf die Wahl des Vorsitzenden dieses Dachverbandes genommen - ein bisher undenkbares Verhalten. Des weiteren halten sich französische Gemeinden inzwischen dazu befugt, Muslimen Grundstücke für den Bau von Moscheen zur Verfügung zu stellen - mit der amüsanten Begründung, daß die Muslime damit lediglich rückwirkend den Katholiken gleichgestellt würden, die ja ihre Kirchen vor 1789 auch aus öffentlichem Besitz erworben hätten.

(5) Nach allem ist die richtige Fragestellung nicht, ob Religionen eine Rolle im öffentlichen Raum zu spielen haben, sondern welche Religionen ? Damit möchte ich den Finger darauf legen, daß Staatswesen in dem Maße von Pseudoreligionen, d.h. Ideologien, bestimmt werden; in dem sie echte Religion verbannen. Die Alternative ist also nicht Religion oder keine Religion, sondern Religion oder Ideologie.

Dafür sind Frankreich und die Türkei prächtige Beispiele. Mustafa Kemal hat dort inzwischen quasi den Status eines Heiligen, ja eines Propheten, erreicht, der dem Land auf ewige Zeiten den richtigen Weg gewiesen hat. Er ist weiterhin über jede Kritik erhaben. Nationalfeiertage und Schulappelle werden mit religiösem Pathos begangen. Und wenn türkische Soldaten ohne religiöse Bindung und Betreuung im Bürgerkrieg gegen die kurdische Minderheit fallen, werden sie “sahit “genannt. Jede religiöse Regung wird als “Extremismus“ bezeichnet und vom Militär und dem Bildungswesen mit Inbrunst bekämpft.

Ähnlich hat “la grande France“ inzwischen geradezu mythologische Bedeutung gewonnen und ist zu einer Wesenheit geworden, die jedes Opfer wert ist.

Wir müssen uns daher bewußt werden, daß Religion nirgendwo nur Privatsache ist, und gute Mine zu der Rolle zu machen, die Religionen nun einmal unvermeidlich im öffentlichen Raum spielen.

Darunter in Deutschland als eine staatstragende Religion der Islam.