Benutzer:Toblu/Examenswissen/Sittenwidrigkeit
Das BGB ist grundsätzlich von dem Prinzip der Privatautonomie geprägt. Diese Freiheit, sich selbst in Rechtsgeschäften beliebig zu verpflichten, ist auch durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Dennoch ist die Privatautonomie nicht schrankenlos gegeben. Im BGB wird diese beispielsweise durch direkt oder indirekt verbraucherschützende Vorschriften, außerdem beispielsweise durch das überwiegend den Arbeitnehmer schützende Arbeitsrecht eingeschränkt.
Weitere Schranken der Privatautonomie finden sich in den allgemeinen Gesetzen (und damit § 134 BGB) sowie der Rechtsausübungsschranke des Grundsatzes von Treu und Glauben - § 242 BGB. Eine weitere, hier ausführlich behandelte Schranke der Privatautonomie sind die „guten Sitten“ – manifestiert in § 138 BGB.
Gemäß § 138 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, nichtig. Doch was ist in diesem Sinne unter „guten Sitten“ zu verstehen? Die allgemein verwandte Formel vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ ist keineswegs eine aus sich selbst heraus verständliche Auslegungshilfe.
Nachfolgend wird beschrieben, welche Tatbestandsvoraussetzungen § 138 BGB hat, insbesondere, was im Sinne der Vorschrift unter „guten Sitten“ verstanden wird. Weiterhin werden die Rechtsfolgen von § 138 BGB beschrieben, der Grundsatz der „ex tunc Nichtigkeit“ und dessen Ausnahmen, die Auswirkungen des Abstraktionsprinzips sowie die weiteren Rechtsfolgen der Vorschrift. Anschließend werden die wesentlichen Anwendungsfälle von § 138 BGB dargestellt, wobei sich die Darstellung auf die klausur- und examensrelevanten Anwendungsfälle konzentriert.
Der Tatbestand des § 138 BGB
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Objektiver Tatbestand
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Begriff der „guten Sitten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Begriff der guten Sitten wird allgemein mit dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ umschrieben. Damit wird ausgedrückt, dass es nicht auf das Verständnis einer Person mit besonders strengen oder besonders lockeren Maßstäben, sondern auf den „verständigen Durchschnittsbürger“ ankommt. Mit dieser Formel ist allerdings allein noch nicht viel gewonnen. Offensichtlich sind Maßstäbe zur Konkretisierung dieses „Anstandsgefühls“ zu suchen.
Alte Lehre – Moralempfinden
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ursprünglich wurde § 138 BGB vor allem moralisch, „sittlich“ ausgelegt. Zur Einführung des BGB ging man davon aus, dass gesellschaftlich einheitliche moralische Maßstäbe existierten, dass, wenn auch nicht jeder moralisch handelte, einheitlich bekannt sei, was moralisch und sittlich sei. Diese, als kollektiv verständlich und einheitlich anerkannt angesehene „bürgerliche Sittlichkeit“ sollte auch zur Auslegung des § 138 BGB herangezogen werden. Dies wird in einigen Entscheidungen des Reichsgerichts deutlich.[1]
Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solch einheitliches Sittlichkeitsverständnis tatsächlich jemals existierte oder nur behauptet wurde. In der modernen, pluralistischen Gesellschaft existiert es jedenfalls nicht mehr. Zudem ist der Begriff der Sittlichkeit nicht nur einem ständigen Wandel unterworfen, sondern auch äußerst ideologieanfällig – man denke an den, dem Verständnis einer allgemein anerkannten Sittlichkeit zumindest nahestehenden Begriff des „gesunden Volksempfindens“ im Dritten Reich.
Es gilt daher, neue, „entmoralisierte“ Maßstäbe zur Auslegung von § 138 BGB zu finden.
Drittwirkung der Grundrechte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wie aus Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG folgt, ist die Staatsgewalt, damit auch der im Einzelfall entscheidende Richter, vor allem dem Gesetz unterworfen. Es gilt also zunächst Maßstäbe zum Verständnis von § 138 BGB zu finden, die sich aus der Rechtsordnung selbst ergeben. Ein wesentlicher Ansatzpunkt sind hierbei die Grundrechte des Grundgesetzes.
Die Grundrechte sind ursprünglich und vor allem Abwehrrechte gegenüber staatlichem Handeln. Jedoch ist es in der Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht[2] und BGH[3] seit langem anerkannt, dass die Grundrechte über das Institut der „mittelbaren Drittwirkung“ auch zwischen Privatrechtssubjekten Geltung entfalten. Das bedeutet, dass die Grundrechte zwar keine direkte, unmittelbare Geltungswirkung zwischen Privaten entfalten, jedoch zur Auslegung der Generalklauseln des BGB, und damit auch dem Begriff der „guten Sitten“ heranzuziehen sind.
Dabei führt nicht jedes Rechtsgeschäft, dass eine der beiden Vertragsparteien in einem Grundrecht berührt, zur Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts. Schließlich ist die Privatautonomie, wie bereits dargestellt, ebenfalls nach Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützt. Es ist in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen der Privatautonomie und dem betreffenden Grundrecht zu treffen. Nur wenn die Verletzung des Betroffenen Grundrechts überwiegt, kann die Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts angenommen werden.
Ein Beispiel hierfür wäre die Kündigung des Kontos einer Partei wegen angeblicher Verfassungswidrigkeit (Verstoß gegen Art. 21, Art. 3 GG); eine die Aufenthaltsvereinbarung (Art. 11 Abs. 1 GG) übermäßig beschränkende Vereinbarung zwischen Geschiedenen[4]. Wie später ausführlich dargestellt, ist auch die Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG ein häufiger Ansatzpunkt zur Einschlägigkeit von § 138 Abs. 1 BGB. Auch die Annahme der Sittenwidrigkeit von die wirtschaftliche Handlungsfreiheit einer Partei übermäßig einschränkenden Vereinbarungen (hierzu später) beruht auf der Annahme der Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG. Diskriminierungen (Art. 3 Abs. 3 GG) werden allerdings vorrangig durch die Unwirksamkeitsregeln im AGG verhindert (siehe § 7 Abs. 2, 31 Abs. 4 AGG).[5]
sozialethische Prinzipien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine weitere Auslegungshilfe für den Begriff der guten Sitten bilden die zentralen sozialethischen Prinzipien der Gesellschaft. Hierbei ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, es kann nur auf Anschauungen abgestellt werden, die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens geprägt sind. Die Berechnung vonWucherpreisen, die Ausnutzung eines wirtschaftlich Schwächeren oder die Ausnutzung einer Mangellage zum eigenen Vorteil dürfte übereinstimmend missbilligt werden. Beim Abstellen auf „sozialethische Prinzipien“ ist einem gesellschaftlichen Wandel stets Rechnung zu tragen. Aufgrund der primären Bindung der Judikative an die Rechtsordnung sind rechtliche Maßstäbe stets vorrangig vor sozialethischen zu betrachten.
Nach Anwendung der obigen Maßstäbe kann ein Rechtsgeschäft dann entweder bereits aufgrund seines Inhalts, aufgrund der Motive und Beweggründe der Parteien oder der Begleitumstände sittenwidrig sein. Es ist stets eine Gesamtwürdigung von Inhalt, Motiv und Zweck vorzunehmen.[6]
Zweiseitigkeit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Für die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts nach § 138 BGB ist grundsätzlich erforderlich, dass beide Vertragsparteien sittenwidrig handeln. Ein einseitiger Sittenverstoß einer Partei genügt jedoch, wenn das sittenwidrige Handeln gerade im Verhalten gegenüber dem Vertragspartner zum Ausdruck kommt.
Maßgeblicher Zeitpunkt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Rechtsgeschäfte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei Verträgen kommt es zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses an. Die Position, dass es auf den Eintritt des vertragsmäßigen Rechtserfolges ankomme, wird soweit ersichtlich nicht mehr vertreten.
Wenn ein ursprünglich sittlichkeitskonformer Vertrag nachträglich aufgrund eines Wandels der Sittlichkeitsmaßstäbe als unsittlich zu betrachten ist, kommt eine Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB in Betracht. Ist ein ursprünglich sittenwidriger Vertrag nachträglich als sittlichkeitskonform zu betrachten, ist eine Bestätigung nach § 141 BGB erforderlich.[7][#sdfootnote1sym 1]
Testamente
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bezüglich der Beurteilung eines Testaments ist hingegen auf den Zeitpunkt des Erbfalls, nicht den der Testamentserrichtung abzustellen, da der Wille des Erblassers möglichst zur Geltung kommen soll. Zudem ist es dem Erblasser möglich, ein Testament zu Lebzeiten jederzeit zu ändern.[#sdfootnote2sym 2]
Subjektiver Tatbestand
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Subjektiv ist für § 138 BGB erforderlich, dass der Handelnde die Umstände kennt, aus denen sich die Sittenwidrigkeit seines Handelns ergibt. Dass er sein Handeln selbst für sittenwidrig hält, ist nicht erforderlich.
Rechtsfolgen von § 138 BGB
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ex tunc Nichtigkeit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ein sittenwidriges Rechtsgeschäft ist grundsätzlich von Anfang an (ex tunc) nichtig.
Diesbezüglich bestehen bei in Vollzug gesetzten Dauerschuldverhältnissen, insbesondere bei sittenwidrigen „fehlerhaften“ Arbeits- und Gesellschaftsrechtlichen Verhältnissen allerdings Ausnahmen.
Ein in Vollzug gesetzter, sittenwidriger Gesellschaftsvertrag, bei dem die Gesellschaft also bereits Rechtsgeschäfte nach außen getätigt hat, ist nicht von Anfang an nichtig, sondern vom Zeitpunkt der Geltendmachung der Sittenwidrigkeit an für die Zukunft vernichtbar. Eine ex tunc Nichtigkeit würde hier zu unlösbaren praktischen Abwicklungsschwierigkeiten führen. Zur ex tunc Nichtigkeit kommt es jedoch dann, wenn der Gesellschaftszweck als Ganzes sittenwidrig ist.
Bei Arbeitsverträgen gilt entsprechendes. Sofern nicht bereits der Gegenstand der ausgeübten Tätigkeit sittenwidrig ist, begründet die Sittenwidrigkeit lediglich ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund für die Zukunft.[8]
Nichtigkeit des ganzen Rechtsgeschäfts
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Nichtigkeitsfolge trifft grundsätzlich das ganze Rechtsgeschäft, eine geltungserhaltende Reduktion oder eine Umdeutung gemäß § 140 BGB kommt grundsätzlich nicht in Betracht.
Der Grund für diese Wertung liegt vor allem im Präventionsgedanken von § 138 BGB. Der sittenwidrig handelnde soll nicht von seinem sittenwidrigen Handeln profitieren. Sofern das Rechtsgeschäft ausnahmsweise in einen sittenwidrigen und einen sittlichkeitskonformen Teil trennbar ist, kann das Rechtsgeschäft gemäß § 139 BGB ohne den sittenwidrigen Teil bestehen bleiben, wenn dies dem mutmaßlichen Willen beider Parteien entspricht.
Insbesondere bei sittlich „knebelnden“ Dauerschuldverhältnissen gilt, dass diese nicht vollkommen nichtig sind, sondern auf eine sittlich zu „billigende“ Dauer reduziert werden können.
Beachtung des Abstraktionsprinzips
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Aufgrund des Abstraktionsprinzips, also der separaten rechtlichen Beurteilung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft, trifft die Nichtigkeitsfolge grundsätzlich nur das Verpflichtungsgeschäft. Das Verfügungsgeschäft ist in der Regel lediglich auf eine Veränderung der Güterzuordnung gerichtet und damit sittlich neutral.
Es gibt jedoch Fälle, in denen die Nichtigkeitsfolge auch das Verfügungsgeschäft trifft. Dies kommt beispielswiese in Betracht, wenn die Parteien die Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts nach § 158 Abs. 2 BGB zu einer Bedingung für die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts gemacht haben. Angesichts des Abstraktionsprinzips sind hieran jedoch strenge Anforderungen zu stellen.
Weiterhin kommt es vor, dass der Sittenwidrigkeitsvorwurf auch die Verfügung betrifft, beide Geschäfte also an einem identischen Sittlichkeitsmakel leiden (Fehleridentität). Dies kommt etwa in Betracht, wenn die Sittenwidrigkeit gerade im Vollzug der Leistung liegt. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung ist das Verschleudern eines Gemeindegrundstücks durch die Bürgermeisterin an ein befreundetes Ehepaar.[9]
Weitere Rechtsfolgen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die gegenseitig gewährten Leistungen können nach Bereicherungsrecht zurückgefordert werden. Hierbei ist ein möglicher Anspruchsausschluss nach § 817 Satz 2 BGB stets zu beachten. Diese Vorschrift wird analog bei einseitigem Sittenverstoß des Leistenden angewandt.
Bei der Rückabwicklung sittenwidriger Darlehensverträge ist zu beachten, dass die Kondiktionssperre nach § 817 Satz 2 BGB nur die vorzeitige Rückzahlung des Darlehens verhindert. Da Leistung bei einem Darlehensvertrag nicht die Kapitalüberlassung an sich, sondern nur die Kapitalüberlassung auf Zeit ist, muss der Darlehensnehmer den Darlehensbetrag nach der vereinbarten Laufzeit zurückerstatten.[10]
Wenn ausnahmsweise auch die Verfügung nichtig ist, kommt zudem ein Rückforderungsanspruch gemäß § 985 BGB in Betracht.
Weiterhin ist auf Schadensersatzansprüche des Vertragspartners eines sittenwidrigen Geschäfts gemäß § 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 und nach § 826 BGB zu achten.
Anwendungsfälle von § 138 BGB
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nachfolgend werden die wichtigsten, also insbesondere klausurrelevantesten Anwendungsfälle von § 138 BGB dargestellt.[11]
Sexualsphäre
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Sexualsphäre ist der Bereich, der wohl als erstes in den Sinn kommt, wenn der Begriff „Sittlichkeit“ gedacht wird. Gleichzeitig ist kaum ein gesellschaftlicher Bereich von einem solchen Wandel in den Wertanschauungen betroffen. Beispielsweise galt in den fünfziger Jahren noch der Verkauf von Präservativen in Automaten[12], noch 1975 die Vermietung eines Doppelzimmers an Verheiratete als sittenwidrig[13].
Dieser Wandel betrifft auch die „Kommerzialisierung des Intimbereichs“, also die Vornahme sexueller Handlungen gegen Entgelt, mithin die Prostitution. Bis zum 20.01.2002 wurde diese weitgehend einheitlich als sittenwidrig und die entsprechenden Verträge also gemäß § 138 BGB als nichtig betrachtet. Zum 20.01.2002 trat dann das ProstG in Kraft, in dessen § 1 ein einklagbarer Anspruch der Prostituierten auf ihr Entgelt begründet wird. Ob sich hierdurch die Bewertung geändert hat, und Verträge betreffend die Prostitution nicht mehr als sittenwidrig betrachtet werden sollen, ist umstritten, die herrschende Meinung dürfte aber sein, dass aus der Wertung des ProstG und einem grundsätzlichen Wandel gesellschaftlicher Anschauungen folgt, dass sich das Urteil der Sittenwidrigkeit nicht mehr aufrechterhalten lässt.[14]
Bei Altfällen vor dem 20.01.2002 bleibt das Urteil der Sittenwidrigkeit bezüglich des Verpflichtungsgeschäfts über die Prostitution erhalten.
Wenn man die Prostitution nicht mehr als sittenwidrig erachtet, ist diese Wertung auf annähernd vergleichbare Konstellation, beispielsweise Pornographie, „Peepshows“, Telefonsex[15] zu übertragen.[16]
Familiensphäre
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Vereinbarungen die gegen das „Wesen der Familie“ verstoßen, können aufgrund der Wertung von Art. 6 Abs. 1 GG nichtig sein. Ein Beispiel hierfür wäre eine „Zölibatsklausel“ in einem Arbeitsvertrag oder ein Vertrag über die Begründung einer Scheinehe.
Weiterhin unterstehen Eheverträge der Kontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB. Diesbezüglich ist zwischen einer Wirksamkeitskontrolle nach § 138 BGB und einer Ausübungskontrolle nach dem Maßstab von § 242 BGB zu unterscheiden. Wenn ein Vertrag bereits im Zeitpunkt des Zustandekommens offenkundig zu einer einseitigen Lastenverteilung im Scheidungsfall führt, kommt eine Nichtigkeit nach § 138 BGB in Betracht. Wenn hingegen eine ursprünglich wirksame Vereinbarung nachträglich zu einer einseitigen Benachteiligung einer Partei führt, findet eine „Ausübungskontrolle“ statt, ob einer der Parteien eine Berufung auf die Vereinbarung im Ehevertrag nach § 242 BGB verwehrt ist. [17]
Ein Ehevertrag, der die Möglichkeit einer Scheidung ausschließt, wäre zum Beispiel grundsätzlich nach § 138 BGB nichtig. Vereinbarungen über den Zugewinnausgleich sowie ein partieller Unterhaltsverzicht sind in einem Ehevertrag hingegen grundsätzlich möglich, siehe § 1408 und § 1585c BGB. Eine entsprechende Vereinbarung ist jedoch unwirksam, wenn die Parteien entweder in vorhersehbarer Weise die Unterstützungsbedürftigkeit einer Partei durch Sozialhilfe herbeiführt oder wenn der Ehevertrag eine massiv einseitige Lastenverteilung herbeiführt. Insbesondere kommt hiernach eine Nichtigkeitsfolge in Betracht, wenn der Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB), der Altersunterhalt (§ 1571 BGB) oder der Krankheitsunterhalt (§ 1572 BGB ausgeschlossen wird. Maßgeblich ist stets eine Gesamtwürdigung der Umstände bei Vertragsschluss[18]
Einschränkung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Sittenwidrig sind grundsätzlich alle Verträge, die die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit einer Partei lähmen und deren nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Privatautonomie weitgehend aufheben. Diesbezüglich sind insbesondere „Knebelverträge“, Verträge mit Wettbewerbsverboten und Bürgschaftsverträge zu betrachten.
Knebelverträge
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nichtig sind somit alle Verträge, die eine Partei übermäßig lang an einem Vertrag festhalten, diese als quasi „knebeln“. Diesbezüglich ist keine pauschale Aussage möglich, sondern es sind die Besonderheiten des konkreten Vertragsverhältnisses zu beachten. Ein Bierbezugsvertrag zwischen einem Gastwirt und einer Brauerei darf hiernach maximal eine Laufzeit von 20 Jahren haben, um nicht sittenwidrig zu sein[19]. Hingegen kann die Laufzeit bei einem Energielieferungsvertrag aufgrund der „besonderen Struktur der Energiewirtschaft“ noch eine deutlich längere Laufzeit aufweisen[20]. Zu beachten ist, dass ein Vertrag mit sittenwidrig langer Laufzeit nicht vollständig nichtig ist, sondern die Anwendung von § 138 BGB nur dazu führt, dass die Laufzeit auf ein zulässiges Maß verkürzt wird[21].
Wettbewerbsverbote
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wenn ein Wettbewerbsverbot die Berufsausübungsfreiheit des Betroffenen nach Art. 12 Abs. 1 GG übermäßig einschränkt, kann es nach § 138 BGB sittenwidrig sein. Eine Verletzung von Art. 12 GG kann aus der örtlichen, zeitlichen oder gegenständlichen Reichweite des Wettbewerbsverbots folgen. Hiernach ist eine Abwägung zwischen den das Wettbewerbsverbot begründeten wirtschaftlichen Interessen des Verwenders und der Intensität zwischen dem Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit vorzunehmen.
Unzulässig ist hiernach ein Wettbewerbsverbot für einen ausscheidenden Gesellschafter oder Geschäftsführer von mehr als 2 Jahren[22]. Bei einem Unternehmenskauf ist ein Wettbewerbsverbot zulässig, wenn es „den berechtigten Interessen des Vertragspartners entspricht und das Allgemeininteresse an einem funktionierenden Wettbewerb respektiert.[23]
Bürgschaftsverträge
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine Bürgschaft kann die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Bürgen insbesondere bei einer hohen Bürgschaftssumme dauerhaft gefährden. Daher kann auch ein Bürgschaftsvertrag unter dem Gesichtspunkt der Beschränkung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit sittenwidrig sein.[24] Die nachstehend beschriebenen Grundsätze sind auch (bzw. erst recht) für den Schuldbeitritt anwendbar.[25]
Hierzu ist zunächst erforderlich, dass die die Bürgschaft die finanziellen Verhältnisse des Bürgen „krass überfordert“. Dies ist der Fall, wenn ein erhebliches Missverhältnis zwischen finanzieller Leistungsfähigkeit des Bürgen und Verpflichtungsumfang besteht. Ein solches Missverhältnis wird insbesondere angenommen, wenn anzunehmen ist, dass der Bürge aus seinem pfändbaren Einkommen nicht einmal die Zinsen wird tragen können. Maßgeblich sind hierbei die Verhältnisse bei Vertragsschluss, wobei bezüglich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bürgen im Einstandsfall eine Prognose möglich ist[26].
Eine drohende finanzielle Überforderung des Bürgen reicht grundsätzlich nicht aus, die Sittenwidrigkeit des Bürgschaftsvertrages zu begründen. Erforderlich ist zudem, dass anzunehmen ist, dass der Bürge die Bürgschaftsverpflichtung nur aufgrund einer emotionalen Zwangslage eingegangen ist. Dies wird grundsätzlich bei einer emotionalen Verbundenheit und/oder Verwandtschaft des Bürgen mit dem Hauptschuldner angenommen, also wenn der Bürge mit dem Hauptschuldner eng verwandt, eng befreundet, verlobt oder verheiratet ist. Auch eine enge, eheähnliche Partnerschaft kann ausreichend sein. In diesen Fällen wird vermutet, dass der Bürge sich nur aufgrund einer emotionalen Abhängigkeit zum Hauptschuldner auf die ihn krass überfordernde Bürgschaft eingelassen hat, was im Ganzen die Nichtigkeitsfolge nach § 138 BGB begründet.
Diese Grundsätze gelten jedoch nicht ausnahmslos. Wenn der Bürge am Zustandekommen des Hauptvertrages sein unmittelbares wirtschaftliches Eigeninteresse hat, kommt eine Sittenwidrigkeit trotz der krassen Überforderung nicht in Betracht.[27]
Sicherungsverträge
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Nichtigkeit eines Sicherungsvertrages kommt insbesondere wegen anfänglicher Übersicherung in Betracht. Eine Sittenwidrigkeit wegen drohender nachträglicher Übersicherung ist nach der Rechtsprechung inzwischen ausgeschlossen, dennoch wird dieses Thema hier kurz beschrieben. Weiterhin kommt die Sittenwidrigkeit eines Sicherungsvertrages, insbesondere einer Globalzession, wegen der Möglichkeit der Kollision mit einem verlängerten Eigentumsvorbehalt in Betracht.
Anfängliche Übersicherung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Sittenwidrigkeit einer Sicherungsabrede wegen anfänglicher Übersicherung tritt ein, wenn der Wert des Sicherungsgutes in einem auffälligen Missverhältnis zur gesicherten Forderung steht.[28] Hierzu ist eine Einzelfallbetrachtung erforderlich und keine Pauschalaussage möglich[29]. Dieses Missverhältnis kann sich auch aus der Kumulation mehrere Sicherheiten ergeben.
Das Urteil der Sittenwidrigkeit ergibt sich hier einerseits daraus, die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Sicherungsgebers durch den Einsatz übermäßiger Vermögenswerte als Sicherungsgut untragbar beeinträchtigt wird[30]; andererseits aus dem Gesichtspunkt der Gläubigerbenachteiligung dahingehend, dass den anderen Gläubigern die Sicherungsgüter entzogen werden.
Der Fall der Sittenwidrigkeit wegen anfänglicher Übersicherung ist einer der Fälle, indem die Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts (des Sicherungsvertrages) in der Regel auch zur Nichtigkeit des Verfügungsgeschäfts (typischerweise der Sicherungsübereignung) führt.
Nachträgliche Übersicherung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Insbesondere bei der antezipierten Sicherungsübereignung von Warenlagern mit wechselndem Bestand kommt in Betracht, dass das Missverhältnis zwischen dem Wert der gesicherten Forderung und dem Wert des Sicherungsgutes nicht bereits bei Vertragsschluss, sondern erst nachträglich eintritt.[31]
Nach der Rechtsprechung des BGH[32] führt eine solche nachträgliche Übersicherung nicht mehr zur Sittenwidrigkeit der Sicherungsabrede. Stattdessen ist der Sicherungsabrede auch ohne ausdrücklicher Vereinbarung ein Anspruch auf Freigabe der zur Überdeckung führenden Sicherheiten zu entnehmen.
Die Rechtsprechung setzt bezüglich Sachsicherheiten 2/3 des Marktpreises und bei Forderungen 2/3 des Nominalwerts als realisierbaren Verwertungserlös an. Falls im Sicherungsvertrag nichts anderes geregelt ist, kann der Sicherungsgeber also im Grundsatz Freigabe verlangen, wenn die Sicherheiten nachträglich die 150%-Grenze überschreiten.
Kollision mit verlängertem Eigentumsvorbehalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Beim Verlängerten Eigentumsvorbehalt erwirbt ein Händler (Vorbehaltskäufer) Ware unter Eigentumsvorbehalt. Der Verkäufer (Vorbehaltsverkäufer) gestattet ihm den Weiterverkauf der Ware. Jedoch sichert sich der Vorbehaltsverkäufer dadurch ab, indem er sich die Forderungen aus dem Weiterverkauf im Voraus abtreten lässt und bei einer Verarbeitung § 950 BGB ausschließt.[33]
Wenn der Vorbehaltskäufer seiner Bank seine zukünftigen Forderungen vollständig zur Sicherung an eine Bank abtritt (Globalzession) bezieht sich diese Vereinbarung häufig auf dieselben Forderungen, die Gegenstand des Verlängerten Eigentumsvorbehalts waren.
Hier gilt der Grundsatz, dass die Abtretung zukünftiger Forderungen nach § 138 BGB nichtig ist, wenn die Parteien sich in „zu missbilligender Gesinnung“ über die mit dem Vorbehaltsverkäufer getroffenen Abmachungen hinweggesetzt haben.[34] Dies gilt allerdings nicht, wenn die Globalabtretung die vom verlängerten Eigentumsvorbehalt erfassten Forderungen von vornherein nicht umfassen soll oder die Globalzession erst nach Erlöschen des fverlängerten Eigentumsvorbehalts wirksam werden soll. Eine schuldrechtliche Verpflichtung zur Freigabe dieser Forderungen soll allerdings nicht ausreichen.[35]
Handelsvertreterverträge
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gemäß § 84 HGB ist ein Handelsvertreter; wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer Geschäfte z vermitteln, oder in dessen Namen abzuschließen.
Ein Handelsvertretervertrag gilt dann als sittenwidrig, wenn der Handelsvertreter durch die Handelsvertretervereinbarung übermäßig benachteiligt wird,[36] etwa wenn die Vereinbarung so ausgestaltet ist, dass er auch bei gewissenhaftester Geschäftsführung keinen Gewinn erwirtschaften kann[37]. Ein Handelsvertretervertrag ist hingegen nicht sittenwidrig, wenn er zwar das Existenzminimum nicht sichert, aber dem Handelsvertreter kein Wettbewerbsverbot auferlegt.[38] Zudem kommt eine Sittenwidrigkeit in Betracht, wenn die in § 84 HGB vorgesehene Selbstständigkeit des Handelsvertreters aufgehoben ist. Dies ist der Fall, wenn der Handelsvertreter so abhängig und Weisungsgebunden ist, dass er faktisch die Position eines Arbeitnehmers innehat.[39].
Sittenwidrigkeit im Gesellschaftsrecht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Abgesehen von dem Aspekt einer auf einen sittenwidrigen Zweck ausgerichteten Gesellschaft kommt die Sittenwidrigkeit im Gesellschaftsrecht insbesondere unter dem Gesichtspunkt von sittenwidrigen „Hinauskündigungsklauseln“ und Abfindungsbeschränkungen in Betracht.
Hinauskündigungsklauseln
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Allgemeinen kann ein Gesellschafter in allen Gesellschaftsformen nur aus wichtigem Grund oder zumindest einem sachlichen Grund aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Eine Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag, wonach der Gesellschafter ohne einen solchen Grund praktisch nach Belieben der anderen Gesellschafter aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann, wird als sittenwidrig und daher gemäß § 138 BGB nichtig angesehen.[40] Der Gesellschafter ist so der Willkür der anderen Gesellschafter ausgesetzt, die Unabhängigkeit seiner Entscheidungen ist gefährdet.
Wirksam ist hingegen eine Vereinbarung, indem ein Mitarbeiter der Gesellschaft zum Gesellschafter ernannt wird und die Gesellschafterstellung an den Bestand des Beschäftigungsverhältnisses geknüpft wird (Mitarbeitermodell).[41] Schließlich kann das Beschäftigungsverhältnis, also der Arbeitsvertrag, ebenfalls nicht ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes beendet werden. Ebenfalls zulässig ist eine Vereinbarung, bei der ein GmbH-Geschäftsführer zum Gesellschafter der GmbH gemacht wird und die Gesellschafterstellung an die Position als Geschäftsführer geknüpft ist (Managermodell).[42]
Abfindungsklauseln
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Ausschluss oder die übermäßige Beschränkung der Abfindung eines Gesellschafters ist sittenwidrig.[43] Zulässig ist es dabei, die Abfindung an den Buchwert des Gesellschaftsanteils zu knüpfen.[44] Maßgeblich sind auch bezüglich der Bewertung einer Abfindungsbeschränkung die Verhältnisse bei Vertragsschluss. Stellt sich eine ursprünglich wirksame Abfindungsbeschränkung nachträglich als unangemessen niedrig heraus, ist diese nach § 242 BGB durch ergänzende Vertragsauslegung anzupassen[45]. Es findet also ähnlich wie bei Eheverträgen zunächst eine Inhaltskontrolle und nachträglich eine Ausübungskontrolle statt.
Sittenwidrigkeit im Erbrecht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die durch Art. 14 GG geschützte Testierfreiheit besitzt grundsätzlich einen hohen Wert. An die Sittenwidrigkeit eines Testaments[46] sind daher strenge Anforderungen zu stellen. Maßgeblich ist dabei nicht zwingend der Inhalt, sondern der Zweck des Testaments.
Ein so genanntes „Geliebten-“ oder „Mätressentestament“, also ein gegebenenfalls einen Ehebruch belohnendes Testament gilt bereits seit längerer Zeit höchstens als sittenwidrig, wenn die Belohnung der geschlechtlichen Hingabe das einzige Motiv zur Erbeinsetzung war.[47]
Nach Inkrafttreten des ProstG sprechen gute Gründe dafür, selbst von der Wirksamkeit eines solchen Testaments auszugehen[48].
Ein Testament zugunsten Behinderter, Sozialhilfe beziehender Abkömmlinge des Erblassers, das so gestaltet wird, dass der Sozialleistungsträger weder auf Nachlassmittel zurückgreifen kann, noch die Sozialleistungen kürzen darf gilt in der Regel nicht als sittenwidrig. Es gilt als sittlich anerkanntes Ziel, ein behindertes Kind über den Tod hinaus versorgen zu wollen.[49]
Die Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung kommt weiterhin unter dem Gesichtspunkt einer sittenwidrigen Lenkung des Erben in Betracht. Dies gilt insbesondere bezüglich testamentarische Klauseln, die einen unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG nicht hinnehmbaren Eingriff in das Familienleben des Erben darstellen. Insbesondere gilt dies für „Ebenbürtigkeitsklauseln“, in denen die Erbschaft an eine standesgemäße Heirat, also meist die Heirat eines Adligen geknüpft ist[50]
Wucher- und Wucherähnliche Rechtsgeschäfte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]§ 138 Abs. 2 BGB
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In § 138 Abs. 2 BGB wird ein konkreter Fall eines Sittenwidrigen Rechtsgeschäftes benannt („insbesondere“), das wucherische Rechtsgeschäft. § 138 Abs. 2 BGB ist auf alle gegenseitigen Verträge anwendbar.
Erforderlich für eine Nichtigkeit nach § 138 Abs. 2 BGB ist zunächst ein „auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung.“ Ein solches auffälliges Missverhältnis liegt jedenfalls vor, wenn die Gegenleistung den Wert der Leistung um mehr als 100% überschreitet. Bei einem Ratenkredit wird ein auffälliges Missverhältnis angenommen, wenn der Vertragszins entweder doppelt so hoch ist wie der Marktzins oder zum Marktzins einen Preisunterschied von mindestens 12% aufweist. Letztendlich kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.
Subjektiv verlangt § 138 Abs. 2 BGB, dass das Rechtsgeschäft unter „Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangelns an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche des Gegners zustande gekommen ist.“ Unerfahrenheit in diesem Sinne ist ein Mangel an Lebens- oder Geschäftserfahrung; ein Mangel an Urteilsvermögen liegt vor, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, Inhalt und Folgen des Rechtsgeschäfts rechtzeitig zu erkennen und einzuschätzen. Ein Mangel an Willensschwäche liegt bei psychisch verminderter Widerstandsfähigkeit vor.
§ 138 Abs. 2 BGB verlangt, dass das Defizit beim Vertragspartner „ausgenutzt“ wird, sich also gezielt zum Geschäftsabschluss zunutze gemacht wird. Zudem ist Kenntnis von dem auffälligen Missverhältnis erforderlich. Nicht erforderlich ist hingegen, dass der Wucherer der Initiator des Rechtsgeschäfts ist.
Die Nichtigkeitsfolge von § 138 Abs. 2 BGB betrifft in der Regel sowohl das Verpflichtungs- als auch das Erfüllungsgeschäft.
Wucherähnliche Rechtsgeschäfte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Einzelfällen kann bei einem Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung trotz Nichterfüllung der Voraussetzungen von § 138 Abs. 2 BGB auch eine Nichtigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB vorliegen. Diese Konstellation wird als „wucherähnliches Rechtsgeschäft“ bezeichnet.[51] Zu beachten ist, dass dies nur in Betracht kommt, wenn der speziellere § 138 Abs. 2 BGB zunächst geprüft und verneint wurde.
Erforderlich ist hierzu zunächst ein erhebliches Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung sowie eine „verwerfliche Gesinnung“ einer Vertragspartei.
Bezüglich des „erheblichen Missverhältnisses“ gibt es keine feste Richtlinie, wenn die Leistung doppelt so viel Wert ist wie die Gegenleistung dürfte ein solches Missverhältnis aber vorliegen.[52]
Eine verwerfliche Gesinnung liegt vor, wenn eine Vertragspartei die schwächere Position seines Vertragspartners bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt, oder sich zumindest leichtfertig der Einsicht verschließt, dass der andere sich nur unter dem Zwang der Verhältnisse, aus Mangel an Urteilsvermögen oder wegen erheblicher Willensschwäche auf den ihm ungünstigen Vertrag eingelassen hat.[53]
Bei einem „besonders Groben Missverhältnis“, das bei einem Darlehensvertrag beispielsweise angenommen wird, wenn der marktübliche Zins um 200% überschritten wird, wird die verwerfliche Gesinnung widerleglich vermutet.[54]
Zu beachten ist, dass eine Nichtigkeitsfolge nach § 138 Abs. 1 wegen wucherähnlichen Geschäfts anders als bei § 138 Abs. 2 BGB in der Regel nicht auf das dingliche Erfüllungsgeschäft „durchschlägt“.
Weitere Fallgruppen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In folgenden Konstellationen kommt § 138 BGB außerdem zur Anwendung:[55]
Verstoß gegen Standesordnungen =
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Diese Fallgruppe umfasst den Verstoß gegen berufsrechtliche Vorschritten, insbesondere bei Rechtsanwälten.
Unzulässige Kommerzialisierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Diese Fallgruppe umfasst Rechtsgeschäfte, die Gegenstände betreffen, die an sich nicht von einer geldwerten Gegenleistung abhängen sollten. Gemeint ist hier etwa der „Kauf“ eines Doktortitels oder einer Zeugenaussage vor Gericht.
Verleiten zum Rechtsbruch oder Vertragsbruch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]„Bestechung“ von Geschäftspartnern
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gemeint sind hierbei nicht geldwerte Zuwendungen an Hoheitsträger (diese dürften wegen Bestechung im Sinne von § 334 StGB bereits nach § 134 BGB nichtig sein) sondern das Erschleichen von Leistungen aufgrund von Zuweisungen an Mitarbeiter oder Gesellschaftsorgane.
Missbrauch einer Macht- oder Monopolstellung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Diese Fallgruppe erfasst Konstellationen, in denen eine Partei entweder eine hoheitliche Position oder eine wirtschaftliche oder soziale Machtstellung sowie eine Monopolstellung in verwerflicher Weise gegenüber der anderen Vertragspartei ausnutzt.
Hinweise zum Weiterlesen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Rüthers, Bernd / Stadler, Astrid, Allgemeiner Teil des BGB, Beck Verlag, 17. Auflage 2011, Seite 402 – 422 (Übersichtliche, vergleichsweise ausführliche Darstellung die weniger Knapp ausfällt als bei vergleichbaren Lehrbüchern etwa von Köhler und Brox).
- Schmidt, Rolf, BGB Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2013, Rolf Schmidt Verlag, S. 325 – 353 (Skriptartige, graphisch ansprechende Darstellung mit zahlreichen Schaubildern und Fallbeispielen).
- Münchener Kommentar BGB, Band 1, 6. Auflage 2012, § 138 (sprachlich ansprechendste, ausführliche Kommentierung mit allen wesentlichen Anwendungsfällen von § 138 BGB – wer diese Kommentierung wirklich verinnerlicht hat, dürfte mit jeder Klausurkonstellation bezüglich § 138 BGB fertig werden).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Exemplarisch seien hier die reichsgerichtlichen Entscheidungen in RGZ 77, 419 (421) und RGZ 80, 219 (221) angeführt.
- ↑ BVerfGE 7, 198 (Lüth- grundlegend!; BVerfGE 58, 377; BVerfGE 58, 377; BVerfGE 73, 261.
- ↑ Siehe bspw. BGHZ 106, 336; BGHZ 140, 118.
- ↑ BGH, NJW 1972, 1414.
- ↑ Für weitere Beispielsfälle siehe Armbrüster in Münchener Kommentar BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 20 ff. m.w.N.
- ↑ BGH NJW 1961, 822; siehe Armbrüster, MK BGB, § 138 Rdn. 30 m.w.N.
- ↑ Zum Ganzen siehe Köhler, BGB AT; 35. Auflage 2011, § 13, Rdn. 21.
- ↑ BAG MDR 1960, 612.
- ↑ BGH, NJW 1997, 860.
- ↑ Siehe hierzu Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, 5. Auflage 2009, § 817, Rdn. 35 ff.
- ↑ Für eine Umfassende Auflistung der Anwendungsfälle von § 138 BGB sei auf Armbrüster, in: Münchener Kommentar BGB, 6. Auflage 2012, § 138 Rdn. 27 ff. und auf Palm/Arnold in: Ermann, BGB, 13. Auflage 2011, § 138, Rdn. 64 ff. verwiesen.
- ↑ VGH Baden-Württemberg, BB 1958, 500.
- ↑ AG Emden, NJW 1975, 1363
- ↑ Zum Streitstand ausführlich Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 55 ff.
- ↑ Siehe dazu BGH, NJW 2007, 140.
- ↑ Siehe Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 58.
- ↑ Siehe hierzu Armbrüster, in: Münchener Kommentar BGB, § 138, Rdn. 63.
- ↑ Siehe bspw. BGH NJW 2004, 930 und BGH NJW 2006, 2331) und zum Ganzen.
- ↑ BGH, NJW 1985, 2693.
- ↑ BGH, NJW 1972, 1369.
- ↑ BGH, NJW 1972, 1459.
- ↑ BGH, NJW 1986, 1107.
- ↑ BGH, NJW 1979, 1605.
- ↑ Sehr anschaulich verständlich dargestellt bei Oetker, Vertragliche Schuldverhältnisse, § 13, Rdn. 55 ff.; siehe zum Ganzen auch Ellenberger, in: Palandt, BGB, 71. Auflage 2012, § 138, Rdn. 38 f.
- ↑ BGH, NJW 2001, 815.
- ↑ BGH, NJW 2005, 971.
- ↑ BGHZ 135, 66.
- ↑ Instruktiv hierzu Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Auflage 2009, § 57 Rdn. 17.
- ↑ BGH, NJW 1998, 2047.
- ↑ Siehe BGH NJW 1998, 2592 (2595).
- ↑ Siehe hierzu Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Auflage 2009, § 57, Rdn. 19 ff.
- ↑ BGH NJW 1998, 678 und NJW 1998, 2206; ausführlich dazu auch Siehe hierzu Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Auflage 2009, § 57, Rdn. 25.
- ↑ Ausführlich zum verlängerten Eigentumsvorbehalt Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Auflage 2009, § 59, Rdn. 6.
- ↑ BGHZ 30, 149; BGHZ 56, 173.
- ↑ BGHZ 72, 308.
- ↑ Zur Sittenwidrigkeit von Handelsvertreterverträgen siehe insbesondere; Busche, in: Oetker, HGB, 2. Auflage 2011, § 84, Rdn. 63; Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 35. Auflage 2012, § 84, Rdn. 35 ff.
- ↑ BGH, BB 1960, 1222.
- ↑ OLG Nürnberg, BB 1960, 1261.
- ↑ BGH, ZIP 1998, 2104.
- ↑ BGH NJW 1989, 384; BGH NJW 2005, 3641, zum Ganzen Armbrüster, in: Münchener Kommentar BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 83 m.w.N.
- ↑ BGH, NJW 2005, 3644.
- ↑ BGH, NJW 2005, 3641.
- ↑ Siehe hierzu Armbrüster, in: Münchener Kommentar BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 82.
- ↑ BGH NJW 1992, 892.
- ↑ BGH, NJW 1993, 3193.
- ↑ Hierzu instruktiv Brox, Erbrecht, 25. Auflage 2012, Rdn. 263 f.
- ↑ BGH, NJW 1984, 2150.
- ↑ Zur Problematik des Mätressentestaments siehe Palm/Arnold, in: Ermann, BGB, 13. Auflage 2011, § 138, Rdn. 105.
- ↑ BGH, NJW 2011, 1586.
- ↑ Siehe BverfG, NJW 2004, 2008, siehe hierzu wiederum Palm/Arnold, in: Ermann, BGB, 13. Auflage 2011, § 138, Rdn. 105.
- ↑ Siehe zum Ganzen Armbrüster, in: Münchener Kommentar BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 116.
- ↑ BGH, NJW 1988, 1659.
- ↑ BGH NJW 2001, 1127.
- ↑ Siehe BGHZ 104, 102; BGHZ 110, 338; zum ganzen Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 138, Rdn. 116.
- ↑ Siehe Armbrüster, MK, § 138, Rdn. 33 ff