Benutzer:W.S.Herrmann/Spielwiese:Dichtung und Krankheit

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Gebirgsgegend bei Davos, Schauplatz des Romans Der Zauberberg von Thomas Mann

Der Zusammenhang von Dichtung und Krankheit ist in zahllosen wiss. und künstlerischen Zeugnissen behandelt worden.Definitorisch sind folgende Aspekte hervorgehoben worden:

- Es sind sowohl Dichtungen über Kranke geschrieben worden (z.B. Thomas Manns "Der Zauberberg" (1924)

- als auch Biographien kranker Dichter (z.B. Büchners "Lenz" 1839).

- Auch therapeutische Ansätze mit Verwendung von Literatur erfasst (Petzold 1990).

- Dichter, die Ärzte waren, haben oftmals über Krankeheit und über sich selbst als Kranke geschrieben (z.B. Schiller, Benn ...).

- Hinzu kommen Biographien großer Dichter, Musiker und bildender Künstler, die den Rätseln um ihre Krankheiten nachgehen vgl. Bankl 19??).

- Aus spiritueller Sicht sind Krankheit und Tod als Lebensplan der Dichter beschrieben worden (z.B. ???).

Demnach ergibt sich eine eher summatorische Definition: die Zusammenhänge von Dichtung und Krankheit sind biographisch, pathognomonisch, therapeutisch und spirituell. Jedoch ist der zuletzt genannte Aspekt umfassend: Leben und Werk der Dichter lassen sich häufig als Weg zur Bewältigung von Krankheit und Tod deuten. Das Ziel des Lebens ist die Auseinandersetzung mit Krankheit, an deren Ende das Sterben die größte Bewährungsprobe darstellt.

Als Goethe im Jahre 1811 seinen autobiografischen Roman Dichtung und Wahrheit veröffentlichte, begann sich die Auffassung durchzusetzen, man müsse die Biografie eines Dichters kennen, um ihn zu verstehen. Mehr als zwei Jahrhunderte Dichter-biografischer Forschungen sind seither vergangen, und das Wissen der Menschheit über Details aus dem Leben vieler Dichter reicht bis ins Indiskrete.

Hans Bankl hat diesen Forschungen einen weiteren Aspekt hinzugefügt, indem er die vorhandenen Dokumente über Krankheit und Tod der Dichter aus der Sicht des modernen Pathologen beurteilt. So wurde die Syphilis des Erasmus von Rotterdam bis zu Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche beschrieben, und die Tuberkulose von Schiller bis Kafka. Auch die Alexithymien der vielen Herzkranken (Infarkt, Apoplex etc.) gehören hierher.

Immer wieder haben die Dichter selber bestimmte Krankheiten thematisiert. Büchners »Lenz« und Dostojevskis »Idiot« folgten im 20. Jahrhundert vor allem Thomas Manns »Zauberberg« und »Doktor Faustus«, Alexander Solschenizyns »Krebsstation«, Albert Camus »Pest« und Härtlings »Herzwand«.

Hinzu kamen die Rätsel um Beethovens Taubheit, Mozarts rheumatisches Fieber und Schumanns depressive Psychose, die in einer Reihe von prominenten Dichtungen behandelt worden sind. In dem Zusammenhang ist auch die These ausgearbeitet worden, dass Genie und Krankheit originär zusammengehörten.

Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Krankheiten der Dichter und Künstler schon das ganze Leben und Lebenswerk beeinflusst haben. Ganz besonders liegt diese Frage bei den chronisch-progressiven Erkrankungen nahe. Schillers, Lord Byrons, Heinrich Heines, Nikolaus Lenaus, Friedrich Nietzsches, Franz Kafkas, Rainer Maria Rilkes, Ernest Hemingways und Peter Härtlings Lebensgeschichten werden entsprechend behandelt.

Auch sind die Dichter zu erwähnen, die selbst Ärzte waren und sich den Kampf gegen die Krankheit zur Lebensaufgabe gemacht haben: Schiller, Büchner, Tschechow, Döblin, Benn, Pasternak sind herausragende Beispiele vgl. Kulessa 2005).

Schließlich ist die Literatur-Rezeption als psychotherapeutische Methode entwickelt worden. Neben Musiktherapie und Gestalttherapie tritt eine Methode, durch die der leidende Mensch spielend (Psychodrama), lesend beziehungsweise zuschauend (vgl. Katharsis) und auch dichtend zu sich selbst findet, indem er seine Person wieder als eine Einheit aus Körper, Wahrnehmung, Geist und Seele aufzufassen lernt.

Theorie des Lebensplanes

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Buddha-Statue in der Seokguram-Grotte

Nach der Lehre verschiedener Weltreligionen (Buddhismus, Islam etc.) besiedelt die Seele einen intrauterinen Körper (z.B. menschlichen Feten), um einem bestimmten Lebensplan zu folgen (Roethlisberger 2005). Sie macht es sich zur Aufgabe, als Krieger, Politiker, Arzt, Handwerker oder Priester Erfahrungen zu sammeln, um nach dem Tode diese Erfahrungen weiter zu verarbeiten, bevor sie wieder in ein neues Leben eintritt (Reinkarnation). So unterliegen die Krankheiten der Dichter, Musiker, Künstler den Lebensplänen bereits hundertfach Inkarnierter, »alter« - oder »reifer« - Seelen, die sich im Leiden vervollkommnen, um den Weg zur ewigen Seligkeit zu finden.

Es werden in der Reihenfolge der Reinkarnations-Fortschritte vor allem Baby-Seelen, Kinder-Seelen, Jugend-Seelen, reife Seelen und alte Seelen unterschieden (vgl. Hasselmann/Schmolke 2005). Das »Baby« ist vollkommen abhängig, unsicher-ängstlich und hängt am Rockzipfel. Die Kinderseele ist vom Gebot der Erwachsenen bestimmt. Sie handelt so und so, weil man es ihr aufgetragen hat. Sie kann nicht selbständig denken, ist neugierig und will überall dabeisein. Die »junge« Seele ist an Reichtum, Macht und Glanz orientiert. Sie hat die Tendenz, dem anderen die Schuld an eigenen Verfehlungen zuzuweisen, und ist zur Verübung von Unrecht bereit, wenn es der Verwirklichung ihrer Gier dient. Die reife Seele orientiert sich an Kunst und Philosophie. Sie handelt nach ethischen Prinzipien (Maximen) und vertritt den Standpunkt: »Hier steh ich, ich kann nicht anders.« Die alte Seele ist religiös orientiert. Sie vergibt dem Widersacher und verzichtet auf pecuniäre Ansprüche. Sie erwartet die Versorgung durch Andere und ist am jenseitigen Leben orientiert (vgl. Roethlisberger 2005).

Sokrates

Sokrates, der Lehrer des Jenseits und der Reinkarnation lehrte durch seinen Tod, dass seine Seele nirgendwohin zu legen sei. Phaidon fragt, wo man den Meister begraben solle; und die Antwort lautet: zu begraben sei nur der Leichnam. Ein Leben lang hatte diese »Hebamme« der Weisheit das Wesen gelehrt. Jetzt galt es, die Lösung der Seele vom Körper zu demonstrieren. Und diese »alte« Seele hat in der Stunde des gerichtlich verordneten Suizides die große Konfession des Lebens erfüllt: lernt denn hier niemand, dass ich weiterlebe?! Die Todkrankheit des Menschen durch Intoxikation - also Vergiftung - wurde seither Thema der Philosophie und Literatur.

Seneca (Büste in der Antikensammlung Berlin)


Seneca, der Erzieher des römischen Kaisers Nero, wurde trotz Ermahnung, der Herrscher möge milde sein (»de Clementia ad Neronem Caesarem«) zum Suizid verurteilt. Der Tod durch Verbluten wird zur Demonstration der Seele. Kaum ein Mensch hat seither gültiger den Lebensplan der Seele gezeigt, der die Lehre für die Menschheit zum Ausdruck bringt: mit dem Tod überlebt die Seele.

Jesus von Nazareth

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Jesus als Guter Hirte, frühchristliche Deckenmalerei in der Calixtus-Katakombe in Rom, um 250

Jesus von Nazareth wird durch die Evangelien als Sohn Gottes gefeiert, weil er den Menschen den rechten Umgang mit Krankheit und Tod demonstriert habe. Die großen Dichter der Evangelien haben Heilung und Sterben des Meisters zum Thema erhoben und gezeigt, dass der Kreuzestod zum Lebensplan der Seele Jesu gehört habe. Literatur wird zum Medium der Botschaft vom Jenseits.

Wolfram von Eschenbach; Autorbild als Ritter im Codex Manesse

Das Mittelalter hat Krankheit durch das Parzival-Dilemma thematisiert: der Meister der Waffen und Herrscher der Ritter kann sich auf den Thron von Gottes Gnaden nur dann qualifizieren, wenn er die entscheidende Frage stellt: »Oheim waz wirret dir?« (Amphortas, worin besteht dein Leiden? Oder: wenn dein Lebensplan die Krankheit ist: wie führst du uns zu Gott?)

Gottfried von Straßburg

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Meister Gottfried von Straßburg (Codex Manesse, 1. Viertel 14. Jahrhundert)

Gottfried von Straßburg, der mönchische Epiker des ca. 1210 bekannt gewordenen mittelhochdeutschen Tristan-Epos, hat die Liebe eines Paares besungen, das der höfischen Gesellschaft nicht entsprach. Durch ein Gift wird »krankhafte« Liebe verursacht. Tristan, der Sohn eines im Ozean versunkenen Königreiches, gewinnt die Liebe einer irischen Königstochter, die Tristans Vasallen, König Marke, vermählt wird. Nur im Jenseits - so lautet die Sentenz des nicht vollendeten Epos - kann diese Liebe verwirklicht werden. Der Mönch Gottfried - möglicherweise von der Inquisition wegen Zugehörigkeit zur verbotenen Sekte der Katharer dahingerafft - hat ein Lebenswerk der Liebes-Verherrlichung hinterlassen, das über die Jahrhunderte ein Beispiel für die Gemeinschaft der Seelen gibt. Dass Mann und Frau sich »finden«, ist keineswegs zufällig, sondern unterliegt einem Plan der Seelen, der als beschlossen gelten muss: lange bevor die betreffenden Individuen geboren sind.

Miguel de Cervantes Saavedra

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Miguel de Cervantes Saavedra

Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616) hat im 9. Kapitel des 11. Buches Krankheit und Tod seines Helden Don Quixote beschrieben: Der Ritter erkrankt am Fieber, und der Arzt teilt ihm mit, er solle Frieden für seine Seele erbitten. Don Quixote schläft 6 Stunden lang, als sei er bereits ins Jenseits hinübergetreten, und erwacht voller Seligkeit: er hat gelernt, seinen Tod zu akzeptieren, und nimmt Abschied voller Zuversicht und Liebe. Zugleich stellt er seinen Lebensweg als Plan seiner Seele dar. Seine sogenannten Thorheiten seien Erfüllung eines hohen Auftrages, den seine Seele in diesem seinem Leben zu erfüllen gehabt habe.

Porträt Molières als Dichterfürst (1658) von Nicolas Mignard

Jean Bapatiste Moliere (1622-73) hat in seinem letzten großen Bühnenwerk den " Eingebildeten Kranken" beschrieben. In einem furiosen Kampf um Liebe und Erbe wird der Kranke als Hypochonder beschrieben - eine insofern besonders tragisch anmutende "Geschichte", weil der Dichter nach der selbst inszenierten Uraufführung - noch im Kostüm seines Titelhelden - an einem akuten Malaria-Anfall verstorben ist.

Schiller als Regimentarzt, 1781/1782. Gemälde von Philipp Friedrich Hetsch

Johann Christoph Friedrich Schiller (1759 bis 1805) wurde 1780 zum Doktor der Medizin promoviert. Er hatte eine umstrittene und zunächst zurückgewiesene Arbeit über die »Philosophie der Physiologie« vorgelegt, in der er seine Theorie von den Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele - oftmals apodiktisch und programmatisch - vortrug. Die für sein weiteres Leben bestimmende Maxime bestand in der absoluten Unterwerfung des Körpers durch den freien Willen. Schon wenige Jahre später musste er schwere Infektionskrankheiten hinnehmen: zunächst Malaria und dann die Tuberkulose. Ein primärer Infekt durch das Mycobakterium tuberkulosis kann gutartig verlaufen, wenn nach kurzer Lungenkrankheit die so genannten Herde verkäsen. Es bildet sich ein käsiger Wall um die Bakterien-Kolonie; und nur in Situationen verminderter Immunität bricht dieser Wall auf, so dass die Bakterien in alle Richtungen absiedeln und metastasieren können (sekundäre Tbc). Vermutlich durch immer wieder auftretende Schübe der Malaria-Erkrankung war die Situation verminderter Immunität gegeben, so dass Schiller, der visionäre Dichter des »Erhabenen« und der Freiheit im "Reich des schönen Scheins" der Tuberkulose unterlag. Schwere Krisen erschütterten Körper, Geist und Seele dieses Dichters und Philosophen der »Freude», bis er im Alter von 46 Jahren der damals unheilbaren Infektionskrankheit erlag. Die Seele hatte die Inkarnation in ein irdisches Leben erwählt, dass der Menschheit die ästhetische Theorie der Freiheit und die großen Dramen von den »Räubern« bis zum »Wallenstein« und zugleich das tragische Ende durch Tuberkulose zeigen sollte. Es war der Lebensplan einer großen, »alten« Seele.

Georg Büchner um 1830

Georg Büchner (1813 bis 1837) hatte sich als Dichter des Dramas »Dantons Tod« und als politischer Aktionär mit der Flugschrift »Der hessische Landbote« hervorgetan. Zugleich war er als medizinischer Forscher an den Universitäten Straßburg und Gießen auf den Gesichtsnerven (besonders den Nervus facialis) konzentriert. Schließlich entfaltete » Lenz« die Erzählung einer psychotischen Depression in der Nachfolge von Goethes »Werther«. Hinterlassen, und postum veröffentlicht, kennen wir das Dramen-Fragment »Woyzeck«, in dem die suizidale Depression eines kleinen Soldaten aufgeführt wird. Als Wissenschaftler an der exakten Erkundung der Nervenbahnen beteiligt, hat der politische Protestant den so genannten jungdeutschen Weg in die antifeudale Freiheit verfolgt. Dahingerafft durch Typhus - eine bakterielle Infektionskrankheit des Magen-Darm-Taktes - erfüllte sich seine im »Woyzeck« dargelegte Auffassung, der Mensch wähne sich, frei zu sein. Doch die Determiniertheit des Körpers durch Hunger, Tod, Krankheit und Libido sei desillusionierend wirklich. Der Körper dieser »reifen« Seele wurde durch einen Infekt dahingerafft, bevor die Häscher der preußischen Polizei eine Inhaftierung veranlassen konnten. Der Lebensplan verfolgte politische Freiheit mit den Mitteln künstlerischer Literatur. Eine metaphysische Fundierung in religiösen Konzepten wird ausdrücklich zurückgewiesen. Die »reife« Seele des Georg Büchner hat im zufälligen Tod durch einen Typhus-Infekt ihr frühes Lebensende gefunden.

Heinrich Heine, 1831, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim


Heinrich Heine, der höhnisch-arrogante Student der Göttinger Rechtsfakultät, hatte in seiner »Harzreise« betont, ein Apostel der bürgerlichen Liebe sei er nicht. (»Du hättest so schön, mein Schätzchen, von unserer Liebe erzählt«: so heißt es in einem Gedicht über den großbürgerlichen Teetisch, an dem sie »von Liebe viel« sprachen). Folgerichtig hat ihn der Infekt durch Treponema pallidum hingestreckt. Die Mikroorganismen treten - besonders beim Geschlechtsakt - von einem bereits Infizierten zum Partner über und verursachen zunächst eine leichte, ulzeröse Erkrankung (offene Wunden am Genitale). Nach Ausbreitung des Erregers im gesamten Körper wird das Gehirn befallen. Lähmungen und schließlich der Tod sind die Folge (tertiäre Lues). Heinrich Heine hat in seinem lebenslangen Kampf gegen verlogene Bürgermoral die schweren Leiden der Syphilis im Pariser Exil erlitten (von ihm so genannte »Matratzengruft«). Im Alter von etwa 57 Jahren ist er der Syphilis erlegen, die zum Lebensplan der Seele gehörte. Es galt, die Emanzipation von der preußischen Kleinbürgerlichkeit zu erfahren und konsequent den frühen Tod durch die Syphilis zu erleiden. Die Dichtungen vom »Buch der Lieder« über die »Harzreise« und »Deutschland ein Wintermärchen« bis hin zum »Romanzero« waren sozusagen der Ertrag dieses Lebens mit Syphilis.

Portrait des Schriftstellers Fjodor Dostojewski, Öl auf Leinwand (1872) von Wassili Grigorjewitsch Perow, Tretjakow-Galerie, Moskau

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 bis 1881), nach Zwangsarbeit in Sibirien von einem atheistischen Sozialismus damaliger Zeit zum russisch-orthodoxen Glauben konvertiert, zeigt in seinem Roman » Der Idiot« (1868/9) einen russischen Fürsten, der an einer epileptischen Krankheit leidet.

Das West-Syndrom wurde in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts von dem englischen Chirurgen William James West (1793 bis 1848) zuerst beschrieben. Es beruht auf einer angeborenen Mutation am so genannten Polyalanin-Gen (ARX.; Lokalisation Xp 22;13, daher häufiger bei Männern symptomatisch; später auch nach Ohtahara benannt). Unbehandelt beginnen die Kinder im Alter von Monaten bis Jahren mit so genannten BNS-Krämpfen (Abkürzung für blitzartige Grimassen, Nicken und eine Verbeugung des Oberkörpers, die dem islamischen »Salemaleikum« ähnelt: »Blitz-Nick-Salaam«). Die Erkrankung verläuft meist chronisch-progressiv, so dass die jungen Menschen infolge der immer wieder auftretenden Hirn-Krämpfe nach und nach neurologische Defizite entwickeln und schließlich vorzeitig versterben.

Dostojewski - selbst von dieser damals unbehandelbaren Krankheit befallen - teilte die im russisch-orthodoxen Glauben verbreitete Ansicht, die epileptischen Menschen seien von Gott gesegnet, indem sie vor jedem Kampfanfall für einige Minuten einen Zustand der inneren Ruhe (vergleichbar der transzendentalen Meditation) erreichten und wunderbare Visionen des Jenseits erleben. Solche vom Jenseits-Erlebnis geläuterten Menschen mit zunehmend gravierenden Störungen der Bewegung, Wahrnehmung und Erinnerung wurden »Idiot« genannt, weshalb Dostojewski diese Bezeichnung als Titel für seinen Roman wählte.

»Die Hauptidee des Romans ist, einen vollkommen schönen Menschen darzustellen,« schreibt Dostojewski selbst über diesen Roman. Der Fürst Myschkin wird als demütig und bescheiden und als Verkörperung des Heiligen in einer heillosen Welt bezeichnet.

Dostojewski hatte die Vorstellung, der Konflikt der russischen Zeitgenossen bestehe vor allem in einem Gegeneinander sozialistischer Revolte und zutiefst religiöser Schulderfahrung. Diese Dynamik der russischen Gesellschaft wird durch die Darstellung der eigenen »Ideologie« als Lebensaufgabe geschildert. Sowohl der Romanheld Myschkin als auch der Dichter selbst haben die Verkörperung der eigenen Seele in dieser Weise verstanden.

Im Alter von 38 Jahren, Portrait von Osip Braz

Der russische Epiker Anton P. Tschechow (1860-1904) hat 1893 eine Erzählung mit dem Titel »Krankensaal Nummer 6« publiziert. Der Chefarzt eines äußerst verwahrlosten psychiatrischen Krankenhauses wird schließlich selbst »eingeliefert« und von seinen Mitpatienten erschlagen. Er fällt in Missständen zum Opfer, gegen die er in seinem Berufsleben nichts unternommen hat.

Bildnis Alfred Döblin von Ernst Ludwig Kirchner, 1912

Der Arzt Alfred Döblin (1878-1956) veröffentlichte 1912 einen Band mit Erzählungen: »Die Ermordung einer Butterblume«. Einer der Texte schildert das gespannte Verhältnis einer Tänzerin zu ihrem trainierten Leib, den sie schließlich vor den Augen des Arztes mit einer Schere ersticht. (»Die Tänzerin und der Leib« 1912). »Du Affe, du Schlappschwanz«, sind ihre letzten Worte, denn der Arzt vermochte es nicht, der Seele die Schmerzen zu nehmen. Ein lebenslanger Kampf von Seele und Leib um die Vorherrschaft geht auf diese mörderische Weise zu Ende. Dem Arzt gelingt es nicht, den Konflikt zwischen Leib und Seele zu lösen, und dem Dichter bleibt nur die höhnische Darstellung dieses desillusionierenden Befundes.

Ernest Hemingway (1899-1961) , der chronisch Leber-kranke Sohn eines Selbstmörders (Hämochromatose) - und schließlich in gleicher Weise verzweifelt aus dem Leben geschieden - stellt in seinem Roman »Der alte Mann und das Meer« den Lebenskampf eines Fischers dar. 1954 wurde er besonders wegen dieser Erzählung mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. »Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben«, so lautet die Sentenz des vielschichtigen Werkes. Santiago, begleitet von dem Fischerjungen Mandolin, fängt einen riesigen Schwertfisch, den er mit unendlichen Mühen ans heimatliche Gestade schleppt. Jedoch haben die Haie inzwischen nur noch das Gerippe des Fisches übrig gelassen. Erschöpft legt sich der alte sozusagen schlafen, umsorgt vom Fischer der nächsten Generation, der aus dem Kampf des Alten seine Lehre gezogen hat.

Albert Camus

Camus (1913-60) schildert 1947 die Pest als Allegorie des Absurden. Der Arzt Rieux kämpft in selbstloser Aufopferungen gegen die schwere Infektionskrankheit, die sich als Ausdruck einer Welt mit Kriegen, Atombomben, Konzentrationslagern und Maschinenherrschaft erweist. Der Dichter, der sich zum Schluss als der Arzt erweist, bekämpft die Krankheit, ohne seinem Tun einen tieferen Sinn geben zu können.

Thomas Mann, 1937
Foto von Carl van Vechten

Thomas Mann (1875-1955) hat in zwei großen Romanen die Krankheit thematisiert:

  • Der Zauberberg 1924
  • Dr. Faustus 1946.

Der »Zauberberg« erzählt die Geschichte Hans Castorps, der als junger Mann dem Lungensanatorium zu Davos einen Besuch abstattet und wegen eines bagatellösen Tuberkulose-Infektes mehrere Jahre in der Gesellschaft des Sanatoriums verbleibt. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verursacht die Rückkehr des hypochondrisch besorgten Pseudopatienten. Die morbide Gesellschaft der Lungenkranken verleitet zur Sorge um Krankheit und Tod. »Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« (Kapitel 6)

»Dr. Faustus« - alias der Komponist Adrian Leverkühn - infiziert sich bei einem Bordell-Besuch. Die Syphilis quält und inspiriert den 12-Ton-Komponisten jahrzehntelang, bis der Tod ihn dahinrafft. Der »Wahnsinn« - als späte Folge der Krankheit - wird in verschiedenen Episoden dargestellt. Er führt in den Tod und ermöglicht eine Tonkunst, die die Erfahrung des Jenseits thematisiert.

Gottfried Benn ca. 1951; Zeichnung von Tobias Falberg

Gottfried Benn (1886-1956) hat vielfältig Krankheit und Tod in seinen Gedichten und Erzählungn thematisiert. Bereits als Assistenzarzt für Pathologie veröffentlichte er die Gedichtsammlung "La Morgue" (1912). In desillusionierender Weise werden Eindrücke aus dem Sektionssaal mit der Auffassung in Verbindung gebracht, Seele und Gott seien pure Einbildung. "Der Arzt", ein Zyklus aus drei Gedichten, drückt Benns Seelen-Nihilismus in folgender Weise aus:

"Ihr sprecht von Seele - was ist eure Seele?
 Verkackt die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett -
 Schmiert sich der Greis die mürben Schenkel zu,
 und ihr reicht Fraß, es in den Darm zu lümmeln,
 meint ihr, die Sterne samten ab vor Glück ...?"
(Benn 1998)

Peter Härtling

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Peter Härtling (geboren 1933) hat vor allem vier große Krankheits-Romane verfasst: - Hölderlin 1976 - Herzwand. Mein Roman 1990 - Schubert 1992 - Schumanns Schatten 1996.

Der Roman über Hölderlin thematisiert den Zusammenhang dichterischer Genialität mit Hölderlins Psychose. In seiner Autobiografie, die er »mein Buch« nennt, bildet die koronare Herzkrankheit den Anlass, über das verflossene Leben nachzusinnen. In der Biografie Schuberts spielt die Syphilis des romantischen Komponisten eine Lebens-entscheidende Rolle. »Schumanns Schatten« stellt die endogene Psychose als tragische Wende im Leben des großen Musiker-Ehepaares dar.

Literatur als Therapie

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Dichtung wird als Heilmittel verwendet. Grundsätzlich werden vier Methoden unterschieden:

  • Psychodrama
  • Lesetherapie
  • Schreibtherapie (kreatives Schreiben)
  • Literarische Anthropologie.

Das Psychodrama ist eine gruppendynamische Rollenspiel-Therapie, durch die der Patient (Protagonist) seine Probleme in Szene setzt. Die weiteren Mitglieder der Gruppe spielen nach den Vorgaben des Protagonisten Vater, Mutter, Schwester etc., so dass eine dramatische Inszenierung entsteht. Haupt-Zielsetzung eines solchen Vorgehens ist das bewusste Wieder-Erleben von Situationen, die im Leben des Patienten einstmals Traumatisierung hervorgerufen haben.

Die Lesetherapie nutzt die emotionalen Prozesse, die bei der Literatur-Rezeption ausgelöst werden. In Gruppen- beziehungsweise so genannten Einzelgesprächen werden die Deutungen, Mitempfindungen und Aversionen der Leser thematisiert. Durch solche Gespräche soll der Patient seine eigenen Konflikte zur Sprache bringen, indem er die Erlebnisse eines fiktiven Helden bearbeitet (vgl. Matthies 2008).

Die Schreibtherapie nutzt in ähnlicher Weise wie die Lesetherapie die Identifikation des Rezipienten mit einem fiktiven Helden. Allerdings schafft sich der Patient seine literarische Fiktion selbst, indem er ein Gedicht oder eine Erzählung herstellt (vgl. Heimes 2008).

Die literarische Anthropologie gilt als die Metatheorie der zuvor genannten drei Verfahren. Jede Gesellschaft produziert ihre literarischen Erzeugnisse, indem die reale Erfahrungen fiktiv wiederholt und dadurch eventuell differenzierter nacherlebt werden (Iser 1991).

  • Bankl, Hans: Woran sie wirklich starben: Krankheiten und Tod historischer Persönlichkeiten. Verlag Maudrich 5. Aufl. 2005.
  • Bankl, Hans: Viele Wege führten in die Ewigkeit. Verlag Maudrich 3. Aufl. 2005.
  • Bankl, Hans: Der Rest ist nicht Schweigen. Verlag Maudrich 1992.
  • Benn, Gottfried: Der Arzt. In: Sämtl. Gedichte.d Stuttgart 1998.
  • Drewermann, Eugen: "Ich steige hinab in die Barke der Sonne." Alt-Ägyptische Meditationen zu Tod und Auferstehung in Bezug auf Joh. 20/21. Düsseldorf 1989.
  • Engelhardt, Dietrich von: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. 1 Hürtgenwald 1991.
  • Fürst,J.; K.Ottomeyer, H.Pruckner: Psychodrama-Therapie, Facultas 2004.
  • Hasselmann, Varda/ Schmolke, Frank: Archetypen der Seele. Münchend 2005.
  • Heimes, Silke: Kreatives und therapeutisches Schreiben: Ein Arbeitsbuch. Göttingen 2008.
  • Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre - Perspektiven literarischer Anthropologie (1991)
  • Kleefeld, Günther: Das Gedicht als Sühne: Georg Trakls Dichtung und Krankheit; eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985.
  • Kulessa, H. (Hrsg.): Herznaht. Ärzte, die Dichter waren - von Benn bis Schnitzler. Hamburg etc. 2005.
  • Matthies, Klaus: Sinnerfahrungen und Reflexionen in Kunst und Therapie. Hamburg 2008.
  • Meyers, Jeffrey: Disease an the Novel, 1880-1960. London 1985.
  • Petzold, Hilarion (Hrsg.) (1990): Die neuen Kreativitätstherapien/Handbuch der Kunsttherapie, Band I und II. Paderborn: Junfermann
  • Riha, Ortrun: Psychosomatische Dichtung oder: Von der Metapher zur Krankheit. In: Corbineau-Hoffmann, Angelika/ Nicklas, Pascal (Hg): Körper/Sprache. Hildesheim 2002, S 95-113.
  • Roethlisberger, Linda: Der sinnliche Draht zur geistigen Welt. Ein Lehrbuch zur Entfaltung der medialen Anlagen und der eigenen Persönlichkeit . München 2005.
  • Treichler, Rudolf: Friedrich Hölderlin: Leben und Dichtung, Krankheit und Schicksal. Stuttgart 1987.