Evangeliar von Lindisfarne

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Evangelist Matthäus, f. 25v
Evangelist Johannes, f. 209v

Das Evangeliar von Lindisfarne (englisch Lindisfarne Gospels) ist eine illustrierte Handschrift aus dem späten 7. oder frühen 8. Jahrhundert. Sie wurde im Kloster Lindisfarne vor 721 „zur Ehre Gottes und des heiligen Cuthbert“ geschaffen. Schreiber und Illustrator war Eadfrith, Bischof von Lindisfarne von 698 bis 721. Das Werk ist unvollendet, weshalb vermutet wird, dass es durch seine Bischofsweihe 698 oder seinen Tod 721 abgebrochen wurde.

Folium 27r: Incipit des Matthäus-Evangeliums
Sog. Teppichseite vor dem Matthäus-Evangelium, f. 26v

Die Handschrift enthält auf 259 Folia auf Kalbspergament im Format von 34 cm × 24,5 cm den vollständigen Text der vier Evangelien des Neuen Testaments in lateinischer Sprache. Darüber hinaus enthält die Handschrift ‒ wie häufig in Evangelienhandschriften dieser Zeit ‒ Novum Opus (f. 3r-5v) und Plures Fuisse (f. 5v-8r), des Hieronymus, die Praefatio (Vorwort) aus einem Brief des Eusebius an Carpianus (f. 8r-9r), sowie Kanontafeln (f. 10r-17v), Argumentum (f. 90r-90v), Esaie testimonium (f. 91r-93r) zum Markus-Evangelium, Argumentum und Praefationes zum Lukas-Evangelium (f. 131r-137r), Argumentum, Capitula und Festiis … martyribus (f. 203v-208v) zum Johannes-Evangelium.

Es sind ganzseitige farbige Miniaturen der Evangelisten und Verzierungen im Text erhalten. Die Gestaltung besticht durch die Kompliziertheit und Exaktheit der Flechtbandornamentik (die technische Zeichnungen vorausahnen lassen), durch seine im Vergleich zu mediterranen Vorbildern drastische Farbigkeit und durch die Gestaltung der Darstellungen von Tieren und Menschen, die trotz ausgeprägter Linearität einer realistischen Auffassung verpflichtet sind und sich dadurch von dem hochabstrakten Stil irischer Buchmalerei deutlich unterscheiden. Im 10. Jahrhundert wurde zwischen die Zeilen des lateinischen Textes als Interlinearglossen die älteste erhaltene altenglische Übersetzung der Evangelien eingefügt. Eine Inschrift aus dem 10. Jahrhundert nennt neben Eadfrith noch seinen Nachfolger im Amt Æthelwald als Buchbinder und den Einsiedler Billfrith als Goldschmied für den Einband.

Bereits 793 wurde das Kloster Lindisfarne von Wikingern überfallen. Um 875 verließen die Mönche wegen der Bedrohung mit der Handschrift und anderen Reliquien das Kloster Lindisfarne und gingen zuerst nach Chester-le-Street und dann nach Durham. Um 1539 kam das Evangeliar nach der Aufhebung des Klosters in Privatbesitz und schließlich in die Hände des Sammlers Robert Bruce Cotton. 1753 schenkten dessen Nachkommen seine Bibliothek der englischen Nation. Seitdem befindet sich das Manuskript in der British Library in London, mit der Signatur Cotton MS Nero D IV. 1852 erhielt das Evangeliar einen neuen Einband im historisierenden Geschmack der Zeit. Im Jahr 2013 wurde das Lindisfarne Gospels in der Palace Green Library in Durham gezeigt.

2003 brachte der Faksimile Verlag Luzern eine Faksimileausgabe des Manuskripts heraus.

  • Jonathan J. G. Alexander (Hrsg.): A survey of manuscripts illuminated in the British Isles. Band 1: J. J. G. Alexander: Insular manuscripts. 6th to the 9th century. Miller, London 1978, ISBN 0-905203-01-1, S. 35–40.
  • Janet Backhouse: The Lindisfarne Gospels. Phaidon 1981, ISBN 0-7148-2461-5.
  • Janet Backhouse: The Lindisfarne Gospels. A Masterpiece of Book Painting. The British Library, London 1995, ISBN 0-7123-0400-2.
  • Michelle P. Brown: The Lindisfarne Gospels and the Early Medieval World. The British Library, London 2011, ISBN 978-0-7123-5801-9.
  • Michelle P. Brown (Hrsg.): The Lindisfarne Gospels. Codex Lindisfarnensis Cotton MS Nero D.iv der British Library, London. Das Buch von Lindisfarne, Faksimile Verlag Luzern, Luzern 2001–2003, ISBN 3-85672-084-7 (Vorzugsausgabe), ISBN 3-85672-085-5 (Normalausgabe), ISBN 3-85672-086-3 (Kommentarbände à part)
  • Michelle P. Brown: The Lindisfarne Gospels: Society, Spirituality and the Scribe. (The British Library Studies in Medieval Culture), University of Toronto Press, Toronto 2003, ISBN 0-8020-8825-2.
  • Christoph Eggenberger: Book of Lindisfarne. In: Severin Corsten u. a. (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. Band: 1: A – Buch. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hiersemann, Stuttgart 1987, ISBN 3-7772-8721-0, S. 505–506.
  • Richard Gameson (Hrsg.): The Lindisfarne gospels. New perspectives. Brill, Leiden 2017, ISBN 978-90-04-33783-1.
  • Thomas D. Kendrick: Evangeliorum quattuor Codex Lindisfarnensis. Musei Britannici Codex Cottonianus nero D.IV permissione Musei Britannici totius codicis similitudo expressa. (Faks.-Ausg.). Urs Graf, Olten u. a. 1956–1960.
  • Nancy Netzer: Die Arbeitsmethoden der insularen Skriptorien. Zwei Fallstudien: Lindisfarne und Echternach. Deutsche Übersetzung von Annette Schroeder. In: Michele Camillo Ferrari (Hrsg.): Die Abtei Echternach. 698–1998. Publ. du CLUDEM, Luxembourg 1999, ISBN 2-919979-12-4, (Publications du Centre Luxembourgeois de Documentation et d’Études Médiévales CLUDEM 15), S. 65–103.
  • Carl Nordenfalk: Insulare Buchmalerei. Illuminierte Handschriften der Britischen Inseln 600–800. Prestel, München 1977, ISBN 3-7913-0402-X, (Die großen Handschriften der Welt), S. 60–75.
  • Eleanor Jackson: The Lindifarne Gospels – Art, History & Inspiration, The British Library, London 2022, ISBN 978-0-7123-5481-3.
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