Dahrīya

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Als Dahriten (arabisch دهرية, DMG Dahrīya) werden in der islamischen Doxographie im Kalām solche Gruppen von Menschen bezeichnet, die Religion und den Glauben an einen Schöpfergott ablehnen, die Anfangslosigkeit der Welt lehren und alles Weltgeschehen allein dem Walten unverbrüchlicher Naturgesetze zuschreiben.

Während W. L. Schrameier den Begriff Dahrīya mit Fatalisten übersetzte, hielt Ignaz Goldziher diese Bezeichnung für unpassend und empfahl, den Begriff mit Materialisten oder Naturalisten wiederzugeben.[1] Daniel Gimaret hingegen hielt auch den Begriff „Materialisten“ für unpassend, weil er häufig für Anhänger der Lehre verwendet wird, dass das Universum keinen zeitlichen Anfang hat. Der griechische Philosoph Proklos, den Abū l-Hasan al-Aschʿarī ausdrücklich als Dahriten charakterisierte, könne zum Beispiel kaum als Materialist bezeichnet werden.[2]

Wortherkunft und koranische Aussagen

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Grundlage für die Vorstellung von der Dahrīya ist die koranische Aussage in Sure 45:24 über die Ungläubigen: „Und sie sprechen: 'Es ist nichts anderes als unser irdisches Leben; wir sterben und leben und nichts vernichtet uns als der Lauf der Zeit (dahr).“ Die Leugnung der Realität eines jenseitigen Lebens und implizit der Existenz Gottes durch die Identifizierung der Zeit als einziger Todesursache wurde grundlegend für die Vorstellung der Dahrīya im primären Sinn.[2] Gemäß dem Korankommentar von al-Baidāwī und dem Tafsīr al-Dschalālain bedeutet es „das Verstreichen der Zeit“ (murūr al-zamān), gemäß az-Zamachscharī „eine Zeitspanne, die vergeht“ (dahr yamurru) in Sure 45:24, und ein Zeitintervall von beträchtlicher Länge in Sure 76:1. Die Idee einer langen Zeitspanne wurde immer dominanter und erreichte schließlich den Punkt, an dem sie einen Zeitraum ohne Grenze oder Ende bezeichnete.[3] Diese Interpretation des Wortes hat die sekundäre Bedeutung von Dahrīya hervorgebracht, wonach es ich um eine Gruppe handelt, die in die Ewigkeit der Welt glaubt.[2]

Beschreibungen ihrer Lehre in der islamischen Doxograhie und Theologie

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Schon die ersten Kalām-Gelehrten betrachteten die Dahrīya als eine Gruppe, deren Lehren einer Widerlegung bedurften. So soll der Muʿtazilit Abū Bakr Asamm (gest. 816) eine Widerlegung der Dahrīya verfasst haben, und weitere derartige Widerlegungen werden an-Nazzām und Abū l-Hudhail zugeschrieben.[2] Al-Dschāhiz stellte in seinem Kitāb al-Ḥayawān kontrastiv die Lehrrichtungen der Dahriten (maḏāhib ad-dahrīyīn) den Lehrrichtungeen der Monotheisten (maḏāhib al-muwaḥḥidīn) gegenüber.[4] Er definiert den Dahriten als Menschen, der „den Herrn“, die Schöpfung, Belohnung und Strafe im Jenseits, Religion jedes Gesetz leugnet, nur auf seine eigenen Wünsche hört und nur in dem Böses sieht, was im Widerspruch zu diesen steht. Wörtlich schreibt al-Dschāhiz über ihn:

„Er kennt keinen Unterschied zwischen Mensch und Vieh; schlecht ist in seinen Augen nur, was seinen Lüsten im Wege steht; alles dreht sich bei ihm um Lust und Schmerz; recht ist, was ihm Nutzen verursacht und kostete es auch tausend Menschen das Leben"“

al-Dschāhiz[5]

Dass den Dahriten hier eine hedonistische Lebensanschauung zugeschrieben wird, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass in dem dem Dahr-Vers vorangehenden Koranvers 45:23 ein Mensch beschrieben wird, der seine persönliche Neigung zu seinem Gott gemacht hat.[1] An einer anderen Stelle charakterisiert al-Dschāhiz die Dahriten als diejenigen, die die Existenz von Satanen, Dschinn und Engeln sowie die Möglichkeit von Visionen und die Wirksamkeit von Beschwörungen (ruqā) abstritten.[6]

Der ostiranische Gelehrte al-Chwārazmī (gest. nach 976) hob als das wichtigste charakteristische Moment der Lehre Dahriten ihr Bekenntnis zur Anfangslosigkeit der Zeit (qidam ad-dahr) hervor.[7] Die Rede über die zeitliche Entstandenheit (ḥudūṯ) der Körper und die Widerlegung der Dahrīya, die die Anfangslosigkeit der Zeit lehren, ist nach ihm der erste Gegenstand des Kalām.[8]

ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī beschreibt die Dahriten als eine Klasse der Ungläubigen, von denen man nicht die Dschizya nehmen dürfe, sondern die getötet werden müssten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie behaupten, dass die Welt in ihrem jetzigen Zustand mit Erde, Luft, Himmel und Sternen seit aller Ewigkeit besteht und der Mensch aus dem Samen und dieser wiederum aus einem Menschen hervorgeht und diese Kette bei ihm genauso wie bei den anderen Lebewesen unendlich weit zurückreicht.[9] Der Mensch, so al-Baghdādī, kann nach der dahritischen Lehre nur aus einem früheren Menschen hervorgehen, und mit den anderen Lebewesen verhält es sich ebenso.[10]

Al-Ghazālī betrachtete die Dahriten dagegen als eine Klassen von Philosophen, die im Laufe der Jahrhunderte eine bestimmte Denkrichtung zum Ausdruck brachten. In seiner intellektuellen Autobiographie al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl spricht er von ihnen als der ersten Kategorie (ṣinf) von Philosophen. Sie waren eine „Sekte (ṭāʾifa) der Alten“, die einen Schöpfer, der die Welt regiert, und die Existenz einer zukünftigen Welt leugnete. Wörtlich schreibt er über sie:

„Sie behaupten, dass die Welt, so wie sie ist, von sich aus von Ewigkeit an existiert habe und nicht durch einen Schöpfer entstanden sei. Das Lebewesen habe nicht aufgehört, durch ein Sperma und das Sperma durch ein Lebewesen zu entstehen: So war es und so wird es immer sein.“

al-Ghazālī[11]

Al-Ghazālī setzt die Dahriten an derselben Stelle auch mit den Zindīqen gleich.

In einer arabischen Enzyklopädie des 12. Jahrhunderts wird die Dahrīya als eine kleine Gruppe von Menschen beschrieben, die die Existenz eines Schöpfergottes zwar zugestehen, die Entstehung der Welt jedoch als das Ergebnis des planlosen Zusammenstossens von in Räumen herumschwirrenden Atomen erklären.[12]

Über die Verbreitung der dahritischen Lehre ist nur wenig bekannt. Im 9. Jahrhundert scheint sie eher ein elitäres Phänomen gewesen zu sein, denn al-Dschāhiz schreibt in seinem Kitāb at-Tarbīʿ wa-t-tadwīr fragt er: „Warum finden wir die Lehre der Dahrīya nur bei dem Elitären (al-ḫāṣṣ), dem Sonderling (aš-šāḏḏ) und dem ungewöhnlichen Menschen (ar-raǧul an-nādir)?“[13] Außerdemscheinen sich die Dahriten darum bemüht zu haben, nicht unter den Muslimen aufzufallen. Al-Masʿūdī berichtet von einem sehr beliebten Arzt in Bagdad während der Herrschaft von Harūn ar-Raschīd (reg. 786-809), der Dahrit, aber vorgab, Sunnit zu sein, und die Neuerer verfluchte, wewegen er als Sunnit bekannt wurde.[14]

Bedeutungswandel im 19. Jahrhundert

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Im 19. Jahrhundert wurden häufig die aus Europa in den Orient vordringenden materialistischen und naturwissenschaftlichen Lehren als dahritisch bezeichnet. So erließ schon 1798 der osmanische Gouverneur von Sidon Cezzâr Ahmed Pascha einen Ferman gegen die „dahritischen“ Lehren der Französischen Revolution. Auch diejenigen muslimischen Denker, die diese westlichen Lehren übernahmen, wurden als Dahriten bezeichnet, so zum Beispiel der indische Gelehrte Sayyid Ahmad Khan in der arabischen Version einer Widerlegung seiner Lehren aus der Feder von Dschamāl ad-Dīn al-Afghānī.[15]

Arabische Quellen

  • Abū Manṣūr al-Māturīdī: Kitāb at-Tauḥīd. Ed. Fatḥallāh Ḫulaif. Beirut, 1986. S. 141-152. Digitalisat
  • Ibn al-Malāḥimī (gest. 1141): Kitāb al-Muʿtamad fī uṣūl ad-dīn. Ed. Martin J. McDermott and Wilferd Madelung. London 1991. S. 547–552. Digitalisat

Sekundärliteratur

  • Hayrani Altıntaş: "Dehriyye" in Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi. Istanbul 1994. Bd. IX, S. 107–109. Link zum Digitalisat
  • Hans Hinrich Biesterfeldt: "'Eternalists' an d 'Materialists' in Islam : A Note on the Dahriyya" in Yitzhak Melamed: Eternity in History. Oxford University Press, New York 2016. S. 117–124.
  • Patricia Crone: "The Dahrīs according to al-Jāḥiẓ", in Mélanges de l’Université Saint-Joseph 63 (2010-11), 63-82.
  • Patricia Crone: "Dahrīs" In K. Fleet, G. Krämer, D. Matringe, J. Nawas and D. J. Stewart (Hrsg.): Encyclopaedia of Islam Three Online. Brill, Leiden 2012.
  • Daniel Gimaret: "Dahrī II. In the Islamic Period" in Encyclopaedia Iranica Bd. VI, S. 587–90. Digitalisat (veröffentlicht 1993)
  • Ignaz Goldziher: "Dahrīya" in Enzyklopädie des Islam Brill, Leiden 1913. Bd. I, S. 932f.
  • Ignaz Goldziher, A.M. Goichon: "Dahriyya" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Brill, Leiden 1954. Bd. II, S. 95–97.
  • Martin J. McDermott: “Abū ʿĪsā al-Warrāq on the Dahriyya” in Mélanges de l’Université Saint-Joseph 50 (1984) 385–402.
  • Wilhem Ludwig Schrameier: Über den Fatalismus der vorislamischen Araber. Bonn 1881. Digitalisat
  • Tareh, M., Shah-Kazemi, R., Khaleeli, A., & Asatryan, T. b. M. (2021). Dahriyya. In W. Madelung and F. Daftary (eds.), Encyclopaedia Islamica Online. Brill. Online-Version

Einzelnachweise

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  1. a b Goldziher: "Dahrīya". 1913, S. 932.
  2. a b c d Gimaret: "Dahrī II. In the Islamic Period". 1993, 588b.
  3. Goldziher/Goichon: "Dahriyya". 1954, S. 95.
  4. Al-Ǧāḥiẓ: Kitāb al-Ḥayawān. Ed. ʿA.-S. M. Hārūn. 7 Bde. Kairo, 1938–45. Bd. I, S. 217. Digitalisat
  5. Zitiert in Goldziher: "Dahrīya". 1913, S. 932b.
  6. Al-Ǧāḥiẓ: Kitāb al-Ḥayawān. Ed. ʿA.-S. M. Hārūn. 7 Bde. Kairo, 1938–45. Bd. II, S. 139. Digitalisat
  7. Abū ʿAbdallāh Muḥammad al-Ḫwārazmī: Kitāb Mafātīḥ al-ʿulūm. Ed. Gerlof van Vloten. Brill, Leiden, 1895. S. 35, vorletzte Zeile. Digitalisat
  8. Abū ʿAbdallāh Muḥammad al-Ḫwārazmī: Kitāb Mafātīḥ al-ʿulūm. Ed. Gerlof van Vloten. Brill, Leiden, 1895. S. 39f. Digitalisat
  9. ʿAbd al-Qāhir al-Baġdādī: Uṣūl ad-Dīn. Maṭbaʿat ad-Daula, Istanbul 1928. S. 319. Digitalisat
  10. ʿAbd al-Qāhir al-Baġdādī: Uṣūl ad-Dīn. Maṭbaʿat ad-Daula, Istanbul 1928. S. 40. Digitalisat
  11. al-Ġazālī: al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl. Ed. Farid Jabre. Collection Unesco, Beirut 1959. S. 19. Digitalisat – Deutsche Übersetzung von ʿAbd-Elṣamad ʿAbd-Elḥamīd Elschazlī unter dem Titel Der Erretter aus dem Irrtum. Meiner, Hamburg 1988. S. 16f. Digitalisat
  12. Ǧamāl ad-Dīn al-Qazwīnī: Mufīd al-ʿulūm wa-mubīd al-humūm. Ed. Muḥammad ʿAbd al-Qādir ʿAṭā. Dār al-kutub al-ʿilmīya, Beirut 1985. S. 87f. Digitalisat
  13. Al-Ǧāḥiẓ: Kitāb at-Tarbīʿ wa-t-tadwīr. Ed. Charles Pellat. Damaskus 1955. S. 76. Digitalisat
  14. Al-Masʿūdī: Murūǧ aḏ-ḏahab wa-maʿādin al-ǧauhar. Ediert und übersetzt von Barbier de Meynard et Pavet de Courteille. 9 Bde. Paris 1861–1877. Bd. V, S. 84. Digitalisat
  15. Goldziher/Goichon: "Dahriyya". 1954, S. 97.