Der Begriff des Politischen (Carl Schmitt)

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Der Begriff des Politischen ist eine Abhandlung des deutschen Rechtswissenschaftlers und politische Philosophen Carl Schmitt. Er veröffentlichte sie 1932 erstmals als Einzelpublikation zusammen mit einem Vortrag über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen. Nach der Machtergreifung 1933 erfolgte eine dem Zeitgeist angepasste Neuauflage. 1963 veröffentlichte Schmitt die Ausgabe von 1932 neu, mit einem Vorwort und drei Corollarien.[1]

Schmitt arbeitet die Differenz der Kategorie des Politischen im Vergleich mit dem verbreiteten mehrdeutigen und unscharfen Politikbegriff heraus. Die wesentliche Eigenschaft des Politischen sieht er in der antagonistischen Perspektive von Akteuren in ihrem zwischenstaatlichen oder innerstaatlichen öffentlichen Verhältnis. Dieses Verhältnis ist durch die Intensität der Dichotomie von Freundschaft und Feindschaft bestimmt. „Politisch“ ist demnach das Denken und Handeln, wenn es unter dem Gesichtspunkt betrachtet oder geleitet wird, ob es das eigene oder ein seinsmäßig fremdes Denken und Handeln ist. Das Fremde wird dabei als Gefährdung der eigenen Identität und Existenz wahrgenommen.[2][3] Die höchste Intensität des Spannungszustandes ist an der Bereitschaft sichtbar, einen Kombattanten eines feindlichen Landes zu töten, nur weil er Gegner ist.

Im Vortrag über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen arbeitet Schmitt die geistesgeschichtliche Grundlage seines Politikverständnisses heraus.

In den Corollarien von 1963 werden zentrale Begriffe wie Neutralität, Krieg, Feindschaft und zugehörige Aspekte des Völkerrechts erörtert. Im selben Jahr aktualisierte Schmitt sein Verständnis des Politischen in der Theorie des Partisanen.

Die Auffassungen Schmitts sind umstritten; die Abhandlung wird jedoch als erster grundlegender Versuch einer Bestimmung des Politischen im deutschsprachigen Raum betrachtet. Kaum ein anderes rechtswissenschaftliches Werk des 20. Jahrhunderts hat im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus einen vergleichbaren Einfluss erlangt.[4][5] Keine andere Schrift von Schmitts Gesamtwerk hat laut Paul Noack so sehr polarisiert wie Der Begriff des Politischen.[6] Die Reaktionen auf dieses Werk reichen bis zur Gegenwart weltweit von begeisterter Zustimmung bis zu entschiedener Ablehnung als Ausdruck antiliberalen und autoritären Denkens.

Mit dem Aufsatz Der Begriff des Politischen veröffentlichte Schmitt eine überarbeitete und erweiterte Fassung seines gleichlautenden Artikels, der 1927 im Heidelberger Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen war.[7] Vor dieser Erstveröffentlichung hatte Schmitt im Mai 1927 einen Vortrag in einer Vorlesungsreihe zum Thema Probleme der Demokratie gehalten.[8] Die Ausgabe von 1932 wurde durch einen Vortrag über Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen ergänzt, den Schmitt 1929 in Barcelona gehalten und 1930 erstmals publiziert hatte. Die Ausgabe von 1932 enthielt auch ein kurzes Nachwort vom Oktober 1931. Weitere Auflagen erfolgten 1933 und 1938, diese enthielten Kürzungen und Umarbeitungen, die Anpassungen an den Nationalsozialismus darstellen.[9]

1963 publizierte Schmitt das Werk gemäß dem unveränderten Text der ersten Auflage von 1932 neu, ergänzt durch ein Inhaltsverzeichnis, drei Korollarien und ein ausführliches Vorwort mit der Überschrift März 1963.[10] Bei den drei Corollarien handelt es sich um Schriften, die Schmitt 1931, 1940 und 1950 veröffentlicht hatte: Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffes der innerpolitischen Neutralität des Staates (BP 97-101), Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind,[11]

1963 gab Schmitt auch die Theorie des Partisanen neu heraus und stellte schon im Untertitel eine Verbindung zur Begriffsschrift her: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen.[12]

Der Begriff des Politischen, 1932

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Das erste Kapitel beginnt mit einer prägnanten Aussage:

Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. Staat ist nach dem heutigen Sprachgebrauch der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes. (S. 20)[13]

Den Staat sieht Carl Schmitt also durch die drei Charakteristika gekennzeichnet: „territoriale Geschlossenheit“, „organisiertes Volk“ und „politischer Status“. Die entscheidende Größe aller Definitionsversuche des im entscheidenden Falle maßgebenden Zustands eines Volks ist das Politische als Voraussetzung des politischen Status. Politisch bedeutet demnach nicht öffentlich-rechtlich oder staatlich, da dies schon einen bestimmten Staat voraussetzt, der von der Gesellschaft und damit von neutralen nichtstaatlichen Bereichen, also Religion, Kultur, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft oder Bildung, abgegrenzt ist. Schmitt sieht im Gegensatz zum Liberalismus die Tendenz, dass die Demokratie sich zum totalen Staat entwickeln muss,

[...] der nichts absolut Unpolitisches mehr kennt, der die Entpolitisierungen des 19. Jahrhunderts beseitigen muss und namentlich dem Axiom der staatsfreien (unpolitischen) Wirtschaft und des wirtschaftsfreien Staates ein Ende macht.“

Das spezifische Unterscheidungsmerkmal für alles Politische ist die Dichotomie Freund-Feind.

Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. (S. 14)[14]

In Kapitel zwei unterscheidet Schmitt das Politische von Kunst, Moral und Wirtschaft. Alle drei Bereiche werden ebenso durch eine Dichotomie bestimmt: schön-hässlich, gut-böse, rentabel-unrentabel.

Das Politische kann seine Kraft aus den verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und anderen Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen deren Motive religiöser, nationaler (im ethnischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken. (S. 38)[15]

Dieses Merkmal ist eigenständig, lässt sich also nicht auf andere Eigenschaften zurückführen, kann diese aber politisch instrumentalisieren. Feindschaft oder Freundschaft sind nach Schmitt der äußerste Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation.

Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der Andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im Voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines 'unbeteiligten' und daher 'unparteiischen' Dritten entschieden werden können. (S. 14-15)[16]

Der Maßstab der Intensität ist die Bereitschaft, einen anderen Menschen, nur weil er auf der Seite des Feindes steht, zu töten. Er spricht von der "intensivsten Feindschaft" als Kennzeichen des Politischen, die darin bestehe, dass man bereit sei, für seine Überzeugungen und Ziele zu kämpfen und gegebenenfalls auch den Gegner zu töten. Krieg wird so als die äußerste Realisierung der Feindschaft verstanden:

Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins. Krieg ist nur die äußerste Realisierung der Feindschaft. (S. 20)

Schmitt wollte diese Aussage nicht als Aufforderung oder Rechtfertigung für Gewaltanwendung verstanden wissen, sondern als Beschreibung eines grundlegenden Prinzips des politischen Denkens und Handelns.

Im dritten Kapitel wird der Begriff der Feindschaft differenziert betrachtet. Es handelt sich beim politischen Feind nicht um den wirtschaftlichen Konkurrenten oder Diskussionsgegner, auch nicht um einen privaten Feind (lateinisch inimicus, altgriechisch echtrós), sondern einen öffentlichen (hostis, polémios), der daher auch keine Hassgefühle auf sich ziehen muss. Schmitt sieht den politischen Gegensatz als intensivsten und äußersten Gegensatz jenseits von positiver oder negativer Wertung. Damit wird jede konkrete Gegensätzlichkeit „umso politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte der Freund-Feindgruppierung, nähert“.

Auch innerhalb der Staatlichkeit bleibt das Politische immer in seinem antagonistischen Charakter bestehen, dabei aber prinzipiell eingeschränkt und geschwächt, und richtet sich auf einzelne Bereiche, wie etwa die staatspolitische oder parteipolitische Bildungspolitik. Alle politischen Begriffe haben damit einen „polemischen“ Sinn, dieser liegt auch Begriffen zugrunde, die ihren negativen Gegenpol oft nicht mehr offenbaren: Staat, Republik, Gesellschaft, Klasse, Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, Diktatur, neutraler oder totaler Staat. Terminologische Fragen, so Schmitt, entwickelten sich also bei genauem Blick „zu hochpolitischen Angelegenheiten; ein Wort oder ein Ausdruck könne gleichzeitig Reflex, Signal, Erkennungszeichen und Waffe einer feindlichen Auseinandersetzung sein.“ Umgekehrt könnten juristische Begriffe ihren wahren Charakter verschleiern, etwa politische Zwangsinstrumente zu sein.

Der polemische Gebrauch bezieht das Wort „politisch“ selbst mit ein, wenn man seinem politischen Standpunkt beispielsweise durch Kennzeichnung als „unpolitisch“ eine höhere Weihe geben möchte. Anders als in der üblichen Parteipolitik gehört zum Begriff des Feindes die im „Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes“. Die Begriffe Freund, Feind und Kampf beziehen sich auf „die reale Möglichkeit der physischen Tötung“. Krieg ist damit die „äußerste Realisierung der Feindschaft“, Feindschaft wiederum die „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“.

Auch prinzipielle Strebungen gegen den Krieg oder die Ablehnung des Kriegs aus anderen Motiven als politischen, etwa moralischen, können sich zu politischen Konflikten entwickeln, wenn sie über die Bekämpfung des Gegners zur Feindschaft weitergehen:

Der Krieg spielt sich dann in der Form des jeweils „endgültig letzten Krieges der Menschheit” ab. Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist. (S. 24)

In Kapitel vier geht Schmitt genauer auf die Verbindungsmöglichkeiten und Verschmelzungen des Politischen mit anderen Kategorien ein. „Sind die wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Gegenkräfte so stark, dass sie die Entscheidung über den Ernstfall von sich aus bestimmen, so sind sie eben die neue Substanz der politischen Einheit geworden. Sind sie nicht stark genug, um einen gegen ihre Interessen und Prinzipien beschlossenen Krieg zu verhindern, so zeigt sich, dass sie den entscheidenden Punkt des Politischen nicht erreicht haben.“ Dies zeigt Schmitt an der Gewerkschaftsbewegung, an religiösen Bewegungen und am Klassenkampf auf. Den Primat des Politischen auch in Fragen, wo die Souveränität des Staates eingeschränkt scheinen mag, macht er am Beispiel des Kulturkampfes deutlich. Aus dem Verständnis des Politischen als Basis des Staates folgt für Schmitt die Unvereinbarkeit mit der Vorstellung einer politischen Assoziation oder einer pluralen Ordnung. Der Staat ist notwendig die Einheit einer Gemeinschaft. Kapitel fünf stellt das jus belli in den Mittelpunkt der Betrachtung des Staates (ius in bello: Kriegsvölkerrecht):

Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das jus belli, d. h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen. (S. 33)

Der Staat führt in seinem Innern eine vollständige Befriedung herbei, stellt „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ her. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass Rechtsnormen überhaupt gelten können. Daher müssen „innere Feinde“ ausgeschaltet werden. Kein ökonomisches Interesse und keine moralische oder kulturelle Norm kann das Töten anderer Menschen und den Einsatz des eigenen Lebens rechtfertigen. Die physische Vernichtung menschlichen Lebens lässt sich nur aus der „seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form“ rechtfertigen. Ein Volk und Staat, der nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu der Unterscheidung hat, wer sein Freund oder Feind ist, hört auf, politisch zu existieren. Ein Volk kann darauf auch nicht verzichten und sich mit der Welt verbrüdern:

Es wäre ferner ein Irrtum, zu glauben, ein einzelnes Volk könnte durch eine Freundschaftserklärung an alle Welt oder dadurch, dass es sich freiwillig entwaffnet, die Unterscheidung von Freund und Feind beseitigen. Auf diese Weise wird die Welt nicht entpolitisiert und nicht in einen Zustand reiner Moralität, reiner Rechtlichkeit oder reiner Wirtschaftlichkeit versetzt. Wenn ein Volk die Mühen und das Risiko der politischen Existenz fürchtet, so wird sich eben ein anderes Volk finden, das ihm diese Mühen abnimmt, indem es seinen „Schutz gegen äußere Feinde” und damit die politische Herrschaft übernimmt; der Schutzherr bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam. (S. 40)

In Kapitel sechs leitet Schmitt aus der Grundbegrifflichkeit die Unmöglichkeit eines Weltstaates und die Notwendigkeit einer Pluralität von Staaten ab. Er weist darauf hin, dass ein Staat oder Staatenbund sich nicht der Menschheit verpflichten könne, da Menschheit ein abstraktes Ideal sei, das die politische Realität nicht erreichen könne. Die Menschheit könne keinen Feind haben, da alle Menschen zu ihr gehörten, niemand könne ausgeschlossen werden. Kriege im Namen der Menschheit hätten die versteckte Absicht, dem Feind die Menschlichkeit abzusprechen. Dies führe zu den unmenschlichsten Kriegen überhaupt.

Schmitt geht von einem Menschenbild aus, das er bei Hobbes und Machiavelli als realistisch betätigt findet: Nur in einer Welt, in der Menschen zum Bösen fähig sind, ist Feindschaft und damit das Politische möglich und ein Staat nötig.

Nachwort von 1929

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In seinem Nachwort beschreibt Schmitt den Charakter seiner Abhandlung zum Begriff des Politischen. Sie solle ein unermessliches Problem, eine „res dura“ theoretisch „encadrieren“ Er sieht in den einzelnen Sätzen Ausgangspunkte einer sachlichen Erörterung, die wissenschaftlichen Besprechungen und Übungen dienen sollen. Er erwartet, dass „Richtungen und Gesichtspunkte“ „entscheidend hervortreten“. Er sieht seit dem Vorjahr eine „neue und lebhafte Erörterung des politischen Problems“.

Der Barcelona-Vortrag, 1929/1932

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Schmitt hielt seinen Vortrag Die europäische Kultur in Zwischenstadien der Neutralisierung auf der Sechsten Jahreskonferenz der Internationalen Gesellschaft für Kulturelle Zusammenarbeit vom 16. bis 20. Oktober 1929 in Barcelona.[17] Thema der Konferenz war Kultur als gesellschaftliches Problem. Sponsor war die spanische und katalanische Kulturunion in Barcelona.[18] Für den Vortrag als zweitem Teil der Begriffsschrift wählte Schmitt den neuen Titel Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen.

Im Mittelpunkt des Vortrags steht der Gedanke der Bewahrung des Wesens eines Volkes. Dazu müssen die jeweils religiösen, moralischen oder wirtschaftlichen Antagonismen in einen allgemeineren politischen Gegensatz verwandelt werden. Als Gegenpol „Mitteleuropas“ sieht Schmitt den Sozialismus und das Slawentum in Russland, den sein Gewährsmann Donoso Cortes schon im Jahre 1848 als das entscheidende Ereignis des 20. Jahrhunderts prophezeit habe.

Die Gegenwart von 1929 sieht er wie die Zeit nach 1815 von dem lähmenden und krampfhaften Gedanken einer außen- und innenpolitischen Legitimität des Status quo bestimmt, da große Kriege wie vor 1815 und 1918 die Völker für lange Zeit in eine restaurative Phase versetzen, hinter deren Fassade sich neue Entwicklungen vorbereiten, die schließlich durchbrächen.

Ist dann der Augenblick gekommen, so verschwindet der legitimistische Vordergrund wie ein leeres Phantom. (S. 67)

Das zeitgenössische kommunistisch regierte Russland wird als der Kulminationspunkt der bisherigen europäischen Geschichte gesehen: Es sei hier ein anti-religiöser technizistischer Staat entstanden, der die Staatlichkeit zum Höhepunkt getrieben habe. Im ersten Abschnitt skizziert Schmitt die geistesgeschichtliche Entwicklung der letzten vier Jahrhunderte: die Eliten und Clercs wie auch die Bevölkerung des 16. Jahrhunderts war in ihren Zentralgedanken von der Theologie geprägt, die des 17. von der Metaphysik, des 18. vom Humanitär-Moralischen, die Eliten des 19. vom Ökonomischen, das 20. von der Technik und Technikgläubigkeit. Dabei habe das "Faktum" gegolten,

[...] daß in diesen vier Jahrhunderten europäischer Geschichte die führenden Eliten wechselten, dass die Evidenz ihrer Überzeugungen und Argumente sich fortwährend änderte, ebenso wie der Inhalt ihrer geistigen Interessen, das Prinzip ihres Handelns, das Geheimnis ihrer politischen Erfolge und die Bereitwilligkeit großer Massen, sich von bestimmten Suggestionen beeindrucken zu lassen. (S. 67-68)

Das rationalistische 18. Jahrhundert vulgarisierte die Ideen des 17. Das 19. verband Romantik und Ökonomie, insofern die Ästhetisierung den Weg zur Ökonomisierung bereitete.

Denn der Weg vom Metaphysischen und Moralischen zum ökonomischen geht über das Ästhetische, und der Weg über den noch so sublimen ästhetischen Konsum und Genuss ist der sicherste und bequemste Weg zur allgemeinen Ökonomisierung des geistigen Lebens und zu einer Geistesverfassung, die in Produktion und Konsum die zentralen Kategorien menschlichen Daseins findet. (S. 70)

Im Verlauf der Geistesgeschichte wandelte sich die Bedeutung aller kulturellen Begriffe. Der Staat wie die Politik sind in jeder Epoche auch von den Zentralgedanken bestimmt. Nur der liberale Staat des 19. Jahrhunderts stellte sich paradoxerweise als neutralen und agnostischen Staat dar. Die Bereiche, die aus dem Fokus geraten, werden im Laufe der Entwicklung des Staates neutralisiert, minimalisiert und privatisiert. Der Prozess fortwährender Neutralisierung ist mit der Technik an seinem Ende angelangt. Trotz der Hoffnungen, die in ihre rein sachliche Orientierung gesteckt wurden, kann auch die Technisierung das Politische nicht endgültig neutralisieren.

Denn die Technik kann nichts tun, als den Frieden oder den Krieg steigern, sie ist zu beidem in gleicher Weise bereit, und der Name und die Beschwörung des Friedens ändert nichts daran. (S. 81)

Das erste Corollarium mit den Titel Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffes der innerpolitischen Neutralität des Staates entstand 1931. Das zweite Corollarium Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind entstand 1938, gedruckt wurde die Schrift 1940. Das dritte Corollarium Übersicht über nicht staatsbezogene Möglichkeiten und Elemente des Völkerrechts stammt aus der Monografie Der Nomos der Erde im Völkerrecht.

Das Corollarium 1 klärt den Begriff der Neutralität. Schmitt unterscheidet vier negative Bedeutungen im seiner Meinung nach unpolitischen liberalen Neutralitäts-Verständnis, das politische Entscheidungen scheinbar vermeidet: passive Toleranz, technisches Mittel, Chancengleichheit und Parität

und vier positive, die eine Entscheidung herbeiführen:

  • richterliche Neutralität („Neutralität im Sinne der Objektivität und Sachlichkeit auf der Grundlage einer anerkannten Norm“)
  • gutachterliche Neutralität („Neutralität auf der Grundlage einer nichtegoistisch-interessierten Sachkunde“)
  • innenpolitische Neutralität gegenüber Partikularinteressen (einer „die gegensätzlichen Gruppierungen umfassenden, daher alle diese Gegensätzlichkeiten in sich relativierenden Einheit und Ganzheit“)
  • außenpolitische Neutralität des Schutzherrn („des außenstehenden Fremden, der als Dritter von außen her nötigenfalls die Entscheidung und damit eine Einheit bewirkt“)

Das Corollarium 2 klärt in sechs Abschnitten die Begriffe Feind und Krieg. Durch den Ersten Weltkrieg ist erstmals eine totale Feindschaft entstanden, in der der Feind zum Verbrecher gemacht wurde. Das Genfer Völkerrechtssystem könne jeden beliebigen Gegner in ähnlicher Form kriminalisieren. Feind als Wort wird von Fehde abgeleitet, die neueren Begriffe werden als privatisierend und entpolitisierend kritisiert (Gegnerschaft). Der vierte und längste Abschnitt analysiert die moderne Gemengelage von Frieden und Krieg, in der beide Zustände nicht mehr getrennt werden können. Ursachen liegen für ihn in den Friedens„diktaten“, im Völkerbund und in der Ausdehnung des Krieges und der Feindschaft auf nichtmilitärische Bereiche (Wirtschaft, Medien). Der vorletzte Abschnitt ist diesem das Nichtmilitärische umfassenden totalen Krieg gewidmet.

Die Totalisierung besteht hier darin, dass auch außermilitärische Sachgebiete (Wirtschaft, Propaganda, psychische und moralische Energien der Nichtkombattanten) in die feindliche Auseinandersetzung einbezogen werden. Der Schritt über das rein Militärische hinaus bringt nicht nur eine quantitative Ausweitung, sondern auch eine qualitative Steigerung. Daher bedeutet er keine Milderung, sondern eine Intensivierung der Feindschaft." (...) „Mit der bloßen Möglichkeit einer solchen Steigerung der Intensität werden dann auch die Begriffe Freund und Feind von selbst wieder politisch und befreien sich auch dort, wo ihr politischer Charakter völlig verblasst war, aus der Sphäre privater und psychologischer Redensarten. (S. 92)[19]

Der letzte Abschnitt behandelt Neutralität im völkerrechtlichen Sinne: Sie kann als Gleichgewicht der Macht von Neutralen und Kriegführenden auftreten, als Neutralität der machtunterlegenen Seite, der machtüberlegenen Seite oder als „volle Beziehungslosigkeit“.

Das Corollarium 3 betrifft die Formen des Völkerrechts. Schmitt unterscheidet das ius inter gentes, darunter „zwischen-völkisches“, zwischen-städtisches, zwischen-staatliches Recht und das Recht „zwischen jeglichen Autoritäten und weltlichen Mächten“ sowie ein Recht „zwischen Großmächten mit einer über das Staatsgebiet hinausreichenden Raumhoheit“.

Reinhard Mehring sieht in Schmitts Begriffsschrift in ihren verschiedenen Fassungen ein grundlegendes Zentrum und eine Summe seines Werks.[20]

Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. (S. 14)[21]

Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erkannt wird. (S. 54)[21]

Eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes restlos beseitigt und verschwunden ist, ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik. (S. 32)[21]

  • Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. 1. Auflage, Berlin Duncker & Humblot, 1932.
  • Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien; 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin Duncker & Humblot 1991, 6. Auflage Berlin, 1996.

Einzelnachweise

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  1. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. In: Der Begriff des Politischen, Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte. Heft 10. Duncker und Humblot, München / Leipzig 1932 (archive.org [abgerufen am 3. April 2023] Wiederaufgelegt: Der Begriff des Politischen, Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1933; Eine weitere Neuauflage erschien 1938.).
  2. Herfried Münkler, Marcus Llanque: Politische Theorie und Ideengeschichte: Lehr- und Textbuch. Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2014, ISBN 978-3-05-007253-1 (google.com [abgerufen am 3. April 2023]).
  3. Rüdiger Voigt: Freund-Feind-Denken: Carl Schmitts Kategorie des Politischen. Steiner, 2011, ISBN 978-3-515-09877-9 (google.com [abgerufen am 3. April 2023]).
  4. Rüdiger Voigt: Denken in Widersprüchen: Carl Schmitt wider den Zeitgeist. Nomos Verlag, 2021, ISBN 978-3-7489-2303-9 (google.com [abgerufen am 3. April 2023]).
  5. Reinhard Mehring: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Ein kooperativer Kommentar. Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2014, ISBN 978-3-05-008035-2 (google.com [abgerufen am 3. April 2023]).
  6. Noack, Paul: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1996, S. 114.
  7. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), S. 1–33 (researchgate.net) Wieder abgedruckt in: Probleme der Demokratie, Politische Wissenschaft. Schriftenreihe der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und des Instituts für Auswärtige Politik in Hamburg, Heft 5, Berlin-Grunewald 1928, S. 1–34.
  8. Hartmuth Becker: Carl Schmitts Begriff des Politischen. Abgerufen am 6. April 2023.
  9. Hartmuth Becker: Carl Schmitts Begriff des Politischen. Abgerufen am 6. April 2023.
  10. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Duncker & Humblot, 1963, ISBN 3-428-01331-X (google.com [abgerufen am 3. April 2023]).
  11. Piet Tommissen: Contributions de Carl Schmitt a la polémologie. In: Revue euro-péenne des sciences sociales 16 (1978), Nr. 44: Miroir de Carl Schmitt, S. 141–170, hier S. 145, Anm. 13. Zitiert nach Hans-Christof Kraus: Freund und Feind im Zeitalter des Kalten Krieges - Zu den „Corollarien“ der Ausgabe von 1963. (Erstveröffentlichung 2003). In: Reinhard Mehring (ed.), Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Ein Kooperativer Kommentar. Akademie Verlag. pp. 170–187.
  12. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Duncker und Humblot, Berlin 1963, S. 91 ff.
  13. Hier und nachfolgend in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien; 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin Duncker & Humblot 1991, 6. Auflage Berlin, 1996.
  14. Hier in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. 1. Auflage, Berlin Duncker & Humblot, 1932.
  15. Hier in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien; 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin Duncker & Humblot 1991, 6. Auflage Berlin, 1996.
  16. Hier und nachstehend in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. 1. Auflage, Berlin Duncker & Humblot, 1932.
  17. Europäische Revue, 5. Band, 1929, S. 517–530
  18. Karl Anton Prinz Rohan: Kultur als gesellschaftliches Problem. In Europäische Revue, 6. Band, 1930, S. 51–62
  19. Hier in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien; 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin Duncker & Humblot 1991, 6. Auflage Berlin, 1996.
  20. Reinhard Mehring: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Ein kooperativer Kommentar. Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2014, ISBN 978-3-05-008035-2 (google.com [abgerufen am 6. April 2023]).
  21. a b c Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, München 1932 (archive.org [PDF; abgerufen am 11. September 2023]).