Die verlorene Geliebte

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Die verlorene Geliebte ist ein Episodenroman des deutsch-böhmischen Schriftstellers Johannes Urzidil, der vor allem die Heimatstadt Prag und die Erinnerung an sie zum Thema hat. Er entstand in den Jahren 1954/1955 im amerikanischen Exil und wurde 1956 veröffentlicht.

Johannes Urzidil emigrierte kurz nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei aus Prag über Italien nach England und 1941 in die USA. Nach seiner Naturalisierung als amerikanischer Staatsbürger im Jahr 1946 veröffentlichte er 1956 seine stark autobiographisch gefärbten Kindheits- und Jugenderinnerungen an die aus seiner Sicht für immer verlorene Heimatstadt Prag.[1]

Obwohl als Roman bezeichnet, kann das Werk bestenfalls als Episodenroman oder als eine Sammlung eng miteinander verknüpfter Erzählungen betrachtet werden. Das verbindende Element aller elf Episoden ist das autobiographische Element, auch wenn nicht in allen Geschichten ein Ich-Erzähler dem Leser berichtet. In der ersten Episode Spiele und Tränen, die aus der frühen Kindheit berichtet, wird der Erzähler schlicht als Der Knabe eingeführt. In den folgenden Geschichten wechselt der Verfasser schließlich zum literarischen „Ich“, wohingegen Urzidil in der letzten Episode Die Fremden den Erzähler wieder nur als „Den Fremden“ bezeichnet und damit erneut Distanz schafft. Die elf Erzählungen umfassen einen Zeitraum von etwa 1894 (in der ersten Episode ist der Knabe etwa acht Jahre alt) bis 1941 (die letzte Episode spielt im englischen Exil in Oakley) und zeichnen wesentliche Erlebnisse im Leben Urzidils nach.

Wie Otto F. Beer in dem kurzen Essay Abschied von Prag anmerkt[2], drehen sich Urzidils Erzählungen nicht allein um die Stadt Prag, die sowohl für den Verlust der Heimat als auch der Kindheit steht, sondern immer auch um Mädchen- und Frauengestalten, die der Erzähler ebenfalls verliert; sei es durch Unglück oder Tod wie in den Erzählungen Spiele und Tränen, Dienstmann Kubat, Grenzland oder Die Fremden; sei es durch eigenes Verschulden wie in Repetent Bäumel. Gleichwohl wird auch in der Rückschau aus dem Exil das Bild eines Prag gezeichnet, das sich schon nach dem Ersten Weltkrieg grundlegend geändert hat, mit der Besetzung durch Deutschland im Jahr 1939 und der Vertreibung der deutschsprachigen Prager nach 1945 aber endgültig untergeht. Mit humoristischen Anklängen wie in der Schulerzählung Repetent Bäumel; vor allem aber mit einer immer wieder sehr lyrischen Sprache, die an Urzidils Vorbild Adalbert Stifter erinnert, zeichnet Urzidil ein melancholisches, sehr wehmütiges, aber dennoch recht lebensnahes Bild des Lebens in einer Vielvölkerstadt. Der Titel Die verlorene Geliebte ist also durchaus mehrdeutig zu verstehen und bezieht sich sowohl auf das untergegangene Prag als auch auf die tatsächlichen, menschlichen Geliebten des Erzählers.

Obwohl Johannes Urzidil wie etwa Max Brod und Franz Werfel dem Prager Kreis um Franz Kafka angehörte, werden seine Werke heute deutlich weniger gelesen. Die verlorene Geliebte wurde anlässlich des hundertsten Geburtstages Urzidils im Jahre 1996 noch einmal aufgelegt. Einige seiner Werke dienen heute eher als Erinnerungsliteratur für Liebhaber der Zwischenkriegszeit. In Anthologien tauchen seine Geschichten und Gedichte nach wie vor häufig auf; eigenständige Neuauflagen seiner Werke werden aber immer seltener.

  • Die verlorene Geliebte. Erzählungen. Langen Müller, München 1956.
  • Die verlorene Geliebte. Ullstein, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-548-20190-3.
  • Die verlorene Geliebte. Ein Prag-Roman, Langen Müller, München 1996, ISBN 3-7844-2581-X.

Die verlorene Geliebte wurde in folgende Sprachen übersetzt:[3]

  • vollständig ins Französische:
  • Prague. La bien-aimée perdue. Übers. v. Jacques Legrand. Desjonquères. Paris 1990, ISBN 2-904227-42-3.
  • vollständig ins Italienische:
  • L’amata perduta. Übers. v. Renata Colorni, Vittoria Ruberl u. Sergio Solmi. Adelphi, Mailand 1982, ²1990, ³1994. (= Biblioteca Adelphi. 124.) ISBN 88-459-0516-0.
  • zum größten Teil ins Tschechische (beide Bücher enthalten daneben noch weitere Urzidil-Texte):
  • sieben Erzählungen (Spiele und Tränen, Stief und Halb, Neujahrsrummel, Dienstmann Kubat, Repetent Bäumel, Eine Schreckensnacht und Ein letzter Dienst) sind enthalten in:
  • Hry a slzy. Ausgewählt v. Kurt Krolop, übers. v. František Marek. Vorwort v. Jiři Veselý. Odeon, Prag 1985, ²1988. (= Světová četba. 539.)
  • zwei weitere Erzählungen (Grenzland und Wo das Tal endet) enthält:
  • Kde údolí končí. Übers. v. Anna Nováková u. Jindřich Buben. Argo, Prag 1996, ISBN 80-85794-63-2
ebenfalls zum größten Teil ins Englische (beide Bücher enthalten zudem noch andere Urzidil-Texte):
  • zwei Erzählungen (Grenzland und Wo das Tal endet) enthält:
  • The Last Bell. Übers. u. Einleitung v. David Burnett. London, Pushkin Press 2017, (= Pushkin Collection), ISBN 978-1-78227-239-7
  • sechs weitere Erzählungen (Flammende Ferien, Neujahrsrummel, Dienstmann Kubat, Eine Schreckensnacht, Ein letzter Dienst und Stief und Halb) sind enthalten in:
  • House of the Nine Devils. Selected Bohemian Tales. Übers. u. Nachwort v. David Burnett. Prague, Twisted Spoon Press 2022, ISBN 978-8-08626-460-8,
  • Hartmut Binder: Erweisliches und Erzähltes. Johannes Urzidils Repetent Bäumel. In: Johann Lachinger, Aldemar Schiffkorn u. Walter Zettl (Hg.): Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984. Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, Linz 1986, ISBN 3-900424-04-7. (= Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich. 36.) S. 65–90.
  • Filip Charvát: LIEBE oder Beile? Eine perspektivische Betrachtung zum ästhetischen Charakter von Johannes Urzidils Roman Die verlorene Geliebte. In: Steffen Höhne, Klaus Johann, Mirek Němec (Hg.): Johannes Urzidil (1896-1970). Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York. Böhlau, Köln, Weimar u. Wien 2013, ISBN 978-3-412-20917-9. (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. 4.) S. 476–487.
  • Giuseppe Farese: Johannes Urzidil – ein Schriftsteller der Erinnerung. Übers. v. Edith Zettl. In: Johann Lachinger, Aldemar Schiffkorn u. Walter Zettl (Hg.): Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984. Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, Linz 1986, ISBN 3-900424-04-7. (= Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich. 36.) S. 12–20.
  • Ingeborg Fiala: Die Prager Erzählungen im Spätwerk Johannes Urzidils. Die Heimatstadt als verlorene Geliebte. In: Hartmut Binder (Hg.): Franz Kafka und die Prager deutsche Literatur. Deutungen und Wirkungen. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1988, ISBN 3-88557-071-8. S. 143–150.
  • Ingeborg Fiala-Fürst: Urzidil wie Rothacker wie Watzlik? Johannes Urzidil als Grenzland-Dichter. In: Steffen Höhne, Klaus Johann, Mirek Němec (Hg.): Johannes Urzidil (1896-1970). Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York. Böhlau, Köln, Weimar u. Wien 2013, ISBN 978-3-412-20917-9. (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. 4.) S. 489–498.
  • Oskar Holl: Nachwort. In: Johannes Urzidil: Die verlorene Geliebte. Erzählungen. Langen Müller, München o. J. [1964.] O. S. [S. 361–373.]
  • Klaus Johann u. Vera Schneider (Hg.): HinterNational – Johannes Urzidil. Ein Lesebuch. Mit einer CD mit Tondokumenten. Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2010, ISBN 978-3-936168-55-6.[4] Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Die verlorene Geliebte S. 43, 55 f., 253 f. (Zitate aus Rezensionen) u. 317; enthält außerdem die Erzählung Ein letzter Dienst aus Die verlorene Geliebte.
  • Gerhard Trapp: Chronik und Menetekel. Zu Johannes Urzidils Erzählungen aus dem Böhmerwald. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich. 41. Jg. 1992. Nr. 1/2. S. 51–62.

Einzelnachweise

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  1. Johannes Urzidil, Die verlorene Geliebte, Langen Müller, München 1996, S. 347 ff.
  2. Otto F. Beer, Abschied von Prag, in: Johannes Urzidil, Die verlorene Geliebte, Langen Müller, München 1996, S. 343 ff.
  3. Die bibliographischen Angaben folgen: Klaus Johann: Bibliographie der selbständigen Veröffentlichungen Johannes Urzidils. Eigene Werke, Übersetzungen, Bearbeitung, Herausgeberschaft, Urzidil-Anthologien. In: Steffen Höhne, Klaus Johann, Mirek Němec (Hrsg.): Johannes Urzidil (1896-1970). Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York. Böhlau, Köln, Weimar u. Wien 2013, ISBN 978-3-412-20917-9. (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. 4.) S. 569–577. S. 572 u. 576.
  4. Johannes Urzidil (1896–1970) – ein „hinternationaler“ Autor aus Böhmen. In: zeilenweit.de. Klaus Johann, Vera Schneider, abgerufen am 28. März 2018 (Inhaltsverzeichnis, Register, Rezensionen und weitere Informationen zum Urzidil-Lesebuch).