Dietrich Wagner

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Demonstranten und Wasserwerfer 9000 im Mittleren Schlossgarten, 30. September 2010

Dietrich Wagner (* 19. März 1944;[1]28. Juni 2023 in Stuttgart[2]) war ein deutscher Ingenieur aus Stuttgart.[3][4] Er erlitt am 30. September 2010 schwere Augenverletzungen durch einen Wasserwerfer bei der gewaltsamen Räumung des Stuttgarter Schlossgartens für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 und den damit verbundenen Protestaktionen in Stuttgart.[5][6]

Der Polizeieinsatz führte zur weitgehenden Erblindung Wagners und gilt als Beispiel für rechtswidrige Polizeigewalt in Deutschland; in der Folge wurde der Stuttgarter Polizeipräsident wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt verurteilt. Das Land Baden-Württemberg einigte sich später in einem Vergleich mit Wagner auf Entschädigungszahlungen in Höhe von 120.000 Euro.

Räumung und Verletzungen bei Wagner

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wagner war nach eigenen Angaben zunächst nicht gegen das Großprojekt, wurde aber bei Gesprächen mit Projektgegnern davon überzeugt, dass es unsinnig sei. Er war davor mit Ausnahme seiner Studentenzeit in Tübingen kaum politisch aktiv.

Bei der Räumung des Schlossgartens zum Baumfällen wurde Wagner vom Strahl eines Wasserwerfers der Polizei im Gesicht getroffen.[7][8] Die Zeitschrift Stern schilderte Wagners Darstellung, dieser habe „versucht, Jugendlichen zu helfen, die vom Strahl des Wasserwerfers weggefegt worden waren. Deshalb habe er die Arme hochgerissen und den Polizisten gewunken, um ihnen zu bedeuten, sie sollten aufhören. Dann traf ihn selbst der Wasserstrahl direkt ins Gesicht.“[9][10] Die Stuttgarter Polizei warf Wagner eine Mitschuld vor, da er sich „nicht weggeduckt“ habe.[10] Nach den Angaben Wagners stand der Wasserwerfer etwa 13 m entfernt von ihm.[11] Polizeipräsident Siegfried Stumpf führt an: „Wir haben den Mann hinter den Barrikaden immer wieder beiseite genommen, doch er ist immer wieder zurückgelaufen. Er selbst hat sich direkt in den Strahl gestellt.“[12]

Ein von der Polizei am 30. September aufgenommenes und von Sat.1 am 6. Oktober 2010 ausgestrahltes Video zeigte, wie er einen nicht genau zu erkennenden Gegenstand wirft. Auch das Ziel ist nicht zu erkennen.[7] Wagner räumte daraufhin ein, „zwei oder drei Kastanien“ geworfen zu haben, und sprach von einem „symbolischen Akt“: „Da wurden hunderte von Kastanien geschmissen, aber ohne jeglichen Effekt, weil die Polizisten mit dicken Uniformen, Helmen und Visieren ausgerüstet waren.“[11] Wagner betonte, es sei in deutlichem zeitlichen Abstand zur Verletzung durch den Wasserwerfer geschehen. Er habe die Polizei also nicht provoziert.[13]

Der Chefarzt Egon Georg Weidle stellte im Katharinenhospital Stuttgart bei Wagner beidseitig schwere Prellungsverletzungen, zerrissene Augenlider, Augenbodenbruch, eine eingerissene Netzhaut und zerstörte Linsen fest.[14] Das linke Auge blieb völlig zerstört und nahm nur noch am linken Rand einen Lichtschein wahr. Die Sehkraft des anderen Auges betrug 8 % und reichte nicht mehr zum Lesen oder Autofahren.[15]

Im Katharinenhospital und in der Charlottenklinik für Augenheilkunde mussten 16 weitere Augenverletzte behandelt werden, darunter vier stationär.[16]

Politische und juristische Folgen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fotos, die Wagner zeigen, wie er blutend von zwei Mitdemonstranten gestützt wird, wurden in fast allen deutschen Medien veröffentlicht.[17] Bei den folgenden Demonstrationen erschienen zahlreiche Demonstranten mit blutroter Schminke unter den Augenlidern, um an Wagners Verletzungen zu erinnern.[18][19] Wagner wurde zu einem Symbol der Demonstrationen und der polizeilichen Gewalt in Stuttgart,[16] die Rheinische Post bezeichnete Wagner als „Symbolfigur von Stuttgart 21“,[20] und der Westdeutsche Rundfunk als „Symbol für Polizeigewalt“.[21] Die Süddeutsche Zeitung sieht in ihm das „Gesicht des Widerstands“.[22] Nach Jakob Augstein „dürfte [das Bild] großen Anteil daran gehabt haben, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Mappus sein Amt verlor.“[23] Im Juli 2011 gab Mappus auch den Landesvorsitz der CDU Baden-Württemberg auf.

Der damalige Innenminister von Baden-Württemberg, Heribert Rech (CDU), besuchte Wagner nach dem Vorfall im Krankenhaus. Eine Entschuldigung erhielt Wagner nicht. Stattdessen thematisierte die CDU-Bundestagsabgeordnete Karin Maag das Bild des Verletzten am 6. Oktober 2010 bei ihrer Rede im Deutschen Bundestag und bezeichnete die Abbildung als „manipulativ“; die polizeiliche Aufarbeitung der Geschehnisse müsse abgewartet werden.[24]

Tatsächlich prüfte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zunächst, ob es einen Anfangsverdacht gegen Wagner wegen Körperverletzung von Polizisten gebe.[25] Wagner kritisierte dies. Das Verfahren gegen ihn wurde später eingestellt. Außerdem ermittelte man gegen Wagner auch wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Sachbeschädigung“, da er neben Kastanien auch einen Stein gegen ein Polizeifahrzeug geworfen haben soll. Auch diese Ermittlungen wurden 2011 eingestellt.[26]

Wagner erstattete seinerseits Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen Innenminister Rech.[27] Am 28. Oktober 2010 reichten Wagner und drei weitere Verletzte vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart Klage gegen das Land Baden-Württemberg ein, weil die Verhältnismäßigkeit bei dem Polizeieinsatz nicht gewahrt wurde.[28][29][30] Im Verfahren gegen zwei Einsatzabschnittsleiter, die laut Anklage „sorgfaltswidrig den Einsatz von Wasserwerfern“ zugelassen haben sollen, war Wagner Nebenkläger.[31] Das Verwaltungsgericht Stuttgart urteilte im November 2015, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig war.[32][33] Siegfried Stumpf, bis 2011 Polizeipräsident am Polizeipräsidium Stuttgart, wurde im März 2015 wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt in vier Fällen zu 120 Tagessätzen à 130 Euro verurteilt, der ehemalige Polizeipräsident akzeptierte den Strafbefehl und gilt damit als vorbestraft.[34] Im Juli 2016 wurden vom Land Baden-Württemberg Entschädigungszahlungen[35] in Höhe von 120.000 Euro angeboten.[36] Wagner akzeptierte dies im Dezember 2016.[37]

Etwa ein Jahr nach dem Vorfall gab Wagner gegenüber Journalisten an, dass er den Vorfall vom 30. September 2010 als eines der schlimmsten Verbrechen ansehe, das der gesamtdeutsche Staat nach dem Zweiten Weltkrieg begangen habe. Die Sache sei langfristig und vorsätzlich geplant gewesen und er wisse aus verlässlicher Quelle, dass die „amerikanischen Besatzer“ im Großraum Stuttgart drei Tage vorher informiert wurden.[38]

Wagner engagierte sich weiter für den Widerstand gegen Stuttgart 21.[39][40] Außerdem engagierte er sich seit dem Vorfall gegen die Verwendung von Wasserwerfern durch die Polizei. 2014 besuchte er das Vereinigte Königreich und forderte von der damaligen Innenministerin Theresa May (Home Secretary), die Verwendung von Wasserwerfern nicht zu autorisieren.[41]

Dietrich Wagner wurde 2011 mit dem Georg-Elser-Preis ausgezeichnet.[42]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Traueranzeige Dietrich Wagner auf stuttgart-gedenkt.de. Abgerufen am 12. Juli 2023.
  2. Jürgen Bock: Protest gegen Stuttgart 21: Das Gesicht des Widerstands ist tot. In: Stuttgarter Zeitung. Abgerufen am 29. Juni 2023.
  3. Dietrich Wagner (66): „Ich wollte nur den Jugendlichen helfen“. In: Hamburger Abendblatt, 6. Oktober 2010
  4. Ein Video und viele neue Fragen. In: Spiegel Online, 7. Oktober 2010.
  5. Fast erblindeter Aktivist will Entschuldigung von Mappus. In: Spiegel Online, 28. Dezember 2010
  6. Wasserwerfer verletzte Dietrich Wagner schwer: Stuttgarter Demonstrant droht zu erblinden. (Memento vom 12. Oktober 2010 im Internet Archive) In: RP Online, 9. Oktober 2010.
  7. a b Ein Video und viele neue Fragen. In: Spiegel online, 7. Oktober 2010.
  8. Die zerrissenen Augenlider des Rentners Wagner. In: Stuttgarter Zeitung, 6. Oktober 2010.
  9. Der Mann mit den blutigen Augen. In: Stern, 6. Oktober 2010.
  10. a b Dietrich W. duckt sich nicht weg. In: Frankfurter Rundschau, 5. Oktober 2010.
  11. a b Ingrid Eißele, Anna Hunger: "Ich wollte einfach die Herren stoppen." In: Stern online, 7. Oktober 2010.
  12. Eine Verletzung, zwei Geschichten. In: Stuttgarter Nachrichten
  13. Rentner Wagner – ein Provokateur? In: Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2010.
  14. Stuttgarter Demonstrant droht zu erblinden. (Memento vom 12. Oktober 2010 im Internet Archive) In: Focus Online, 6. Oktober 2010.
  15. Verletzter Demonstrant bleibt auf einem Auge blind. In: Die Zeit, 14. Oktober 2010.
  16. a b Demonstrant bleibt auf einem Auge blind. In: Die Welt online, 13. Oktober 2010.
  17. Demonstranten drohen zu erblinden. In: Stuttgarter Zeitung, 6. Oktober 2010.
  18. Stuttgart 21: Blutiger Protest. (Memento vom 4. September 2011 im Internet Archive) In: RP online, 22. Oktober 2010.
  19. Martin Kaul: An der Realität erblindet. In: die tageszeitung, 6. Oktober 2010.
  20. Dietrich Wagner, Symbolfigur von Stuttgart 21. (Memento vom 1. Oktober 2011 im Internet Archive) Fotostrecke. In: Rheinische Post, abgerufen am 4. November 2011.
  21. Fernsehbeitrag des WDR (Memento vom 17. Januar 2012 im Internet Archive) über Wutbürger vom 29. September 2011.
  22. Politik: Gesicht des Widerstands. In: Süddeutsche Zeitung, 30. September 2011 (online (Memento vom 7. April 2014 im Internet Archive), abgerufen am 4. November 2011)
  23. Jakob Augstein: Im Zweifel links: Im Zweifel zuschlagen. In: Spiegel Online, 3. Juni 2013.
  24. Karin Maag: Rede im Deutschen Bundestag am 6. Oktober 2010 (online)
  25. Zweifel an Friedfertigkeit von Dietrich Wagner. In: Frankfurter Rundschau, 7. Oktober 2010.
  26. Rainer Wehaus: Polizei will Strafe nicht akzeptieren. In: Stuttgarter Nachrichten. 20. September 2012, abgerufen am 24. Juni 2015.
  27. Roland Muschel: Ein Foto, zwei Geschichten. In: Der Tagesspiegel, 8. Oktober 2010.
  28. Verletzte Demonstranten klagen gegen Polizeieinsatz. In: Die Welt, 28. Oktober 2010.
  29. Klage wegen Prügel-Einsatz eingereicht. In: Kölnische Rundschau, 28. Oktober 2010.
  30. Verletzte Stuttgart-21-Gegner klagen gegen Land. In: Westfälischer Anzeiger, 28. Oktober 2010
  31. Oliver im Masche, Christine Bilger: Polizisten weisen Vorwürfe zurück. In: Stuttgarter Zeitung, 24. Juni 2014, abgerufen am 24. Juni 2014.
  32. Gerichtsentscheid: Polizeigewalt gegen Stuttgart-21-Demonstranten war rechtswidrig. In: Spiegel online, 18. November 2015
  33. statt vieler: VG Stuttgart, Urteil vom 18. November 2015, Az. 5 K 1265/14, Link
  34. Ex-Polizeichef Stumpf akzeptiert Geldstrafe. In: stuttgarter-zeitung.de
  35. Polizeigewalt: Baden-Württemberg zahlt Stuttgart-21-Opfern Entschädigung. In: Spiegel Online. 25. Juli 2016, abgerufen am 9. Juni 2018.
  36. chz: Stuttgart-21-Demonstrant: Opfer Wagner soll 120.000 Euro Schmerzensgeld bekommen. In: Focus Online. 21. November 2016, abgerufen am 14. Oktober 2018.
  37. Verletzte Demonstranten nehmen Entschädigung des Landes an. In: zeit.de
  38. Roman Deininger: Ein Jahr "Schwarzer Donnerstag." In: Süddeutsche Zeitung. 30. September 2011, abgerufen am 26. Dezember 2012.
  39. Einsatz-Opfer Dietrich Wagner demonstriert weiter. In: swr.de, 29. September 2011
  40. Lars Sobiraj: Was wurde eigentlich aus Dietrich Wagner? In: tarnkappe.info, 9. April 2011
  41. People of Britain, beware of the water cannon': a warning from Dietrich Wagner, near-blinded in Stuttgart. In: The Telegraph, 21. Februar 2014, abgerufen am 22. März 2014.
  42. Jürgen Bock: Die Posse um den Georg-Elser-Preis. In: StN.de (Stuttgarter Nachrichten). 11. November 2011, abgerufen am 7. Juli 2023.