Diskussion:Dmitri Zakharine

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Letzter Kommentar: vor 15 Jahren von 91.23.201.34 in Abschnitt Hinweis
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-- 91.23.201.34 14:47, 22. Feb. 2009 (CET) Hab' auf der Seite von Dimitri Zakarin noch viele andere publikationen gefunden. Manche sind durchaus amuesant und hoch relevant: deutsch-russische Sauna-Begegnungen etc. In Leviathan und Merkur erschienen. Die Rezensentin Claudia Schmölders, Berlin, schreibt dazu auch: "Ein außerordentliches Werk hat Dimitri Zakharine vorgelegt: Um vergleichende Kulturforschung und sozialen Wandel über fast 400 Jahre geht es in der Habilitationsschrift des Konstanzer Slavisten, die jetzt als Buch von fast 700 eng bedruckten Seiten erschienen ist.Beantworten

Weder der ost- noch der westeuropäische Wandel der Umgangsformen wurde bisher einer derart skrupulösen Langzeitanalyse unterzogen, geschweige denn der westöstliche Transfer dabei. Inspiriert vom Konstanzer SFB "Norm und Symbol", hat der Autor zudem ein kompaktes systematisches Anliegen. Normen und Symbole bilden eben Schemata nicht nur der Erkenntnis, sondern auch der Handlungsanweisung, vergleichbar dem strukturellen Verhältnis von langue und langage.

So ist das Buch streng dezimal gegliedert wie eine grammatische Tiefenanalyse. Auf der empirischen Oberfläche drängen sich die historischen Gegenstände der Forschung, hier nun die Körper in Gesellschaft, sei es in Ruhe oder Bewegung, wie etwa beim Wandern, Reisen, Fechten, Duellieren, Reiten, Tanzen; oder beim Sitzen, Stehen, Knien und Laufen; oder beim Sprechen, Grüßen, Gestikulieren, Posieren. Dies alles in Kombination mit den dazugehörigen Werkzeugen, Räumen und Mentalitäten.

Unterhalb dieser Verhaltensebene, sie generierend und modellierend, stehen Habitusformate wie Rhetorik, Literatur, Kunst, Wirtschaft, Politik, Religion, Zeremonialkunde, Mnemnonik, Ethik. Und wiederum darunter, nun aber Erkenntnis generierend, stehen die drei von Zakharine in systematischen Anschlag gebrachten Kategorien der Wissenschaft: der proxemische, der kinetische und der verbale Zugang. So also lauten die Kapitel des Buches: "Raumordnung" (Körperpositionierung, Distanz), "Bewegungsordnung" (Gang, Gestik), und "Sprachordnung" (Konversation, Grußverhalten).

Diesem, weit mehr als nur körperkundlichen Regime, werden die Phänomene der historischen Realität unterworfen und in den Ost-West-Vergleich eingeschrieben. Überwältigend viele Fragen ergeben sich nun: "Wie sahen materielle und kulturelle Voraussetzungen für die Herausbildung kollektiver Lebensformen im Westen und im Osten Europas aus? Wie wurden die entsprechenden Bedingungen im Zuge ihrer Verinnerlichung in kollektive Wahrnehmungs- und Handlungsschemata transformiert? Wie realisierten sich diese Schemata vor dem Hintergrund des kulturellen Transfers, der sich zumeist in Richtung von Westen nach Osten vollzog? Wie konstituierte sich das situationsadäquate Verhalten im Fall der gegenseitigen Begegnungen? Wie wurde dabei Mehrdeutigkeit in Interaktionssituationen produziert und bewältigt?" (37).

Konsequent analysiert die Arbeit kulturell kodierte Interaktionssituationen, rekonstruiert aus Briefen, Memoiren, Werken der schönen Literatur, aber auch Akten, Chroniken und Protokolle, sowie Anstands- und Zeremonialbücher vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Es sind westeuropäische, aber auch russische Quellen, die freilich sehr viel spärlicher sind. Eine Einschränkung auf ein bestimmtes Corpus gibt es nicht; die Heuristik wird vielmehr der im Teil II. dargelegten Theorie entnommen, mithin keiner historischen, sondern einer systematischen Perspektive.

Fast ein eigenes Buch machen die Bildquellen aus, die mit ihren ausführlichen Legenden anschauliche Vignetten zur Körpergeschichte im Tanz, im Fechten, im Posieren usw. liefern. Zakharine hat sie übrigens auch eigens ins Netz gestellt. [1]

Zahllose Mikro- und Materialgeschichten werden auf diese Weise versammelt, und nicht zuletzt diese hochaufgelösten Details machen den Text zu einer fesselnden Lektüre. Eine kleine Geschichte der napoleonischen Hand im Rock; eine andere zur "Pose des Apollo"; wieder andere über die Bedeutung von Stand- und Spielbein und über den Winkelstand. Vergleichende Geschichten von Tisch und Stuhl, Säbel und Klinge, ganze Abhandlungen über den Körper beim Gruß, im Tanz und im Kampf. Als Exempel des sozialen Wandels gehören sie alle zur zentralen Narration über alteuropäische Distanz und Statik einerseits, neuzeitliche Nähe und Bewegtheit andererseits.

Viele rhetorische Fragenbündel und Zusammenfassungen sollen den Zugang erleichtern und müssen es auch. Denn Zakharine findet sich durchaus im Widerspruch zu gängigen Mustern der Forschung. Weder will er Kulturgeschichte als Steinbruch der systemischen Theorie benutzen, noch geht es um eine Fortschreibung klassischer Soziologie. Eigenwillig beschwört er vielmehr das Ethos eines von Panofsky inspirierten Ikonologen, der "hinter einzelnen Flecken alte Farbschichten, hinter den Farbschichten die Sinnzusammenhänge und hinter den Sinnzusammenhängen die theoretischen Konzepte des einstmaligen Schöpfers erkennen und entschlüsseln" will. (14)

Kaum möglich, auf einen Nenner zu bringen, was diese Forschung an Einzeleinsichten hergibt. Nicht alles aber ist neu. Auch Zakharine kann nur einmal mehr das Russland vor Peter I. eine verspätete Nation nennen, dafür aber an einem charakteristischen Beispiel Aufklärung für die westliche Gegenwart treiben. So etwa habe sich die westliche Kanalisierung der Gewalt durch das Duell in Russland nicht durchsetzen können; noch im 19. Jahrhundert gab es Faustkämpfe um die Fabriken in Moskau, an denen bis zu 4000 Arbeiter teilnahmen. (636) Lernen lässt sich daraus, dass der russische Hang zur physischen Kräftemessung nicht ohne weiteres schwinden will.

Dennoch, die Spannweite zwischen theoretischen und historischen Perspektiven ist ungewöhnlich und anregend, auch wenn der ehrgeizige Versuch, zuletzt auch noch eine linguistische Formel für das historische Geschehen zu finden, nicht völlig überzeugt. Die Idee einer "Analogie zwischen der Standardisierung der Gestensprache, der verbalen Sprache und der Geldsprache" (7) wird vom Reichtum der historischen Beobachtungen überrollt.

Dass wir niemals wissen, wie es wirklich war, ist ein Gemeinplatz; daran ändern auch schematische Projektionen nichts. Das Vergangene mit möglichst vielen "Sehepunkten" zu objektivieren, hat schon Chladenius im 18. Jahrhundert zur hermeneutischen Basisarbeit erklärt. Eine gewisse Tragik haftet unter diesen Umständen dem Titel des Buches an. Die Formel "Von Angesicht zu Angesicht" ist im Deutschen nicht nur biblisch konnotiert, sondern meint auch die Szene der physiognomisch-mimischen Wahrnehmung. Ein plausibler Ansatz, denn bekanntlich wurde Lavaters Physiognomik ja auch in Russland aufmerksam rezipiert, und die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist undenkbar ohne sie. Mit der Entscheidung jedoch, die "Kommunikation unter Anwesenden" (A. Kieserling) auf Raum- und Bewegungseinheiten zu beschränken, entzieht Zakharine dem sozialen Wandel gerade seine feinste Ausdrucksgestalt. Stattdessen liefert er eine kleine Geschichte des Geruchs, höchst instruktiv und amüsant. [2]

Dass ein Projekt wie dieses auf mannigfache Vorarbeiten zurückgreifen muss, versteht sich von selbst. Nicht immer wird Zakharine ihnen gerecht, etwa wenn er die Arbeit von Catriona Kelly nur beiläufig würdigt. [3] Die Enthaltsamkeit hat aber womöglich Gründe. Arbeiten wie die von Norbert Elias, Edward T. Hall, Jean-Claude Schmitt, oder Foucault - um nur einige zu nennen -, haben ihre Perspektiven aus dem Material gewonnen oder zumindest aus der dialektischen Arbeit zwischen Quelle und Norm. Eine strukturalistische Semiotik westlicher Provenienz auf die historische Osteuropa-Forschung (72) anzuwenden, wie bei der vorliegenden Studie, bedeutet aber die umgekehrte Perspektive.

Das hat nichts mit der Forschung des russischen Philosophen Florenskij zu tun, wohl aber mit den Gefahren der Sonderforschungsbereiche. So nützlich sie sind, so maßlos schrauben sie unter Umständen auch die multifokalen Ansprüche an den Einzeldenker hinauf, einfach schon durch die Vielzahl der kooperativ festgeschriebenen Perspektiven. Vor diesem Hintergrund hat Zakharine eine staunenswerte, ja virtuose Leistung erbracht." Diese Rezension erscheint mit erweiterter Funktionalität auch in sehepunkte.[1]Urteil: nicht loeschen, sondern erweitern -- 91.23.201.34 14:47, 22. Feb. 2009 (CET)Beantworten

  1. Claudia Schmölders: Rezension von: Dmitri Zakharine: Von Angesicht zu Angesicht. Der Wandel direkter Kommunikation in der ost- und westeuropäischen Neuzeit, Konstanz: UVK 2005, in Kunstform 7 (2006), Nr.12, URL: <http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2006_12&review_id=9415>