Diskussion:Schicksalsdrama

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Hierher kopiert von Benutzer_Diskussion:Summ, -Zyril 22:17, 29. Jun 2006 (CEST)

Hallo Summ, ich bin vorhin eben auf deinen Edit in Schicksalsdrama aufmerksam geworden und frag' mich jetzt, warum du die Passage zur antiken Schicksalstragödie restlos mit Angaben zum Schicksalsdrama des 19. Jahrhunderts überschrieben hast. Ich hab' die ursprüngliche Passage jedenfalls erst mal wieder eingefügt und die von dir ergänzten Informationen ans Ende des Artikels verschoben (also in den Abschnitt, in dem auch die anderen Infos zum romantischen Schicksalsdrama stehen).

Außerdem wäre ich dir für eine Quellenangabe / einen Beleg für deine Ergänzung dankbar, ich konnte sie an Hand meiner Nachschlagewerke zu Hause nicht zur Gänze überprüfen (v.a. die terminologische Verschiebung von Schicksalsdrama/Schicksalstragödie zu Melodram ist mir ein wenig suspekt, es wäre schön, wenn du mir das genauer erläutern könntest). Liebe Grüße, Zyril 21:29, 26. Jun 2006 (CEST)

Hallo Zyril. Gerne gebe ich dir die gewünschten Auskünfte. Man muss sich vor zwei national(sozial)istischen Traditionen in Acht nehmen, die manchmal immer noch im Raum stehen, deshalb hab ich deinen Artikel geändert.
Die erste "Tradition": "Deutsche" Kulturerscheinungen des 18./19. Jahrhunderts wurden oft nur deshalb isoliert betrachtet, weil sie im internationalen Zusammenhang zum unbedeutenden Lokalphänomen schrumpfen. So ist es auch mit dem "Schicksalsdrama" im Meer der populären französischen und englischen Melodramen. – Die zweite "Tradition": Die Rivalität zwischen Adel und Bürgertum im 19. Jahrhundert war für die deutsche Geisteswissenschaft weitgehend tabu. Das führte zu zahlreichen Geschichtsverfälschungen.
Was hat das mit dem Melodrama zu tun?
Unter Tragödie verstand die breite Öffentlichkeit bis 1800 noch nicht direkt die antike Tragödie, sondern stets noch die "klassizistische" französische in der Tradition von Corneille und Racine oder die italienische Opera seria. Dagegen anzukämpfen, war der Sinn der "deutschen Klassik", aber das setzte sich erst allmählich durch. In diesen französischen und italienischen Versionen der Tragödie kamen lediglich adelige Figuren vor. Bürgerliche Figuren gab es in der Komödie oder Opera buffa. Sie waren des Tragischen nicht würdig. Die Nichtadligen waren auf der Bühne grundsätzlich lächerlich. Das war ein Ärgernis für bürgerliche Theatergänger. Im 18. Jahrhundert bemühten sich viele Autoren mit unterschiedlichem Erfolg um ernstzunehmende bürgerliche Figuren auf der Bühne. Die Französische Revolution bringt das Melodrama und wirft das adlige Privileg auf Tragik damit grundsätzlich über den Haufen.
Das ist der erste wichtige Punkt. Der zweite ist folgender: Im Mittelalter gab es keine antiken Tragödien. Sie wurden gering geschätzt, weil die Götter darin gnadenlos sind. Der christliche Gott ist gnädig, so wie es von jeder Autorität in der christlichen Welt gefordert war. Kein Schicksal, sondern der freie Wille gnädiger Autoritäten bestimmte den Lauf der Welt. Christus in der Passionsgeschichte opfert sich freiwillig, nicht weil es sein Schicksal wäre.
Neben der Emanzipation von der aristokratischen Tragödie spielt die Emanzipation der Gnadenlosigkeit von der Gnade für die Entstehung des Melodramas eine Rolle. Der gnädige Herr oder die gnädige Frau werden in vielen Melodramen zum gnadenlosen Monster, etwa Graf Dracula oder Grillparzers Ahnfrau. Die Attraktivität der Gnadenlosigkeit hat mit der Vorstellung des Naturgesetzes im 19. Jahrhundert zu tun: Von der Gnade ist man abhängig, aber das gnadenlose Naturgesetz ist berechenbar, wie es der technische Fortschritt beweist.

Literatur (Klassiker):

  • Jean-Marie Thomasseau, Le mélodrame sur les scènes parisiennes de Coelina (1800) à L'Auberge des Adrets (1823), Lille 1974.
  • Peter Brooks, The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James and the Mode of Excess, London 1976.
  • Paul J. Marcoux, Guilbert de Pixérécourt. French Melodrama in the Early Nineteenth Century, New York 1992.
  • Johann Hüttner, "Sensationsstücke und Alt-Wiener Volkstheater. Zum Melodrama in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: Maske und Kothurn 21:1975, S. 263-281

--Summ 01:06, 27. Jun 2006 (CEST)

Erst einmal danke für deine ausführliche Antwort, offensichtlich hast du über die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge einen insgesamt besseren Überblick als ich...
Auch mir liegt jedenfalls nichts ferner, als den Begriff Schicksalsdrama bzw. Schicksalstragödie einzig und allein auf die deutschsprachige Literaturgeschichte zu beziehen und Phänomene anderer Sprach- oder Kulturräume auszublenden - in dieser Hinsicht hab' ich mich auch überhaupt nicht an deiner Ergänzung an sich gestoßen, sondern eben daran, dass mit deinem Edit gleichzeitig eine offenbar zumindest gängige Auslegung bzw. Definition des Begriffs Schicksalstragödie abhanden gekommen ist. Hier noch kurz wörtlich die Passagen, auf die ich mich diesbezüglich beim Schreiben des Artikels gestützt hab':
Schicksalstragödie, im weiteren Sinne jede Tragödie, in der die Handlung durch den Konflikt der Persönlichkeit mit e. von außen hereinbrechenden Schicksal bestimmt wird und e. unabwehrbare Schicksalhaftigkeit das individuelle Wollen erdrückt. Schon die antike Tragödie verehrt im Zusammenhang mit dem Mythos das Schicksal als religiöse Macht (Sophokles, Oidipus); [...] Erst in der Romantik entsteht die Vorstellung von e. dämonischen, unheimlichen Schicksal und die fatalistische Auffassung der Geschehnisse als Erbfluch o.ä. [...]. (Gero von Wilpert: Schicksalstragödie. In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 6., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner 1979 (=KTA 231). S. 728-729.)
Schicksalsdrama, auch: Schicksalstragödie, romant. Dramentyp, in dem "das Schicksal als eine personifizierte Macht, die Ereignisse vorausbestimmend und tätig bewirkend, gedacht ist" (Minor). [...] Das romant. Sch. steht in einem Entwicklungszusammenhang mit dem Aufklärungsdrama, soweit es etwa im bürgerl. Trauerspiel Fatum durch Fatalität, den trag. durch den rührenden Helden ersetzte. Darum werden im weiteren Sinne auch bürgerl. Rühr- und Trauerspiele [...], aber auch Dramen mit determinst. Weltsicht [...] oder einem von höheren Mächten verhängten Geschick (Sophokles, Calderón, F. Schiller, "Die Braut von Messina") und Charaktertragödien [...] als Sch.en bez. (Herta-Elisabeth Renk: Schicksalsdrama. In: Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 1990. S. 413.)
Der Bezug auf das Drama der griechischen Antike scheint also durchaus im weiteren Sinne geläufig zu sein - und auch wenn sich über die Berechtigung solcher Deutungen historisch betrachtet streiten lässt (die Bezeichnung Schicksalsdrama selbst lässt sich offenbar auf Gervinus zurückführen), so denke ich doch, dass der Begriff mit dieser Bedeutung in der Wikipedia durchaus seinen Platz verdient haben dürfte - vielleicht aber besser als eigenständiger Artikel um die Unterschiede besser herauszustellen..?
Und ja, was das Melodrama betrifft: da hab' ich wohl etwas dazu gelernt... --Zyril 20:20, 29. Jun 2006 (CEST)

Klar, du machst es, wie du es richtig findest. - Wie ich mir gedacht habe, ist die angegebene Literatur so ziemlich deutschlastig und bezieht sich vor allem deshalb auf die antike Tragödie, um die damalige Herrschaft der französischen und italienischen aristokratischen Tragödien auszublenden. Vielleicht nicht mal mit böser Absicht. Aber das ist eben so eine nationalistische Tradition, die die Nachkriegsgeneration noch unreflektiert mitgemacht hat. - Tragisch im antiken Sinn ist es, dass der Wille der Götter nicht geschieht, gleich aus welcher Absicht. Tragisch im barocken Sinn ist dagegen, dass sich die Neigung der Pflicht opfern muss. Das ist nicht dasselbe. Und beim Rührstück ist das Publikum dann plötzlich auf der falschen Seite, nämlich auf der Seite der Neigung statt der Pflicht. Dann bekommt die Pflicht etwas Ungerechtes, Dämonisches. Man will ihr nicht mehr gehorchen. Im Melodram ist das Schicksal, eine Stufe weiter, dann bloß noch ein blindes Walten, das man bedenkenlos bekämpfen kann. --Summ 21:28, 29. Jun 2006 (CEST)

Der weitere Verlauf der Diskussion ist hier nachzulesen, Teile der Diskussion wurden später leider überschrieben. --Zyril 00:49, 11. Aug 2006 (CEST)

E.R. Dodds ("On Misunderstanding the Oedipus Rex") zählte die Interpretation griechischer Dramen als "Schicksalsdramen" vor einigen Jahrzehnten zu den "drei großen Häresien" der Sophoklesinterpretation (die anderen beiden sind auch nicht besser, Strandgut aus dem 19. Jahrhundert). Dixit. Seither, aber nicht nur durch Dodds veranlast, wird von dem Begrif des "Schicksalsdramas" in der Altphilologie kein Gebrauch mehr gemacht, auch nicht in einem weiteren Sinn. --Peter Hammer 02:10, 22. Aug 2006 (CEST)