Diversorum patrum sententiae
Die Diversorum patrum sententiae (auch Sammlung in 74 Titeln oder 74-Titel-Sammlung) sind eine kleine Kanones-Sammlung, die in der zweiten Hälfte des elften Jahrhundert wahrscheinlich im heutigen Nordostfrankreich, Westdeutschland oder Benelux-Raum entstand und zahlreiche Kanones zugunsten des Papsttums und monastischer Gemeinschaften enthält.
Quellen, Fassungen, Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die allermeisten Kanones stammen letztlich aus den Pseudoisidorischen Fälschungen; dazu kommen echte und gefälschte Briefe Gregors des Großen und eine Reihe anderer Rechtsquellen. Die unmittelbaren Vorlagen, mit denen der Kompilator der Sententiae gearbeitet hat, umfasste einige seltene Werke, insbesondere eine bestimmte Sammlung der Briefe Gregors (Fowler-Magerl). Der Kompilator hat gelegentlich in den Wortlaut der Kanones eingegriffen, insbesondere, um die rechtliche Stellung von monastischen Gemeinschaften gegenüber dem Ortsbischof und dem Weltklerus zu stärken.
Die Forschung unterscheidet drei Fassungen der Sammlung: Eine Fassung, die in Handschriften aus Lothringen und seiner Umgebung stammt, eine in Süditalien verbreitete Fassung, und eine um einen Anhang erweiterte sogenannte schwäbische Rezension. Letztere Fassung wurde von Bernold von Konstanz erarbeitet.
Die Sammlung ist in 74 Titel gegliedert, die mehrere Kanones zu jeweils einem Thema umfassen und vor allem am Anfang inhaltlich aufeinander aufbauen; gegen Ende geht die systematische Ordnung aber deutlich verloren. Insgesamt enthält die Sammlung 315 Kanones. Eingangs wird die Autorität der römischen Kirche stark betont; es folgen Titel zur Geltungkraft päpstlicher Privilegien, vor allem solche zugunsten monastischer Gemeinschaften, und Fälschungen auf den Namen Gregors des Großen, die Klöstern sehr weitgehende Freiheiten zusprechen. Ein weiteres prominentes Thema ist die Simonie.
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die kleine Sammlung wurde vor allem in den Jahrzehnten um 1100 in ganz Westeuropa verbreitet und häufig auch zur Erstellung neuer Sammlungen verwendet (oft in Kombination mit dem Liber decretorum des Burchard von Worms). Die meisten erhaltenen Handschriften stammen aus Klosterbibliotheken; auffällig ist, dass die 74-Titel-Sammlung mehrmals mit Chartularen kombiniert wurde. Bernold von Konstanz berichtet, dass Gregor VII. Legaten mit dieser Sammlung ausgestattet habe. Auch in den Streitschriften der Zeit wurde die Sammlung mehrfach zitiert.
Forschungsgeschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die ältere Forschung (ca. 1890 bis 1960) hatte Diversorum patrum sententiae aufgrund der enthaltenen Pseudoisidor-Stücke, der Verbindung zu Gregor VII., der prominenten Rolle der Rechte der römischen Kirche und der anti-simonistischen Kanones als „Reformsammlung“ interpretiert und die inhaltliche Nähe zum Reformpapsttum betont (Fournier, Haller, Michel). Daher auch wurde mehrfach Humbert von Silva Candida als Autor vermutet oder jedenfalls eine Entstehung im Umkreis der Reformpäpste (vor allem Leos IX.). Seit den 1970er Jahren wurden diese Deutungen als unsicher erkannt und neu diskutiert.[1][2][3] Eine Entstehung in Italien wurde oft vermutet, bis Linda Fowler-Magerl nachweisen konnte, dass die unmittelbar verwendeten Vorlagen der Sammlung in Nordfrankreich und Rheinland zirkulierten, aber nicht in Italien. Im gleichen Raum sind auch die wichtigsten Belege für die frühe Rezeption zu finden (Gilchrist, Fowler-Magerl, Rolker, Kéry). Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich Fowler-Magerls Deutung durchgesetzt, dass die Sammlung aus Nordwesteuropa stammt und vor allem als ein monastisches Werk zu verstehen ist.
Edition
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- John T. Gilchrist (Hrsg.): Diuersorum patrum sententie siue Collectio in LXXIV titulos digesta (= Monumenta Iuris Canonici: Corpus collectionum. Band 1). Biblioteca Apostolica Vaticana, Città del Vaticano 1973.
Übersetzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- John T. Gilchrist: The Collection in Seventy-Four Titles: A Canon Law Manual of the Gregorian Reform (= Mediaeval Sources in Translation). Pontifical Institute of Mediaeval Studies, Toronto 1980, ISBN 0-88844-271-8 (archive.org [abgerufen am 12. Mai 2022]).
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Linda Fowler-Magerl: Clavis Canonum: Selected Canon Law Collections Before 1140: Access with Data Processing (= MGH. Hilfsmittel. Band 21). Hahn, Hannover 2005, ISBN 3-7752-1128-4, S. 110–119.
- Linda Fowler-Magerl: Fine Distinctions and the Transmission of Texts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung. Band 83, 1997, S. 146–186 (uni-goettingen.de [abgerufen am 12. Mai 2022]).
- John T. Gilchrist: Prolegomena. In: idem (Hrsg.): Diuersorum patrum sententie siue Collectio in LXXIV titulos digesta (= Monumenta Iuris Canonici: Corpus collectionum. Band 1). Biblioteca Apostolica Vaticana, Città del Vaticano 1973, S. xvii–cxxv.
- Lotte Kéry: Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400–1140): A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature (= History of Medieval Canon Law). Catholic University of America Press, Washington, D.C. 1999, ISBN 0-8132-0918-8, S. 204–210 (google.de [abgerufen am 30. Mai 2022]).
- Lotte Kéry: Kanonessammlungen aus dem lotharingischen Raum. In: Klaus Herbers, Harald Müller (Hrsg.): Lotharingien und das Papsttum im Früh- und Hochmittelalter. Wechselwirkungen im Grenzraum zwischen Germania und Gallia. de Gruyter, Berlin und Boston 2017, ISBN 978-3-11-055253-9, S. 189–212, doi:10.1515/9783110552539-011 (degruyter.com [abgerufen am 12. Mai 2022]).
- Christof Rolker: Monastic Canon Law in the Tenth, Eleventh, and Twelfth Centuries. In: Alison I. Beach, Isabelle Cochelin (Hrsg.): The Cambridge History of Medieval Monasticism in the Latin West, Volume 1: Origins to the Eleventh Century. Cambridge University Press, Cambridge 2020, ISBN 978-1-108-77063-7, S. 618–630, doi:10.1017/9781107323742 (cambridge.org [abgerufen am 12. Mai 2022]).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Die Datenbank Clavis canonum erschließt den Inhalt der Sammlung nach Incipit, Explicit, Rubrik, Inskription und anderen Kriterien: https://beta.mgh.de/databases/clavis/db/
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ John T. Gilchrist: Prolegomena. In: idem (Hrsg.): Diuersorum patrum sententie siue Collectio in LXXIV titulos digesta (= Monumenta Iuris Canonici: Corpus collectionum. Band 1). Biblioteca Apostolica Vaticana, Città del Vaticano 1973, S. xvii–cxxv.
- ↑ Horst Fuhrmann: Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft. In: Josef Fleckenstein (Hrsg.): Investiturstreit und Reichsverfassung (= Vorträge und Forschungen. Band 17). Thorbecke, Sigmaringen 1973, S. 175–203 (uni-heidelberg.de [abgerufen am 12. Mai 2022]).
- ↑ John T. Gilchrist: Introduction. In: The Collection in Seventy-Four Titles: A Canon Law Manual of the Gregorian Reform. Pontifical Institute of Mediaeval Studies, Toronto 1980, ISBN 0-88844-271-8, S. 1–48 (archive.org [abgerufen am 12. Mai 2022]).