Verführung

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Die Verführung Evas von John Roddam Spencer Stanhope (1877, Tempera auf Holztafel), Sinnbild für die Verführbarkeit des Menschen.

Unter dem Begriff verführen (von mittelhochdeutsch vervüeren „wegführen“, „irreführen“, wiederum von althochdeutsch firfuoren „wegfahren“),[1] nominalisiert Verführung (auch Verleitung, Verlockung oder Seduktion) versteht man die geschickte Manipulation anderer, sei es offen oder hinterlistig, mit dem Ziel, diese dazu zu bringen, Gedanken, Wünsche und Handlungen zu vollziehen, die dem Verführer zugutekommen, jedoch im Widerspruch zu den Gewissensüberzeugungen des Verführten stehen und letztendlich sowohl diesem selbst als auch der Gemeinschaft Schaden zufügen können. Im engeren Sinne versteht man darunter die Verleitung zu sexuellen Handlungen. Im Gegensatz zur Vergewaltigung stellt die Verführung dabei eine freiwillige Handlung des Geschädigten dar. Das Hauptziel des Verführers besteht darin, andere zu eigenen Zwecken zu instrumentalisieren oder in die eigenen verwerflichen Absichten zu verwickeln. Doch oft geht die Verführung darüber hinaus, indem sie die Identität des Verführten verletzt oder sogar zerstört und diesen nicht nur moralisch abweichen lässt, sondern auch von seinen eigenen Lebenszielen abbringt. Dabei kann Verführung sowohl individuell als auch kollektiv auftreten, sei es durch politische oder religiöse Demagogie, Medienmanipulation oder Werbung. Die Folgen von Verführung auf der individuellen Ebene können unter anderem Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalttaten oder sexueller Missbrauch Minderjähriger sein.[2]

Als archetypische Verführung wird häufig die biblischen Erzählung vom Sündenfall Adams und Evas (Gen. 3,1–6 EU) betrachtet, welche die weitreichenden Konsequenzen einer einzigen verlockenden Handlung aufzeigt. Ein weiteres prägnantes Beispiel ist der Rattenfänger von Hameln, der in Literatur, Werbung und Karikatur zum Sinnbild politischer und ökonomischer Verführung wurde.

Verführung im engeren Sinne, nämlich die sexuelle, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Normen, Triebbefriedigung und Restriktion. Sie berührt somit ein zentrales Element der menschlichen Existenz. In Literatur und Volkserzählungen wird Verführung folglich häufig auf das Gebiet der Erotik konzentriert, da sie hier besonders eindrucksvoll das Zusammenspiel von Verlangen und Moral, Freiheit und Kontrolle darstellt.[3]

Besondere Bedeutung erlangte der Begriff der Verführung im deutschen Recht. Bis 1994 war im deutschen Strafgesetzbuch der § 182 StGB, der heute geschlechtsneutral formuliert ist und als „Sexueller Missbrauch von Jugendlichen“ bezeichnet wird, unter dem Titel „Verführung“ bekannt. Diese Regelung ermöglichte es, bei Stellung des gesetzlich vorgesehenen Strafantrages eines Erziehungsberechtigten, die Verführung eines Mädchens im Alter von 14 bis 16 Jahren durch einen Mann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe durch zu bestrafen. War der Mann jedoch noch nicht 21 Jahre alt, konnte das Gericht von einer Strafe absehen. Eine besondere Situation ergab sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Nach dem Einigungsvertrag galt die Regelung des § 149 StGB-DDR anstelle des nicht übernommenen § 182 StGB (Verführung) weiterhin für das Gebiet der ehemaligen DDR. Diese Regelung blieb bis zum 11. Juni 1994 in Kraft, als der durch das 29. Strafrechtsänderungsgesetz umgestaltete § 182 StGB in Kraft trat und § 149 StGB-DDR damit entfiel.[4]

  1. Artikel Verführen. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 32, Deutsches Wörterbuch, Mannheim 1981, S. 2745.
  2. Stephan Ernst: Verführung. In: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK). 3. Aufl., Bd. 10, Freiburg u. a. 2001, 649 f. (Digitalisat)
  3. Rainer Wehse: Verführung. In: Enzyklopädie des Märchens (EM), Bd. 13, Berlin u. a. 2010, Sp. 1432 ff.; auch William T. Little: Seduction. In: Dictionary of literary themes and motifs, New York u. a. 1988, Sp. 1158–71.
  4. Tatjana Hörnle: § 182 Sexueller Missbrauch von Jugendlichen. In: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar (LK), Großkommentar, 12. Aufl., Bd. 6 §§ 146–210, hrsg. v. Heinrich Wilhelm Laufhütte, Berlin 2009.