Enchroma-Brille

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Konzept einer farbmodifizierenden Brille
Schema eines Farbfilters

Als Enchroma-Brille werden Brillen mit farbmodifizierenden Linsen bezeichnet, die Farbsehschwächen kompensieren sollen.

Wissenschaftliche Studien ergaben, dass Brillen dieser Art zwar die Wahrnehmung der Farben verändern, die Träger trotz Farbschwäche bereits sehen konnten, aber keine normale Sicht oder fehlende Farben wiederherstellen können.[1][2][3][4][5]

Die Brille wurde 2002 von Donald McPherson bei der Entwicklung von chirurgischen Linsen erfunden und 2012 vom Unternehmen EnChroma auf den Markt gebracht.[6] Eine Marketingkampagne im Jahr 2015 zeigte Reaktionen von Erstbenutzern, was zu zahlreichen Nutzer-Uploads von Videos und zwei Marketingpreisen führte.[7]

Beworbene Funktionsweise

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Menschen können Farben dadurch unterscheiden, dass ihre Augen Farbzapfen für (meist) drei verschiedene Wellenlängenbereiche des sichtbaren Lichtspektrums haben, nämlich vor allem für blaues, grünes und rotes Licht. Diese drei Bereiche der Farbempfindlichkeit überlappen sich, aber erst durch das Verhältnis der wahrgenommenen Anteile entsteht ein Farbeindruck. Die individuelle Fähigkeit, Farben zu unterscheiden, variiert und hängt maßgeblich davon ab, wie unterschiedlich diese Empfindlichkeitsbereiche sind. Bei Personen mit Farbsehschwäche überlappen sich diese Bereiche so stark, dass verschiedene Farbtöne, die große Anteile im Überlappungsbereich haben, kaum oder gar nicht mehr unterschieden werden können.

EnChroma-Linsen sind für Personen mit Deuteranomalie oder Protanomalie konzipiert, häufigen Formen der Rot-Grün-Farbenblindheit. Diese Zustände beinhalten Verschiebungen in der spektralen Empfindlichkeit der Zapfenopsine, was zu überlappenden Empfindlichkeiten und reduzierter Farbdifferenzierung führt. Die Linsen sind nicht für dichromatische (Protanopie oder Deuteranopie) oder Tritan-Nutzer gedacht.[8] EnChroma-Linsen verwenden einen optischen Notch-Filter, um selektiv Wellenlängen zu filtern, bei denen sich die Empfindlichkeiten der M- und L-Opsine überlappen. Dieser Filter entfernt also Licht, das beide Opsine anregt.[9][10]

Das Bild werde dadurch dunkler, aber die Farbunterscheidung in dem geschwächten Bereich würde verbessert. Eine solche Brille müsse daher der individuellen Farbsehschwäche angepasst sein, und sie helfe auch nur den Personen, bei denen die betroffenen Farb-Empfindlichkeitsbereiche noch eine gewisse Unterschiedlichkeit besitzen.[11]

Studien und Kritik

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Die erste Studie, die größere Skepsis gegenüber der EnChroma-Brillen auslöste, wurde 2018 veröffentlicht.[4][12][13] In dieser wurde bei keiner der 48 farbenblinden Probanden eine signifikante Verbesserung der Leistung bei Farbsehtests festgestellt und nur ein Teilnehmer gab an, einen Unterschied in den Farben der Testumgebung zu bemerken. Die Studie zeigte auch, dass sich die Fehler, die beim Farbbenennungstest gemacht wurden, mit aufgesetzten Linsen änderten, was darauf hindeutet, dass es für einige Probanden zwar möglich ist, einige Farben mit aufgesetzten Brillengläsern besser zu unterscheiden, dies aber auf Kosten der Verwirrung anderer geht.[1]

Eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigte Verbesserungen bei Teilnehmern mit milder bis moderater Rot-Grün-Farbsehschwäche, jedoch nicht bei Teilnehmern mit schwerer Farbsehschwäche.[14][15] Ausgenommen der Studien, bei denen sich Autoren zur Mitbeteiligung an EnChroma bekannt haben, fand eine Studie im Jahr 2022, dass die Gläser zu verbesserten Ergebnissen in Farbsehtests führten.[16] In einem Artikel der American Academy of Ophthalmology von 2021 wurde festgestellt, dass Teilnehmer teilweise Rot und Grün durch die Gläser besser unterscheiden könnten, das Resultat aber von Probanden zu Probanden stark variiert und kein Äquivalent für normale Sicht sei.[17]

Eine übergreifende Meta-Analyse aus dem Jahr 2022 kam zu dem Schluss, dass keine Beweise existieren, dass EnChroma-Linsen die subjektive Farbwahrnehmung klinisch signifikant verbessern und infolgedessen eine Empfehlung für Farbenblinde wenig sinnvoll bis kontraproduktiv sei.[18]

Im Dezember 2023 führten Recherchen des Webvideoproduzenten MegaLag[19] bezüglich den wissenschaftlichen Versprechen und unethischen Marketingpraktiken von EnChroma und anderen Brillenherstellern zu größerer medialer Rezeption. Es wurde aufgedeckt, dass Produktbewertungen gefälscht und Influencer angeleitet wurden, wie sie positive Bewertungen über das Produkt abgeben können. Außerdem wurde aufgezeigt, dass in den, auf der EnChroma-Website beworbenen, wissenschaftlichen Studien signifikante Interessenkonflikte existierten, da Autoren gleichzeitig Anteilseigner von EnChroma waren. Des Weiteren ergaben verschiedene andere Studien, dass die wissenschaftliche Grundlage der Marketingversprechen von EnChroma nicht nachvollziehbar ist.[1][20][21][22]

Einzelnachweise

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  1. a b c L. Gómez-Robledo, E. M. Valero, R. Huertas, M. A. Martínez-Domingo, J. Hernández-Andrés: Do EnChroma glasses improve color vision for colorblind subjects? In: Optics Express. Band 26, Nr. 22, 29. Oktober 2018, ISSN 1094-4087, S. 28693, doi:10.1364/OE.26.028693 (optica.org [abgerufen am 2. April 2024]).
  2. University of Granada: Scientists debunk the effectiveness of EnChroma glasses for colorblind people. Abgerufen am 6. Dezember 2023 (englisch).
  3. Miguel A. Martínez-Domingo, Luis Gómez-Robledo, Eva M. Valero, Rafael Huertas, Javier Hernández-Andrés, Silvia Ezpeleta, Enrique Hita: Assessment of VINO filters for correcting red-green Color Vision Deficiency. In: Optics Express. Band 27, Nr. 13, 24. Juni 2019, ISSN 1094-4087, S. 17954, doi:10.1364/OE.27.017954 (optica.org [abgerufen am 2. April 2024]).
  4. a b Dave NLN: Do EnChroma glasses for colour blind people work? In: Skeptical Science. 14. November 2018, abgerufen am 2. April 2024 (amerikanisches Englisch).
  5. John S. Werner, Brennan Marsh-Armstrong, Kenneth Knoblauch: Adaptive Changes in Color Vision from Long-Term Filter Usage in Anomalous but Not Normal Trichromacy. In: Current Biology. Band 30, Nr. 15, August 2020, S. 3011–3015.e4, doi:10.1016/j.cub.2020.05.054 (elsevier.com [abgerufen am 2. April 2024]).
  6. Claire Martin: EnChroma’s Accidental Spectacles Find Niche Among the Colorblind. The New York Times, 10. April 2021, archiviert vom Original am 10. April 2021; abgerufen am 25. Mai 2024 (englisch).
  7. PRO Awards Gold: Best Use of Social/Viral Marketing 2016—Valspar Color for the Colorblind. 18. April 2024, abgerufen am 25. Mai 2024 (amerikanisches Englisch).
  8. R. Lakowski: Theory and practice of colour vision testing: A review Part 1. In: Occupational and Environmental Medicine. 26. Jahrgang, Nr. 3, 1. Juli 1969, S. 173–189, doi:10.1136/oem.26.3.173, PMID 4893872, PMC 1008938 (freier Volltext) – (englisch).
  9. Kelly Diane, Stone Maddie: Can These Glasses Help the Colorblind? We Put EnChroma to the Test In: Gizmodo, 11. Juli 2015. Abgerufen am 29. November 2018 (amerikanisches Englisch). 
  10. Craig Bettenhausen: Experimenting with EnChroma's color-blind assistance glasses. In: Chemical & Engineering News. 6. Jahrgang, Nr. 95, 6. Februar 2017, S. 80 (englisch, acs.org).
  11. Axel Hieronymus, Robert Lambrecht: Brille macht graue Welt wieder bunt. Abgerufen am 12. Januar 2020.
  12. Maxine Builder: Do Color-blind Glasses Actually Work? 20. Februar 2019, abgerufen am 2. April 2024 (englisch).
  13. Jennifer Ouellette: Spanish scientists: EnChroma glasses won’t fix your color blindness. 6. November 2018, abgerufen am 2. April 2024 (amerikanisches Englisch).
  14. John S. Werner, Brennan Marsh-Armstrong, Kenneth Knoblauch: Adaptive Changes in Color Vision from Long-Term Filter Usage in Anomalous but Not Normal Trichromacy. In: Current Biology. 30. Jahrgang, Nr. 15, 3. August 2020, ISSN 0960-9822, S. 3011–3015.e4, doi:10.1016/j.cub.2020.05.054, PMID 32589909, bibcode:2020CBio...30E3011W (englisch, sciencedirect.com).
  15. Jeff Rabin, Frances Silva, Natalie Trevino, Harper Gillentine, Liqing Li, Loary Inclan, Gary Anderson, Erica Lee, Harrison Vo: Performance enhancement in color deficiency with color-correcting lenses. In: Eye. Band 36, Nr. 7, Juli 2022, ISSN 0950-222X, S. 1502–1503, doi:10.1038/s41433-021-01924-0.
  16. Jeff Rabin, Frances Silva, Natalie Trevino, Harper Gillentine, Liqing Li, Loary Inclan, Gary Anderson, Erica Lee, Harrison Vo: Performance enhancement in color deficiency with color-correcting lenses. In: Eye. Band 36, Nr. 7, Juli 2022, ISSN 0950-222X, S. 1502–1503, doi:10.1038/s41433-021-01924-0.
  17. Reena Mukamal: Do Colorblindness Glasses Really Work? American Academy of Ophthalmology, 8. März 2021, abgerufen am 2. April 2024 (englisch).
  18. Shiva Ram Male, Bindiganavale R Shamanna, Rishi Bhardwaj, Chakravarthy Bhagvati, Baskar Theagarayan: Color vision devices for color vision deficiency patients: A systematic review and meta‐analysis. In: Health Science Reports. Band 5, Nr. 5, September 2022, ISSN 2398-8835, doi:10.1002/hsr2.842.
  19. Exposing the Fake Science behind Color Blind Glasses. Abgerufen am 25. Dezember 2023 (deutsch).
  20. E. J. Patterson, R. R. Mastey, J. A. Kuchenbecker, J. Rowlan, J. Neitz, M. Neitz, J. Carroll: Effects of color-enhancing glasses on color vision in congenital red-green color deficiencies. In: Optics Express. Band 30, Nr. 17, 15. August 2022, ISSN 1094-4087, S. 31182, doi:10.1364/OE.451295 (optica.org).
  21. Cat Pattie, Stacey Aston, Gabriele Jordan: Do EnChroma glasses improve performance on clinical tests for red-green color deficiencies? In: Optics Express. Band 30, Nr. 18, 29. August 2022, ISSN 1094-4087, S. 31872, doi:10.1364/OE.456426 (optica.org [abgerufen am 2. April 2024]).
  22. E. M. Valero, J. Neitz, B. Drum: Aids for color vision deficiency: introduction to the feature issue. In: Optics Express. Band 30, Nr. 26, 19. Dezember 2022, ISSN 1094-4087, S. 46560, doi:10.1364/OE.480473 (optica.org [abgerufen am 2. April 2024]).