Epistemische Ungerechtigkeit
Epistemische Ungerechtigkeit bezeichnet Ungerechtigkeit, die sich auf den Bereich des Wissens und auf Menschen als Wissende bezieht.
Geschichte des Konzepts
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit wurde unter dieser Bezeichnung erstmals von der Philosophin Miranda Fricker in ihrem Buch Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing (2007) beschrieben. Reflexionen über epistemische Ungerechtigkeiten finden sich aber schon früher in Diskussionen über Unterdrückung und Marginalisierung in der (insbesondere Schwarzen) feministischen Philosophie, der Critical Philosophy of Race und postkolonialen Theorie.[1][2] Die berühmte Rede von Sojourner Truth, in der sie fragte „Ain't I a woman?“ (deutsch: „Bin ich etwa keine Frau?“) und mit der sie 1851 das Ausblenden Schwarzer Perspektiven in der US-amerikanischen Frauenbewegung kritisierte, wird beispielsweise als ein Verweis auf eine epistemische Ungerechtigkeit verstanden.[3] In der Epistemologie wurde das Thema allerdings über lange Zeit hinweg nicht behandelt.[4]
Definitionen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Epistemische Ungerechtigkeiten richten sich erstens gegen Wissende als Wissende, führen zweitens zu „epistemischer Dysfunktion“, indem sie das Verständnis verzerren oder erschweren, und werden drittens durch epistemische Praktiken und Institutionen wie Lehrpläne, die bestimmte intellektuelle Traditionen ignorieren, verzerren oder abwerten, aufrechterhalten.[5] Miranda Fricker unterscheidet zwei Formen epistemischer Ungerechtigkeit, die jeweils dazu führen, dass Menschen in ihrer Eigenschaft als Wissende nicht ernst genommen werden: testimoniale Ungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit.[3]
Testimoniale Ungerechtigkeit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Als testimoniale Ungerechtigkeit, also Ungerechtigkeit, die das Zeugnis-Ablegen betrifft, beschreibt Fricker Situationen, in denen Vorurteile einen Zuhörenden dazu bringen, einem Sprechenden ein geringeres Maß an Glaubwürdigkeit zuzuschreiben.[6] Testimoniale Ungerechtigkeit kann sich auf individueller Ebene finden, wenn etwa persönliche Erfahrungen zur Bewertung der Glaubwürdigkeit anderer herangezogen werden, als problematischer gelten aber systemische Ungerechtigkeiten, wenn es also gesellschaftliche Vorurteile über bestimmte Gruppen gibt. So wird beispielsweise Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Behinderung häufig weniger Glauben geschenkt.[7] Die Vorurteile können dazu führen, dass bestimmten Sprechenden überhaupt nicht zugehört wird. Sie gelten damit nicht einmal als unglaubwürdig, sondern als nicht-zuhörenswürdig. Auch auf Seiten der Sprechenden kann testimoniale Ungerechtigkeit dazu führen, dass sie darauf verzichten, bestimmte Themen anzusprechen, weil sie davon ausgehen, dass sonst aufgrund von Vorurteilen ihre Glaubwürdigkeit in Frage gezogen würde.[2]
Hermeneutische Ungerechtigkeit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Hermeneutische Ungerechtigkeit liegt laut Fricker dann vor, wenn durch eine „Lücke in unseren kollektiven hermeneutischen Ressourcen“ Menschen nicht fähig sind, ihre Erfahrungen zu begreifen und zu vermitteln. Diese Form der Ungerechtigkeit gehe der testimonialen Ungerechtigkeit voraus. Als Beispiel führt sie an, dass ein Opfer sexueller Belästigung in einer Kultur, in der der Begriff „sexuelle Belästigung“ nicht existiert, nicht in der Lage ist, Verständnis für seine Erfahrungen zu erzielen.[6] Hermeneutische Ungerechtigkeiten erschweren es Betroffenen einerseits, sich untereinander zu verständigen und ihre gesellschaftliche Benachteiligung so zu erkennen, und macht es andererseits schwerer, ihre Anliegen gegenüber anderen Gruppen zu artikulieren.[8] In Fällen „willentlicher epistemischer Ignoranz“ kann es aber auch vorkommen, dass marginalisierte Gruppen durchaus über entsprechende hermeneutische Ressourcen verfügen, Ungerechtigkeit zu benennen, diese aber von dominanten Gruppen ignoriert werden.[2]
Epistemische Ausschlüsse erster, zweiter und dritter Ordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kristie Dotson hat eine Klassifizierung epistemischer Ungerechtigkeit als „epistemische Unterdrückung“ vorgebracht, die teilweise über die Frickers hinausgeht und auf die politischen und gesellschaftlichen Wurzeln epistemischer Ungerechtigkeit verweist. Sie identifiziert epistemische Ausschlüsse erster, zweiter und dritter Ordnung. Als epistemischen Ausschluss erster Ordnung sieht sie Fälle wie die von Fricker beschriebenen Beispiele testimonialer Ungerechtigkeit, in denen es zu unfairen Glaubwürdigkeitszuschreibungen komme. Das epistemische System an sich sei in diesen Fällen nicht problematisch, es müsse nur korrekt und fair angewandt werden. In Ausschlüssen zweiter Ordnung sei dagegen das System an sich das Problem und müsse, z. B. durch das Einführen neuer Begrifflichkeiten oder Konzepte, weiterentwickelt werden, um bestimmte Erfahrungen abbilden zu können (womit sie an die Beschreibung hermeneutischer Ungerechtigkeit anschließt). Ausschlüsse dritter Ordnung ließen sich durch eine Korrektur des bestehenden Systems nicht mehr reparieren; ein bestimmtes Wissenssystem sei in diesen Fälle für die zu bewältigenden Aufgaben ungeeignet. Das epistemische System an sich führe dazu, dass sich innerhalb des Systems die Ungerechtigkeiten nicht einmal wahrnehmen ließen.[9][10][3] Die Tatsache, dass die Anwendung von Antidiskriminierungsgesetzgebung auf konkrete Fälle, wie von Kimberlé Crenshaw beschrieben, dazu führe, dass die Diskriminierung Schwarzer Frauen zwar als rassistische oder sexistische Diskriminierung behandelt werden könne, das Zusammenwirken beider Diskriminierungsformen (Intersektionalität) damit aber unbeachtet bliebe, ließe sich so als epistemische Ungerechtigkeit dritter Ordnung verstehen – erst wenn sich das Verständnis von Diskriminierung grundlegend ändere, könne man Probleme angehen.[11] Robin Celikates schlägt vor, die Rolle von Ideologie bei der Betrachtung epistemischer Ungerechtigkeit zu berücksichtigen, um tiefer reichende Probleme (etwa die durch Ideologien verursachte Unmöglichkeit, Erfahrungen überhaupt zu artikulieren) in den Blick zu bekommen.[12]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Fricker, Miranda Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford University Press, Oxford 2007, ISBN 9780198237907.
- deutschsprachige Ausgabe: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens. Aus dem Englischen von Antje Korsmeier, C. H. Beck, München 2023, ISBN 978-3-406-79892-4.
- Kidd, Ian James, José Medina, and Gaile Pohlhaus Jr. (Hrsg.). The Routledge Handbook of Epistemic Injustice. Routledge, London und New York 2017, ISBN 9781138828254.
- Hänel, Hilkje Charlotte. Epistemische Ungerechtigkeit. de Gruyter, Berlin, ISBN 9783110759792.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Ian James Kidd, José Medina, Gaile Pohlhaus Jr.: Introduction to The Routledge Handbook of Epistemic Injustice. In: Ian James Kidd, José Medina, Gaile Pohlhaus Jr. (Hrsg.): The Routledge Handbook of Epistemic Injustice. Routledge, London/New York 2017, ISBN 978-1-315-21204-3 (taylorfrancis.com [abgerufen am 30. Juni 2021]).
- ↑ a b c Rachel McKinnon: Epistemic Injustice. In: Philosophy Compass. Band 11, Nr. 8, 2016, ISSN 1747-9991, S. 437–446, doi:10.1111/phc3.12336 (wiley.com [abgerufen am 2. Juli 2021]).
- ↑ a b c José Medina: Feminism and Epistemic Injustice. In: The Oxford Handbook of Feminist Philosophy. Oxford University Press, 2021, ISBN 978-0-19-062892-5, doi:10.1093/oxfordhb/9780190628925.013.32 (oxfordhandbooks.com [abgerufen am 2. Juli 2021]).
- ↑ José Medina: Epistemic injustice and epistemologies of ignorance. In: The Routledge Companion to the Philosophy of Race. 2017, S. 247–260, doi:10.4324/9781315884424.
- ↑ Gaile Pohlhaus Jr.: Varieties of Epistemic Injustice. In: Ian James Kidd, José Medina, Gaile Pohlhaus Jr. (Hrsg.): The Routledge Handbook of Epistemic Injustice. Routledge, London/New York 2017, ISBN 978-1-315-21204-3, S. 13–27.
- ↑ a b Miranda Fricker: Epistemic injustice : power and the ethics of knowing. Oxford University Press, Oxford 2007, ISBN 978-0-19-823790-7, S. 1.
- ↑ Jackie Leach Scully: Epistemic Exclusion, Injustice, and Disability. In: The Oxford Handbook of Philosophy and Disability. Oxford University Press, 2020, ISBN 978-0-19-062287-9, S. 295–309, doi:10.1093/oxfordhb/9780190622879.013.8 (oxfordhandbooks.com [abgerufen am 2. Juli 2021]).
- ↑ Silke Schicktanz: Epistemische Gerechtigkeit. Sozialempirie und Perspektivenpluralismus in der Angewandten Ethik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 60, Nr. 2, Mai 2012, ISSN 0012-1045, S. 269–283, doi:10.1524/dzph.2012.0019 (degruyter.com [abgerufen am 2. Juli 2021]).
- ↑ Alison Bailey: The Unlevel Knowing Field: An Engagement with Dotson's Third-Order Epistemic Oppression. ID 2798934. Social Science Research Network, Rochester, NY 2014 (ssrn.com [abgerufen am 2. Juli 2021]).
- ↑ Kristie Dotson: Conceptualizing Epistemic Oppression. In: Social Epistemology. Band 28, Nr. 2, 3. April 2014, ISSN 0269-1728, S. 115–138, doi:10.1080/02691728.2013.782585 (tandfonline.com [abgerufen am 2. Juli 2021]).
- ↑ Gaile Pohlhaus: Epistemic Agency Under Oppression. In: Philosophical Papers. Band 49, Nr. 2, 3. Mai 2020, ISSN 0556-8641, S. 233–251, doi:10.1080/05568641.2020.1780149 (tandfonline.com [abgerufen am 13. November 2022]).
- ↑ Robin Celikates: Epistemische Ungerechtigkeit, Loopingeffekte und Ideologiekritik: Eine sozialphilosophische Perspektive. In: WestEnd. Nr. 2, 2017, ISBN 978-3-593-50789-7, S. 53–72.