Erster Deportationszug nach Riga

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Im Rahmen der Deportation von Juden aus Deutschland fuhr am 27. November 1941 ein Erster Deportationszug nach Riga mit 1053 Juden von Berlin ab und erreichte am 30. November den Bahnhof Šķirotava bei Riga. Alle Insassen wurden am frühen Morgen im Wald von Rumbula erschossen, da im überfüllten Ghetto Riga kein Platz war. Der Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln wurde für diese Eigenmächtigkeit von Heinrich Himmler gerügt. Historiker deuten die Intervention Himmlers dahingehend, es sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden gewesen, die westeuropäischen Juden in den Vernichtungsprozess einzubeziehen.

Gedenkplatte am Gleis 17 Bahnhof Berlin-Grunewald - (Zahlendreher: lies 1053)

Geschichtlicher Hintergrund

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Bald nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 genehmigte Adolf Hitler im September auf Drängen hoher Funktionäre wie Reinhard Heydrich, Joseph Goebbels und Gauleiter Karl Kaufmann, Massendeportationen von Juden aus Deutschland in den Osten zu beginnen.[1] Ab September 1941 mussten alle Juden den Judenstern tragen und im Oktober erfolgte ein Auswanderungsverbot. Am 4. November 1941 gab das Reichsfinanzministerium Anweisungen zur Einziehung jüdischen Vermögens heraus. Grundlage für die Konfiskationen bot anfangs – bis zur 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes am 25. November 1941 – ein Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens.[2][3] Mit dem 15. Oktober 1941 begannen die systematischen Massendeportationen deutscher Juden in den Osten.[4]

In der Vorbereitung der ersten Deportation aus Deutschland führte der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) SS-Obergruppenführer und General der Polizei Reinhard Heydrich am 10. Oktober 1941 eine Besprechung in Prag durch, an der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der Leiter des „Eichmannreferats“ (RSHA, IV B 4 „Auswanderung und Judenangelegenheiten“) und weitere SS-Offiziere teilnahmen. Heydrich kündigte an, dass die Deportation von insgesamt 50.000 Juden aus dem erweiterten Reichsgebiet, also aus dem Deutschen Reich, dem angeschlossenen Österreich sowie dem sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“, in unlängst besetzte Orte wie Riga und Minsk geplant sei.[5] Im weiteren Verlauf der Vorbereitungen und aufgrund einer Vereinbarung mit der Sicherheitspolizei (Sipo) und dem Sicherheitsdienst (SD) ordnete der Chef der Ordnungspolizei, Generaloberst der Polizei und SS-Oberst-Gruppenführer Kurt Daluege an, dass Einheiten der Ordnungspolizei für die Bewachung der Deportierten während der Zugfahrt zuständig seien.[1] In einem seiner Schreiben, datiert auf den 24. Oktober 1941, wurde Berlin als Teil einer „zweiten Deportationswelle“ genannt, die für die Zeit vom 1. November bis zum 4. Dezember 1941 geplant war.

1941 waren noch rund 66.000 als Juden eingestufte Personen in Berlin registriert. Mit den „Osttransporten“ wurden mehr als 35.000 Berliner Juden deportiert; die zahlenmäßig größten Transporte fanden bis zur Fabrikaktion im März 1943 statt. Zusätzlich gingen zahlreiche kleine sogenannte „Alterstransporte“ mit 15.000 Berliner Juden nach Theresienstadt.[6]

Das Judenreferat der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Berlin unter der Leitung von SS-Untersturmführer Gerhard Stübs und seinem Stellvertreter Kriminaloberinspektor Franz Prüfer wurde beauftragt, die Transporte in Zusammenarbeit mit dem Judenreferat des RSHA (IVD1) durchzuführen. Den Vertretern der Berliner Jüdischen Gemeinde wurde befohlen, Namenslisten für die Deportationen zu erstellen. Sie wurden gezwungen, aus ihrer Kartei einige tausend Namen auszuwählen. Die jüdische Gemeinde hatte auch für die Verpflegung der Deportierten zu sorgen.[1]

Zwanzig Osttransporte nach Riga

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Zwischen dem 27. November 1941 und dem 8. Februar 1942 wurden 20 Deportationszüge nach Riga geleitet, darunter 4 aus Berlin.[7] Zwei Wochen vor dem Transport – teils aber auch nur drei Tage vorher – erhielten die zu Deportierenden eine Benachrichtigung über ihren bevorstehenden Abtransport. In einer Vermögenserklärung waren Mobiliar und Kleidung aufzulisten. Ein Reisegepäck von 50 kg war erlaubt. Die NS-Behörden hatten die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in die Organisation der Deportation der jüdischen Bevölkerung von Berlin eingebunden. Die Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde mussten die Transportlisten zusammenstellen und bei der Aufnahme der Vermögensverhältnisse und dem Ausfüllen der Listen mithelfen.[8] Die Berliner Deportationslisten konnten anfangs nur durch die Meldekartei der Jüdischen Gemeinde erstellt werden. Ab Dezember 1941 verfügte die Gestapo über eine eigene Kartei und stellte die Listen selbst zusammen.[9]

Am 31. Oktober 1941 wurden von Adolf Eichmanns Referat Deportationsrichtlinien erlassen, nach denen unter anderem Personen im Alter über 65 Jahren, Gebrechliche oder in Mischehe lebende Juden nicht „evakuiert“ werden sollten. Diese Richtlinien sind nicht erhalten, ihr Inhalt lässt sich aber aus örtlichen Anordnungen erschließen und deckt sich mit späteren Erlassen.[10] Als Sammellager diente die Synagoge Levetzowstraße im Berliner Stadtteil Tiergarten. Dort wurden die Identität und die mitgeführte Habe der jüdischen Opfer kontrolliert. Sie wurden gezwungen, sämtliche noch mitgeführten Wertgegenstände und Bargeld oberhalb einen bestimmten Grenze (häufig 50 Reichsmark) abzugeben. Die Schutzpolizei Berlin überwachte die Sammelstelle. Bis zur 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes sowie bei Deportationen nach Theresienstadt wurde den Juden als „Reichsfeinde“ durch einen Gerichtsvollzieher im Lager eine Verfügung zugestellt, wodurch ihr Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen wurde.[11] Nach Abgang des Transports bot die Gestapo die jüdischen Besitztümer in einer Auktion zum Verkauf an.[1]

Der erste Deportationszug nach Riga

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Am Donnerstag, den 27. November 1941, wurden die zur Deportation aufgerufenen Juden von der Sammelstelle in der Synagoge Levetzowstraße zum Bahnhof Grunewald gebracht. Die Gehfähigen mussten etwa sieben Kilometer zum Bahnhof Berlin-Grunewald laufen, die nicht Gehfähigen wurden auf Lastwagen dorthin verbracht. Der Deportationszug war von der Reichsbahn vermutlich[12] unter der Nummer Da 31 aus 3. Klasse Personenwaggons bereitgestellt worden und eine Einheit der Berliner Schutzpolizei war als Transportbegleit- und Wacheinheit bis Riga eingeteilt worden. Der Deportationszug fuhr am 27. November 1941 ab. Das Ziel wurde den Deportierten nicht mitgeteilt. Nach drei Tagen in überfüllten Waggons kamen sie am 30. November 1941 bei strengem Frost am Bahnhof Šķirotava am Stadtrand von Riga an.[1]

Die Transportliste des ersten Deportationszuges nach Riga ist nicht im Original erhalten geblieben. Die Anzahl von 1053 Personen konnte jedoch durch Unterlagen der Reichsbahn festgestellt werden. Durch erhaltene Vermögensaufstellungen, Gestapoakten und Kopien von Karteikarten konnten 1052 Namen mit Geburtsjahr ermittelt werden.[13]

Für diesen 7. Osttransport aus Berlin war ursprünglich als Ziel das Ghetto Riga geplant; dieses aber war überfüllt. In heruntergekommenen Häusern lebten auf engstem Raum 29.602 hauptsächlich lettische Juden, davon 15.738 Frauen, 8222 Männer und 5652 Kinder.[14] In Erwartung der deutschen Transporte entschied Himmler Mitte November, das völlig überfüllte Ghetto Riga (um „Platz zu schaffen“) mit einer großangelegten Mordaktion für die Aufnahme der Juden aus Deutschland vorzubereiten.[1][15] Am 30. November („Rigaer Blutsonntag“) und am 8. Dezember 1941 wurden mehr als 27.500 lettische Juden aus dem Ghetto Riga im Wald von Rumbula erschossen.

Der Transportzug mit 1053 Berliner Juden traf am frühen Sonntagmorgen des 30. Novembers 1941 am Bahnhof Šķirotava in Riga ein. Dort blieben die Schutzpolizisten aus Berlin zurück; der Zug wurde auf die Abstellgleise der Bahnstation Rumbula weitergeleitet und die Deportierten dort in die ersten Marschkolonnen der Juden aus dem Ghetto Riga eingereiht.[16] Alle Berliner Juden[17] wurden zwischen 8:15 und 9:00 Uhr erschossen;[18] die Ermordung aller rund 14.000 Opfer dauerte bis in die Dämmerung. Starke Schneefälle verhinderten den Fortgang.[19]

Die Insassen der nächsten vier Züge brachte man nicht ins Ghetto, sondern zum heruntergekommenen Landwirtschaftsgut Jungfernhof, anderthalb Kilometer vom Ankunftsbahnhof Šķirotava und sechs Kilometer vom Zentrum Rigas entfernt. Die Insassen der folgenden fünf Transporte wurden, ebenso wie die der zehn weiteren Deportationen zu Beginn des Jahres 1942, dann in das Ghetto Riga eingewiesen. Der Schnee war blutgetränkt und auf den Tischen stand teilweise noch das inzwischen gefrorene Essen der vormaligen Bewohner.[20]

Gerüchte und Wissen

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Die von Jeckeln verbreitete Legende von der „Aussiedlung“ der Rigaer Juden nach einem anderen Ort hatte kaum 24 Stunden Bestand. Britische und sowjetische Radiosendungen berichteten über deren Massenhinrichtung.[21] In Berlin gingen Gerüchte über den Tod der Deportierten um. Victor Klemperer notierte am 13. Januar 1942 von einem glaubhaft mitgeteilten Gerücht, es seien „evakuierte Juden bei Riga reihenweis, wie sie den Zug verließen, erschossen worden.“[22] Hermann Samter, ein führender Vertreter der jüdischen Gemeinde Berlin, schrieb am 26. Januar 1942 von einem „weit verbreiteten Gerücht“, wonach die nach Kaunas und Riga deportierten Juden ermordet worden seien.[23]

Bernhard Lösener, Ministerialrat im Reichsinnenministerium, hatte durch Werner Feldscher von einem Augenzeugenbericht erfahren, der die Ermordung der Berliner Juden des Deportationszuges am 30. November beschrieb.[24] Lösener bat daraufhin am 19. Dezember 1942 um seine Versetzung.[25][26]

Quellen und Deutungen

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Der seinerzeit als historischer Schriftsteller Aufmerksamkeit erregende Holocaustleugner David Irving behauptete 1977, Hitler habe den Massenmord an den Juden weder gewollt noch befohlen. Als Schlüsseldokument dienten ihm dazu handschriftliche Gesprächsnotizen Himmlers aus dem Sonderarchiv Moskau, die sich offenbar auf den 7. Deportationszug aus Berlin beziehen. Am 30. November 1941 führte Himmler um 13:30 Uhr ein Telefonat mit Heydrich und notierte dazu: „Judentransport aus Berlin. keine Liquidierung.“[27] Tatsächlich aber waren alle 1053 Berliner Juden schon am Morgen des 30. Novembers im Wald von Rumbula ermordet worden. Am Folgetag sandte Himmler einen Funkspruch an Friedrich Jeckeln: „Die in das Gebiet Ostland ausgesiedelten Juden sind nur nach den von mir bzw vom Reichssicherheitshauptamt in meinem Auftrag gegebenen Richtlinien zu behandeln. Eigenmächtigkeiten, Zuwiederhandlungen [sic] würde ich bestrafen.“[28] Jeckeln wurde noch am gleichen Tag aufgefordert, sich am 4. Dezember bei Himmler einzufinden.[29]

Martin Broszat kritisierte Irvings Manipulation der Gesprächsnotizen, es handele sich hier um ein von Hitler veranlasstes allgemeines Liquidierungs-Verbot. Die Worte „Keine Liquidierung“ stehen in Verbindung mit „Judentransport aus Berlin“; es ging um eine Weisung in einer speziellen Situation, nicht um eine generelle Anordnung. Broszat äußert überdies die feste Überzeugung, dass diese Anordnung im Zusammenhang stand mit den Exekutionen von deutschen Juden, zu denen es wenige Tage zuvor in Kaunas gekommen war.[30] Generalkommissar Wilhelm Kube hatte kurz zuvor beanstandet, dass sich unter den Deportierten nach Minsk entgegen der Richtlinien auch „alte Frontkämpfer“ und jüdische Mischlinge befanden.[31][32] Die Behandlung der nach dem Osten deportierten Reichsjuden hatten erhebliches Aufsehen sowohl bei der deutschen Militärverwaltung wie bei einigen Vertretern der deutschen Zivilverwaltung im „Ostland“ erregt. Broszat schreibt, dass Heydrich sich „mit diesen Vorwürfen“ noch Monate später auseinandersetzen musste.[33] Derartige Interventionen oder auch die Lage in Berlin, wo amerikanische Journalisten begonnen hatten, sich nach dem Verbleib der deportierten Juden zu erkundigen, könnten laut Broszat zu Himmlers Einschreiten geführt haben.[34] Irving räumte zwar später ein, mit seiner Behauptung, Hitler habe Himmler befohlen, bei Heydrich anzurufen, Unrecht zu haben, hielt aber in einigen späteren Publikationen an seinen früheren Thesen fest.[35]

Gerald Fleming ging davon aus, dass Himmler am 17. November 1941 die Liquidierung sämtlicher jüdischer Bürger der Stadt Riga „wie auch der seit dem 18. Oktober aus dem Reich abgefahrenen Juden“ angeordnet habe.[36] Er deutet die Anordnung „Judentransport aus Berlin. Keine Liquidierung“ als „einmaliges Umstoßen eines vorherigen generellen Befehls.“ Zur Erklärung führt er Vorhaltungen der Wehrmacht an, die zu dieser Zeit alle Transportmittel benötigte, des Weiteren ein Zögern vor Amerikas Kriegseintritt, insbesondere aber Beschwerden des Reichskommissars Ostland Hinrich Lohse, dass beim Transport nach Riga in 40 bis 45 Fällen „unbequeme ältere Juden“ mitgeschickt worden seien. Himmler habe genau gewusst, dass in den ersten Transporten deutscher Juden nach Riga und Minsk Ordensträger und Menschen über fünfundsechzig Jahren waren.[37]

Peter Longerich begründet hingegen eingehend, dass es nicht geplant gewesen sei, die aus Westeuropa deportierten Juden sogleich zu töten. Durch die überstürzte Ankunft der Deportierten sei in Riga eine „unerträgliche Situation“ herbeigeführt worden. Jeckeln behauptete nach dem Krieg, er habe von Himmler den Befehl zur Liquidierung des Ghettos Riga um den 10./11. November 1941 erhalten. Da im Ghetto nicht rechtzeitig auf grausame Weise „Platz geschaffen“ werden konnte, wurden die ersten ankommenden Deportierten ermordet. Jeckeln sei durch diese improvisierte Aktion mit der Ermordung zentraleuropäischer Juden über das zu diesem Zeitpunkt gewünschte Ziel hinausgegangen.[38]

Christopher Browning stellt fest, es sei zu diesem Zeitpunkt völlig unklar gewesen, was mit den Deportierten am Bestimmungsort geschehen sollte. Die ersten deutsche Juden kamen in Minsk sofort ins Ghetto. Zwei Wochen später wurden 5000 überraschend in Kaunas eintreffende österreichische und deutsche Juden zwei Tage später im Fort IX erschossen. In Riga wurden die 1053 Juden des 7. Osttransport aus Berlin sofort nach ihrer Ankunft ermordet, während weitere Transporte nach Riga notdürftig im Gut Jungfernhof oder im „freigemachten“ Ghetto Riga untergebracht wurden. Browning stimmt mit Hans Safrian[39] überein, es habe zu diesem Zeitpunkt noch keinen generellen Befehl zur Liquidierung aller – auch der zentraleuropäischen – Juden gegeben. Zu diesem Befund passt es, dass Jeckeln wegen „Eigenmächtigkeiten“ gerügt wurde. Auch sei im Jäger-Bericht kein Befehl zur Liquidierung der Deportierten in Kaunas erwähnt.[40]

Browning nennt es verwirrend, dass kurz vorher in Kaunas 5000 Deportierte auf Anordnung Jeckelns erschossen wurden, dieser nun aber gerügt wurde. Sollte Jeckeln dort ohne Befehl gehandelt haben, bliebe zu fragen, warum erst jetzt ein ausdrückliches Liquidierungsverbot ausgesprochen wurde. Es sei aber deutlich, dass Himmler spezifische Richtlinien für die Behandlung der „Reichsjuden“ ausgegeben hatte und die nachfolgenden Juden aus dem Altreich nicht sofort töten lassen wollte.[41]

Peter Klein stellte dar, dass Rudolf Lange keine Einwände gegen den Massenmord an den lettischen Juden des Ghettos erhob; das Barackenlager bei Salaspils war noch nicht errichtet und das Lager Jungfernhof nicht umzäunt. Als Lange erfuhr, dass Jeckeln die ankommenden Berliner Juden erschießen wollte, war dies aber in seinen Augen „eine nicht befehlsgemäße Ausweitung des Mordes“ auf die deutschen Juden. Er umging die übliche Nachrichtenverbindung und berichtete dem Reichssicherheitshauptamt per Funk, das dann Heydrich in Prag informierte. Es könnte an dieser zeitlichen Verzögerung liegen, dass Himmler zu spät eingriff.[42]

In einer weiteren Veröffentlichung beziehen sich Andrej Angrick und Peter Klein auf spätere Zeugenaussagen bei strafrechtlichen Ermittlungen, wonach es eine Weisung Heydrichs gegeben habe, die nach Riga Deportierten frontnah zu Zwangsarbeiten heranzuziehen. Für Jeckeln ergab sich durch den Befehl Himmlers, die Juden des Ghettos Riga zu ermorden, eine Möglichkeit, ebenso radikal gegen die Neuankömmlinge vorzugehen. Man könne nicht feststellen, ob Jeckeln den Befehl missverstanden hatte oder ob er ihn bewusst nutzte, um den Vernichtungsprozess voranzutreiben. Angrick und Klein vermuten letzteres.[43]

Die beiden Verfasser belegen durch Dokumente und Zeugenaussagen, dass an diesem 30. November Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst des Reichsführers SS versuchten, die Liquidierung der Juden aus Berlin zu verhindern. Jeckeln hatte die Kompetenzen des RSHA verletzt und die Befehle Himmlers überdehnt. Die im Vorfeld der Deportation aus Berlin angereisten Beamten der Stapo-Leitstelle hatten keinen Mordbefehl mitgebracht. Lange wollte darum nicht widerstandslos Folge leisten. Da alle üblichen Nachrichtenkanäle über den SS- und Polizeiapparat liefen, nutzte er einen Funksender zum RSHA; er erreichte Heydrich deshalb nicht direkt. Das führte zu zeitlicher Verzögerung, so dass Himmlers Veto zu spät kam.[44]

Himmler verwies Jeckeln am 4. Dezember 1941 deutlich in seine Schranken; Rudolf Lange aber wurde am 3. Dezember zum „Kommandeur der Sicherheitspolizei Riga“ ernannt. Jeckelns Position war geschwächt; er wurde danach auch von hohen Beamten des Reichskommissars für die besetzten Ostgebiete kritisiert, weil er zu viele arbeitstaugliche Juden eliminiert habe. Ebenso beklagte der Wehrmachtsbefehlshaber Ost den Verlust von jüdischen Facharbeitern in Rüstungsbetrieben und Reparaturwerkstätten.[45]

Christoph Dieckmann befasst sich eingehend mit den Ereignissen in Kaunas, bei denen erstmals fast 5000 deutsche Juden den Massenerschießungen zum Opfer fielen. Er listet auf, dass zunächst 26.000 der Deportierten in die Ghettos in Lodz und Minsk kamen, dann in Kaunas und beim ersten Deportationszug nach Riga insgesamt 6000 Juden bei Massenerschießungen umgebracht wurden und die nächsten 9000 wieder in Lagern und Ghettos in Riga untergebracht wurden. Jede Erklärung für dieses „Hin und Her“ müsse spekulativ bleiben.[46]

Die Zusammenschau der Quellen lege jedoch nahe, dass Himmler und Heydrich die Erschießungen der 6000 österreichischen und deutschen Juden nicht befohlen und beide auch keine Kenntnis gehabt hätten von den am 25. und am 29. November 1941 in Kaunas erfolgten Massenmorden. Diese Tötungen sind im Jäger-Bericht vom 1. Dezember 1941 aufgeführt, in der Ereignismeldung des Reichssicherheitshauptamtes vom 5. Januar 1942 aber ist nicht mehr die Rede davon. Dieckmann nimmt an, dass dieses Verschweigen[47] mit der Absicht geschah, Verantwortliche vor Vorwürfen zu schützen. Jeckeln hatte das Problem, wie die Deportierten unterzubringen seien, eigenmächtig durch Massenmord „gelöst“ und zugleich die Vernichtungspolitik durch die Einbeziehung von „Westjuden“ vorantreiben wollen. Durch die Rüge Himmlers wurde klar, dass Jeckeln in seiner Annahme irrte, er handele im stillschweigenden Einverständnis seiner Vorgesetzten. Tatsächlich – so Dieckmann – kam es erst nach der Kriegserklärung an die USA zur Entscheidung, alle europäischen Juden in die Vernichtungskampagne einzubeziehen.[48]

  • Alfred B. Gottwaldt, Diana Schulle: Die Judendeportationen aus dem deutschen Reich von 1941–1945. Marixverlag, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-059-5
  • Klaus Dettmer: Die Deportationen aus Berlin. In: Wolfgang Scheffler, Diana Schulle (ed.): Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden. Saur Verlag, München 2003, ISBN 3-598-11618-7, Bd. 1, S. 191–197

Einzelnachweise

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  1. a b c d e f Transport, Zug Da 31 von Berlin, Berlin (Berlin), Stadt Berlin, Deutsches Reich nach Riga, Rigas, Vidzeme, Lettland am 27/11/194. In: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer. יָד וָשֵׁם (Yad Vashem), abgerufen am 17. März 2024.
  2. Christinane Kuller: Die Verwertung des Eigentums der deportierten Nürnberger Juden. In: Birthe Kundrus, Beate Meyer (Hrsg.): Die Deportation der Juden aus Deutschland: Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945. Wallstein, Göttingen 2004, ISBN 3-89244-792-6, S. 167.
  3. Otto Langels: Vor 75 Jahren: Die Wannseekonferenz. Vom Massenmord zum Holocaust. Deutschlandfunk, 20. Januar 2017, abgerufen am 25. März 2024.
  4. Sven Felix Kellerhoff: Beginn der Deportationen in den Osten. Der einzige mögliche Ausweg war der Freitod. In: Axel Springer SE (Hrsg.): Die Welt. Oktober 2021.
  5. H.G.Adler: Theresienstadt - Im Antlitz einer Zwangsgemeinschaft 1941-1945, 2. Aufl. Göttingen 2005, Anhang 46b, S. 720–723.
  6. Ralf Georg Reuth: Goebbels. Eine Biographie. 2. Auflage München 2021, ISBN 978-3-492-31690-3, S. 968. Die Angaben gehen laut Anm. 221 zurück auf * Robert Max Wassili: Die Ermordung von 35000 Berliner Juden. Der Judenmordprozeß schreibt Geschichte. In: Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die jüdische Gemeinde zu Berlin..., Heidelberg 1970, S. 180ff (nicht eingesehen)
  7. Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945: Eine kommentierte Chronologie. Marix, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-059-5, S. 445–446.
  8. Klaus Dettmer: Die Deportationen aus Berlin, in: Buch der Erinnerung : Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden. Bearb. von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003, ISBN 3-598-11618-7, Bd. 1, S. 194.
  9. Klaus Dettmer: Die Deportationen aus Berlin. In: Buch der Erinnerung..., München 2003, ISBN 3-598-11618-7, Bd. 1, S. 194.
  10. Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945: Eine kommentierte Chronologie. Marix, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-059-5, S. 87–88 und S. 144–144.
  11. Dokument abgebildet in: Hans Günther Adler: Die verheimlichte Wahrheit. S. 61/62 sowie bei Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945: Eine kommentierte Chronologie. Marix, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-059-5, S. 82. - Text zitiert in: Walther Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. FiTb 6084, überarb. Neuausgabe Frankfurt/M. 1982, ISBN 3-596-26084-1, S. 298–299.
  12. Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-059-5, S. 121.
  13. Buch der Erinnerung: Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden. Berlin & Boston: Saur, 2003, S. 204ff / Stand 2002
  14. Gutman, Jäckel, Longerich, Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, Band 3, S. 1229.
  15. Bert Hoppe, Hiltrud Glass (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I – Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien. München, 2011, ISBN 978-3-486-58911-5, S. 57.
  16. Andrej Angrick, Peter Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, S. 160–161.
  17. Angrick, Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga, S. 61 erwähnen, dass einer der Berliner sich als Neffe des Generalfeldmarschall Erhard Milch ausgab und zunächst zurückgestellt wurde.
  18. Gerald Fleming: Hitler und die Endlösung. Ullstein-Verlag, Frankfurt am Main/Berlin 1987, ISBN 3-548-33083-5, S. 89–92.
  19. Andrej Angrick, Peter Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, S. 165.
  20. Andrea Löw: Deportiert, Frankfurt/M. 2024, ISBN 978-3-10-397542-0, S. 91–92.
  21. Andrej Angrick, Peter Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, S. 166.
  22. Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten – Tagebücher 1933-1944, Berlin 1995, ISBN 3-351-02340-5, Band 2, S. 9.
  23. Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte. Berlin 2007, ISBN 978-3-549-07315-5, S. 435.
  24. Cornelia Essner: Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933 – 1945, Paderborn 2002, ISBN 3-506-72260-3, S. 115.
  25. VEJ 6/56 in: Susanne Heim (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Quellensammlung). Band 6: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren Oktober 1941–März 1943. Berlin 2019, ISBN 978-3-11-036496-5, S. 230–233.
  26. Peter Klein: Die Wannseekonferenz als Echo auf die gefallene Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden. In: Norbert Kampe, Peter Klein (Hrsg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 – Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen. Köln, 2013, ISBN 978-3-412-21070-0; S. 198.
  27. Als Foto von einem Microfilm aus dem Bundesarchiv abgebildet in: Richard J. Evans: Der Geschichtsfälscher – Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess. Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36770-X, S. 108. – Nach „Berlin.“ Zeilensprung und Kleinschreibung
  28. Zitiert nach Peter Klein: Die Wannseekonferenz als Echo auf die gefallene Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden. In: Norbert Kampe, Peter Klein (Hrsg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 – Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen. Köln, 2013, ISBN 978-3-412-21070-0; S. 196.
  29. Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944. Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0929-6, Bd. 2, S. 962.
  30. Martin Broszat: Hitler und die Genesis der 'Endlösung'. Aus Anlaß der Thesen von David Irving. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), H. 4, S. 760. – Broszat schreibt „Mit Sicherheit“
  31. Petra Rentrup: Tatorte der „Endlösung“. Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Metropol, Berlin 2011, ISBN 978-3-86331-038-7, S. 188–190.
  32. Vergl. Martin Broszat: Hitler und die Genesis der 'Endlösung'... In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), H. 4, S. 761.
  33. Martin Broszat: Hitler und die Genesis der 'Endlösung'. .. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), H. 4, S. 760.
  34. Martin Broszat: Hitler und die Genesis der 'Endlösung'... In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), H. 4, S. 761.
  35. Richard J. Evans: Der Geschichtsfälscher – Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess. Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36770-X, S. 110 f.
  36. Gerald Fleming: Hitler und die Endlösung. Ullstein-Verlag, Frankfurt am Main/Berlin 1987, ISBN 3-548-33083-5, S. 87. (Erstausgabe 1982)
  37. Gerald Fleming: Hitler und die Endlösung. Ullstein-Verlag, Frankfurt am Main/Berlin 1987, ISBN 3-548-33083-5, S. 88–89 mit Anmerkung 184.
  38. Peter Longerich: Politik der Vernichtung – Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, ISBN 3-492-03755-0, S. 464.
  39. Hans Safrian: Die Eichmann-Männer, Wien/Zürich 1993, ISBN 978-3-203-51115-3, S. 154.
  40. Christopher Browning: Die Entfesselung der 'Endlösung' – Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, München 2003, ISBN 3-549-07187-6, S. 444.
  41. Christopher Browning: Die Entfesselung der 'Endlösung'..., München 2003, ISBN 3-549-07187-6, S. 565–567.
  42. Peter Klein: Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord - Das Schicksal der Berliner Juden und die Rolle der Einsatzgruppen bei dem Versuch, die Juden als Partisanen auszurotten. In: Rolf-Dieter Müller, Hans Erich Volkmann: Die Wehrmacht - Mythos und Realität, München 1999, ISBN 3-486-56383-1, S. 934–935.
  43. Andrej Angrick, Peter Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, S. 160.
  44. Andrej Angrick, Peter Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, S. 162.
  45. Andrej Angrick, Peter Klein: Die ‚Endlösung‘ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, S. 167–169
  46. Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0929-6, Bd. 2, S. 961–962.
  47. Hierzu ausführlicher: Peter Klein: Die Wannseekonferenz als Echo auf die gefallene Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden. In: Norbert Kampe, Peter Klein (Hrsg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 – Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen. Köln, 2013, ISBN 978-3-412-21070-0, S. 196–197.
  48. Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0929-6, Bd. 2, S. 963–967.