Fall Lisa

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Der Fall Lisa ist ein aus einem Vermisstenfall vom Januar 2016 in russischsprachigen Bevölkerungsgruppen in Deutschland entstandenes Politikum im Kontext zur Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016, das zu intensiver Berichterstattung und Verbreitung von Fake News, vor allem in den russischen Medien, und zu diplomatischen Spannungen zwischen Deutschland und Russland führte.

Sachverhalt und Ermittlungen

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Die damals 13-jährige Lisa F. aus Berlin-Marzahn verschwand am 11. Januar 2016 auf dem Weg zur Schule, die deutsch-russischen[1] Eltern meldeten sie als vermisst.[2] Am Folgetag tauchte sie wieder auf und berichtete zunächst, dass sie von drei Unbekannten verschleppt, in einer Wohnung festgehalten und vergewaltigt worden sei. Bei den angeblichen Entführern handle es sich um „Südländer“. Bei weiteren Vernehmungen rückte sie von ihrer ersten Version ab und sagte, sie sei freiwillig mit den Männern mitgegangen. Insgesamt schilderte Lisa F. vier verschiedene Versionen zu ihrem Verschwinden.[3] Anhand der Mobilfunkdaten rekonstruierte die Polizei, dass Lisa in der fraglichen Nacht bei einem Freund war.[4] Laut Staatsanwaltschaft traute sie sich wegen Schulproblemen nicht nach Hause.[5] Nach rechtsmedizinischen Untersuchungen fand man keine Vergewaltigungsspuren. Laut Anwalt der Familie wies sie Hämatome auf und wurde „psychologisch betreut“.[6]

Während sich die vermeintliche Vergewaltigung vom Januar 2016 als Falschbehauptung herausgestellt hatte, erwies sich im Zuge der Ermittlungen aber auch, dass unabhängig davon zwei Männer im Alter von 20 und 23 Jahren im Oktober 2015 sexuelle Kontakte zu dem Mädchen unterhalten hatten. Diese einvernehmlichen Kontakte waren strafbar, da Lisa zu jenem Zeitpunkt noch keine 14 Jahre alt (Schutzalter) gewesen war.[7][8][9] Gegen einen dieser Tatverdächtigen wurde im Februar 2017 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Herstellung kinderpornografischer Schriften Anklage erhoben. Dieser wusste von der Minderjährigkeit des Mädchens und hatte Handy-Videos des Akts verbreitet.[10] Im Juni 2017 wurde er zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre gefordert, die Verteidigung auf eine Bewährungsstrafe bis zu anderthalb Jahren plädiert. Beide Seiten verzichteten nach dem Urteil auf eine Berufung.[11]

Die Behörden, insbesondere die Polizei Berlin, standen wegen ihrer Öffentlichkeitsarbeit im In- und Ausland unter Kritik; unter anderem wurde ihnen eine „Salami-Taktik“ vorgeworfen. Der Polizeisprecher[12] sagte Ende Januar 2016: „In dem Fall konnten wir praktisch alles, was wir wussten, nicht kommunizieren, weil es die Persönlichkeitsrechte des Kindes massiv verletzt hätte“, dies habe „unheimlich viel Raum für Interpretation“ eröffnet.[5]

Als der Polizeireporter der Berliner Zeitung dann das polizeiliche Ermittlungsergebnis verbreitete, der sexuelle Kontakt habe einvernehmlich stattgefunden, wurde der Journalist in sozialen Medien bedroht, woraufhin sein Arbeitgeber erstmals mit Strafanzeigen auf die Hasskommentare im Netz reagierte.[13]

Berichterstattung von russischen Staatsmedien

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Über den Fall berichteten auch russische Medien, die auf Basis von Erzählungen der Tante des Mädchens unkritisch behaupteten, dass angeblich Flüchtlinge Täter der mutmaßlichen Verschleppung seien und die deutschen Ermittlungsbehörden die Tat dementierten und nicht verfolgten. Es stellte sich heraus, dass ein russischer Journalist des russischen halbstaatlichen Fernsehsenders Perwy kanal die Falschdarstellung des Falls als Vergewaltigung in die breitere Öffentlichkeit gebracht hatte. Gegen ihn wurde von der Staatsanwaltschaft Berlin Ende Januar 2016 ein Verfahren wegen Volksverhetzung eingeleitet, das Anfang März 2016 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurde. Ein Konstanzer Rechtsanwalt hatte ihm eine verfälschte Berichterstattung über die Situation in Deutschland und Anstachelung Deutscher russischer Herkunft zum Hass gegen Asylbewerber vorgeworfen. Der Rechtsanwalt, der die Anzeige stellte, stand zeitweilig wegen erhaltener Morddrohungen unter Polizeischutz.[9][14]

Die Berichterstattung über den Fall wird auch in einer Reihe von Fake News gesehen.[15] Andre Wolf, Sprecher von Mimikama, sieht diesbezüglich, dass auch russische Staatsmedien eine Redaktionslinie haben, die bei Medien „nichts Ungewöhnliches“ seien. Der Unterschied liege „jedoch immer in der Ausprägung und der Radikalität einer solchen Linie.“ Der Fall Lisa zeige „hier die Tendenzen der Berichterstattung, von der letztendlich kein Millimeter abgewichen wurde. Gleichzeitig wurde auch der (falsche) Vergewaltigungsvorwurf durch die Medien weiter aufrechterhalten.“ Dieses sei „natürlich insofern gefährlich, wenn sich Menschen auf den Inhalt dieser Medien verlassen und sich somit radikalisieren lassen.“[16] Nachdem die angebliche Vergewaltigung als Lüge entlarvt worden war, identifizierte der russische Staatssender RT diese Richtigstellung der Fakten als „antirussische Propaganda“.[17]

Demonstrationen, politische Instrumentalisierung und diplomatische Verwicklungen

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Eine erste Darstellung der Ereignisse von Lisa F. wurde auch von einer Cousine auf einer Demonstration der NPD wiederholt. Auch der Berliner Ableger der Pegida (Bärgida) rief zu einer Demonstration auf.[18] Ebenso kam es zu einem Übergriff auf ein Asylbewerberheim in Berlin-Marzahn.[6] Später distanzierten sich Eltern sowie Angehörige der Familie und äußerten sich, dass sie sich durch russische Medien und die russische Botschaft sowie „Offizielle“ instrumentalisiert sahen und laut dem russlanddeutschen Verein Vision „Spielball einer politischen Auseinandersetzung“ wurden.[19]

Am 18. Januar 2016 wurde in Berlin-Marzahn eine nicht angemeldete Demonstration von etwa 250 Personen von der Polizei aufgelöst.[20][21] Am 23. Januar 2016 kam es zu einer Demonstration von rund 700 Deutschrussen vor dem Berliner Kanzleramt. Zu weiteren Demonstrationen kam es in einigen Städten Bayerns und Baden-Württembergs.[22] Zur Demonstration aufgerufen hatte der zuvor nicht in Erscheinung getretene und nach eigenen Worten „nationalkonservativ“, von Beobachtern als rechtsextrem verortete[23] „Internationale Konvent der Russlanddeutschen“.[24] Gründer und Vorsitzender ist Heinrich Groth, der von Medien als „putintreu“ und „stramm rechts“ bezeichnet und etwa im rechtspopulistischen Compact zitiert wird. Seiner Organisation fehle jedoch nach Eigenaussagen die Basis.[25][26] Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die dem Bund der Vertriebenen angehört, verurteilte die Demonstrationen. Ihr Vorsitzender Waldemar Eisenbraun warnte vor der Gefahr, dass russischsprachige Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der vormaligen Sowjetunion zunehmend unter den Generalverdacht geraten, als „rechtsorientiert“ oder „fremdgesteuert“ zu gelten.[27]

Am 26. Januar 2016 kam der russische Außenminister Sergei Lawrow auf den Fall des Mädchens zu sprechen und warf den deutschen Behörden Vertuschung vor.[28] Das Vorkommnis wurde durch Äußerungen des russischen Außenministers zu einem Streitpunkt in den deutsch-russischen Beziehungen. Er beschuldigte die deutschen Behörden der Vertuschung einer Vergewaltigung, was eine scharfe Reaktion aus Deutschland nach sich zog.[29]

Der Historiker und damalige Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Hubertus Knabe forderte in der Welt das Bundesamt für Verfassungsschutz auf, russische Einflussversuche in Deutschland besser zu überwachen. Ihn erinnern die „gut organisierten Proteste gegen die frei erfundene Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens“ an die Desinformationskampagnen der Stasi. Es sei kein „Zufall, dass Hunderte von Russlanddeutschen in mehreren deutschen Städten mit gleich aussehenden Plakaten auf die Straße“ gegangen seien.[30]

Bingener und Wehner zeigen mit dem Fall auf, wie „Russland mit Desinformationen in die Innenpolitik eines anderen Landes eingreift“. Sie betonen, dass nur wenige der 2,5 Millionen Russlanddeutschen an den Demonstrationen teilgenommen haben. Das Kanzleramt fragte mit Verwunderung die Botschaft Russlands, warum sie immer noch Außenminister Lawrows Behauptung verbreitete, es werde etwas verheimlicht. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel sprach Putin auf die falschen Behauptungen an, welcher erwiderte, den Fall nicht zu kennen.[31]

Einzelnachweise

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  1. 13-Jährige aus Berlin-Mahlsdorf Gerücht um Vergewaltigung sorgt für Demonstration. In: Berliner Zeitung. 19. Januar 2016, abgerufen am 2. März 2017.
  2. Frank Herold: Fall Lisa aus Berlin-Marzahn Russlands Außenminister verstärkt die Verunsicherung. In: Berliner Zeitung. 26. Januar 2016, abgerufen am 4. Februar 2017.
  3. Andreas Kopietz: Von der Vergewaltigungslüge zum diplomatischen Gewitter. In: Berliner Zeitung. 29. Januar 2016.
  4. Handy-Daten offenbaren Lüge: Lisa verbrachte die Nacht beim Freund. n-tv.de. Abgerufen am 29. Januar 2016.
  5. a b Staatsanwalt: Angeblich vergewaltigtes Mädchen verbrachte Nacht bei Freund. Süddeutsche.de vom 29. Januar 2016, abgerufen am 5. März 2017.
  6. a b Andreas Kopietz: Angebliche Vergewaltigung einer 13-Jährigen aus Marzahn „Sie ist offenbar in falsche Kreise geraten“. In: Berliner Zeitung. 25. Januar 2016, abgerufen am 6. März 2017.
  7. Katrin Bischoff: Russlanddeutsches Mädchen: Der Fall Lisa kommt vor Gericht. In: Berliner Zeitung. vom 28. Februar 2017, abgerufen am 8. März 2017.
  8. Fall Lisa endet mit Bewährung. 20. Oktober 2017;.
  9. a b Staatsanwaltschaft ermittelt gegen russischen Journalisten. (Memento vom 9. Februar 2016 im Internet Archive) In: Rbb Online. 8. Februar 2016.
  10. berliner-kurier.de: Fall Lisa Sexueller Missbrauch: Fast zwei Jahre auf Bewährung für Ismet S. (24)@1@2Vorlage:Toter Link/archiv.berliner-kurier.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2023. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis., 20. Juni 2017, abgerufen am 1. September 2017.
  11. Berliner Zeitung: Fall Lisa aus Marzahn 24-Jähriger zu fast zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, 20. Juni 2017; abgerufen am 30. August 2017
  12. Neuer Pressesprecher bei der Polizei Berlin Polizeimeldung vom 3. Mai 2016, abgerufen am 20. Juni 2017.
  13. HASSKOMMENTARE "Berliner Zeitung" erstattet Strafanzeige gegen Internetnutzer
  14. Verfahren eingestellt. In: Berliner Morgenpost. 20. März 2016.
  15. Was sind Fake News? tagesschau.de vom 12. Dezember 2016, abgerufen am 3. März 2017.
  16. Sind Fake News eher rechts als links? n-tv.de vom 11. Januar 2017, abgerufen am 10. März 2017.
  17. https://www.welt.de/politik/deutschland/article160010031/Wagenknechts-Thesen-koennten-auch-von-rechts-kommen.html
  18. Angeblich entführte 13-Jährige Fall Lisa: Das sind die Fakten N-TV, 27. Januar 2016.
  19. Der „Fall Lisa“ ein Jahr danach. War da was? Deutsche Welle vom 11. Januar 2017, abgerufen am 3. März 2017.
  20. Polizei löst Versammlung gegen angebliche Vergewaltigung auf. (Memento vom 8. Mai 2016 im Internet Archive) rbb-online, abgerufen am 22. Februar 2016.
  21. Staatsanwalt geht von „einvernehmlichem sexuellen Kontakt“ aus. In: Berliner Zeitung. 25. Januar 2016, abgerufen am 22. Februar 2016.
  22. Russlanddeutsche demonstrieren gegen „Ausländergewalt“
  23. Angebliche Vergewaltigung: Das miese Spiel der rechten Russlanddeutschen. In: Berliner Zeitung. vom 25. Januar 2016, abgerufen am 3. März 2017.
  24. Russlanddeutsche ziehen vor das Kanzleramt. (Memento vom 25. Januar 2016 im Internet Archive) rbb-online.de, Meldung vom 23. Januar, korrigierte Fassung vom 24. Januar, abgerufen am 30. Januar 2016.
  25. Christian Neef: Spätaussiedler aus Russland – Putins Propagandist in Deutschland. In: Der Spiegel online vom 6. Februar 2016, abgerufen am 6. März 2017.
  26. Viktor Funk: So wurde der „Fall Lisa“ zum Politikum, Frankfurter Rundschau vom 28. Januar 2016, abgerufen am 6. März 2017.
  27. Warum der „Fall Lisa“ Russlanddeutsche empört. tagesspiegel.de vom 18. Februar 2016, abgerufen am 3. März 2017.
  28. siehe Pressekonferenz von Lawrow, Spiegel-Bericht
  29. spiegel.de
  30. Die Welt: Man hat die reingelassen. Und uns gibt man nichts! Artikel über die Beeinflussung von Russlanddeutschen durch russische Medien, 31. Januar 2016, abgerufen am 4. Februar 2017.
  31. Reinhard Bingener, Markus Wehner: Die Moskau Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. C. H. Beck, München 2023, S. 208/209.