Fluchtpunkt (Weiss)

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Fluchtpunkt ist ein 1962 erschienener Roman von Peter Weiss, der über weite Strecken einem autobiografischen Bericht[1] gleicht, aber auch fiktionale Elemente enthält. Er knüpft inhaltlich an Weiss’ Erzählung Abschied von den Eltern an. Weiss geht in dem Werk seinen Erlebnissen als Emigrant in den Jahren zwischen 1940 und 1947 nach, die vom Kampf um seine Existenz als Künstler geprägt waren.

„Die erste Hälfte des in 59 Abschnitte gegliederten Romans erzählt vor allem von den Auseinandersetzungen um die Rolle der Kunst und des Künstlers in den Kreisen der schwedischen Emigration; die zweite Hälfte schildert überwiegend die verzweifelten ‚Anpassungsversuche‘[2] des Ich-Erzählers in der neuen ‚Heimat‘ Schweden.“[3] Der Bericht stellt dar, wie der Erzähler, „nach längeren Studienaufenthalten in der Schweiz und an der Prager Kunstakademie, im Alter von 24 Jahren in Stockholm eintrifft.“[1] Dort hat er die Absicht, sich als Künstler „jener Bindungslosigkeit auszusetzen, die Familie und Erziehung ihm bisher verwehrten.“[1] Während es dem Ich-Erzähler anfangs noch möglich ist, sich mit der antisemitischen Vernichtungspolitik NS-Deutschlands nicht näher auseinanderzusetzen, ändert sich dies angesichts der Nachrichten über die „Endlösung der Judenfrage“ schon bald grundlegend.[1] Er gerät in eine Krise, aus der er sich erst durch eine spontan unternommene Reise nach Paris befreien kann. Diese Reise löst einen ungeheuren „Schock der Freiheit“[4] in ihm aus. Das neu gewonnene Freiheitsgefühl gelangt am Ende des Berichts in der Erkenntnis zum Ausdruck, „dass ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.“[5]

Literarische Einordnung

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Die literarische Bedeutung des Romans und autobiografischen Rechenschaftsberichts Fluchtpunkt liegt in der „rückhaltlose[n] Offenheit“,[1] mit der der Ich-Erzähler aus großer zeitlicher Distanz heraus den Lebensabschnitt rekapituliert, der den Beginn seiner Emigrationsjahre in Schweden markiert. Der Text, der eine „eigentümliche Mittelstellung zwischen Roman und reiner Autobiographie einnimmt“,[1] beendete für Weiss eine Phase monologisch angelegter Prosatexte, wie Arnd Beise unter Verweis auf den Romanschluss konstatierte: „Die Hinwendung zum Dialog [am Ende von Fluchtpunkt] bedeutet die Abwendung von der literarischen Nabelschau der vorangegangenen Erzählung.“[6]

Weiss selbst stand dem veröffentlichten Buch später durchaus mit einiger Skepsis gegenüber. In einem seiner Notizbücher findet sich zu Fluchtpunkt der Satz: „... mehr als eine Aussage über meine Wahnvorstellungen und Verirrungen, was es eigentlich hätte sein sollen, wurde das Buch zu einer Beweisführung meiner vermeintlichen Ausdauer und Stärke und der Folgerichtigkeit meiner Handlungen.“[7]

Dennoch, nachdem Weiss’ eigene Biografie narrativ gebannt schien, zeichnete sich die weitere literarische Tätigkeit des Autors durch eine Verlagerung auf historische Stoffe aus.

Figuren des Romans und ihre realen Vorbilder

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Peter Weiss hat für die meisten literarischen Figuren seines Romans, die reale Personen zum Vorbild haben, nicht deren Realnamen, sondern Pseudonyme eingesetzt. Einige der betreffenden Realnamen lassen sich Weiss’ Kopenhagener Journal bzw. dem Kommentar der Kritischen Ausgabe dieses Journals[8] entnehmen:

  • Max Bernsdorf → Max Barth
  • Anatol → Endre Nemes
  • Hoderer → Max Hodann
  • Baahl → Dr. Iwan Bratt, Psychoanalytiker
  • Edna → Helga Henschen, Malerin und Bildhauerin, verheiratet mit Weiss von 1943 bis 1947
  • Hieronymus → Erik Heinertz, aus der Schweiz stammender Nationalökonom und Maler
  • Cora → Carlota Dethorey, verheiratet mit Weiss kurzzeitig in 1949

Ausgaben

  • Fluchtpunkt. Roman. Mit vier Collagen von Peter Weiss. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.

Sekundärliteratur

  • Rainer Gerlach: Isolation und Befreiung. Zum literarischen Frühwerk von Peter Weiss. In: Rainer Gerlach (Hrsg.): Peter Weiss. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. S. 147–181.
  • Nils Göbel: „Wir können keine Form erfinden, die nicht in uns vorhanden ist“. Gattungsfragen, Intertextualität und Sprachkritik in „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“ von Peter Weiss. Marburg: Tectum 2007.
  • Steffen Groscurth: Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik. Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie. De Gruyter-Verlag, Boston/Berlin 2014, ISBN 978-3-11-034554-4.
  • Sepp Hiekisch: Zwischen surrealistischem Protest und kritischem Engagement. Zu Peter Weiss’ früher Prosa. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik, Band 37. Peter Weiss. 2., völlig veränd. Auflage. München: edition text + kritik 1982. S. 22–38.
  • Michaela Holdenried: Mitteilungen eines Fremden. Identität, Sprache und Fiktion in den frühen autobiographischen Schriften „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“. In: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.): Peter Weiss: Leben und Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 155–173.
  • Andreas Solbach: Narzißtisches Bekenntnis bei Peter Weiss. Strategien der Verleugnung in der autobiographischen Prosa. Zu „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“. In: Literatur für Leser 24. Frankfurt am Main etc.: Peter Lang 2001. Heft 1. S. 14–36.
  • Rüdiger Stehlein: Ein surrealistischer „Bilddichter“. Visualität als Darstellungsprinzip im erzählerischen Frühwerk von Peter Weiss. In: Rudolf Wolff (Hrsg.): Peter Weiss. Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier 1987. S. 60–87.

Einzelnachweise

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  1. a b c d e f Hans-Horst Henschen: Fluchtpunkt, in: Kindlers Literaturlexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Bd. 17 Vil–Z. Metzler, Stuttgart und Weimar 2009, S. 302
  2. Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. In: Peter Weiss. Prosa 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (Peter Weiss. Werke in sechs Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss, 2). S. 143–294, hier S. 197
  3. Arnd Beise: Peter Weiss. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002. S. 217
  4. Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. In: Peter Weiss. Prosa 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 143–294, hier S. 293
  5. Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. In: Peter Weiss. Prosa 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 143–294, hier S. 294
  6. Arnd Beise: Peter Weiss. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002. S. 221
  7. Peter Weiss: Notizbücher, 1960–1971, Erster Band. Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1982. S. 96–97
  8. Peter Weiss: Das Kopenhagener Journal, Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte. Göttingen: Wallstein Verlag 2006