Frauenrechte in Kurdistan
Der Artikel Frauenrechte in Kurdistan befasst sich mit der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Stellung der Frauen in den kurdischen Siedlungsgebieten.
Geschichte der Stellung der kurdischen Frauen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Şerefhan, ein Autor des 16. Jahrhunderts, berichtet über die Frauen der seinerzeit herrschenden kurdischen Klasse. Demnach waren die Frauen vom öffentlichen Leben und der Ausübung von Herrschaft ausgeschlossen. Es herrschte gemäß islamischer Tradition Polygamie und Frauen wurden bei kriegerischen Auseinandersetzung als Kriegsbeute betrachtet. Der Autor erwähnt allerdings auch drei kurdische Frauen, die nach dem Tod ihrer Ehemänner interimsweise die Herrschaft ausübten, bis die Söhne die Herrschaft übernehmen konnten. Evliya Çelebi erwähnte im 17. Jahrhundert, dass es kurdische Frauen nicht gestattet war, alleine zum Markt zu gehen, es aber gelegentlich geschah, dass Frauen die Macht ausübten.[1] Einflussreiche Frauen in der kurdischen Geschichte der letzten Jahrhunderte waren unter anderem: Fürstin Adela von Jaff,[2] Fürstin Halima von Hakkâri, Prinzessin Fatma, die ein jesidisches Klanoberhaupt war, oder Fürstin Maryam von Nehri, welche während des Ersten Weltkrieges mit dem Russischen Kaiserreich Verhandlungen führte.[3]
Die Fremdheit der Frau gegenüber der Abstammungsgruppe, in die sie einheiratet, und das Misstrauen gegenüber der Frau und ihrer Sexualität als „Inkarnation des Unbeherrschbaren“ (Fatima Mernissi) begründen einen Komplex von Regeln, die der Frau eine benachteiligte Stellung zuweisen.[4] Bei der Eheschließung erscheint die Ehe mit der Cousine, besonders die von väterlicher Seite (Sorani: kiç-î mam) als ethische Norm: Frauen oder Schwiegertöchter, die der gleichen Abstammungsgruppe angehören, gelten als am wenigsten unrein.
Besonders unter nicht-tribalen Kurden kommt es auch zu jin be jin-Ehen („Frau gegen Frau“), bei denen zwei Männer je eine Schwester oder Tochter „tauschen“; Grund hierfür ist oft der Wunsch, Brautgeld (mahr) zu sparen. Andere Formen der Eheschließung sind gaure be piçuk („groß gegen klein“), wo eine Frau gegen das Versprechen eines zum Zeitpunkt der Ehe noch nicht heiratsfähigen Mädchens in eine andere Familie gegeben wird, und jin be xwên („Frau gegen Blut“), wo eine Frau verheiratet wird, um eine Blutfehde zu verhindern; hierbei bleibt aber bei allen Beteiligten ein Gefühl der Schande zurück,[5] da es sich nach islamischem Recht hierbei um Konkubinat handelt. Das Brautgeld, das persönliches Eigentum der Frau wird und alleine ihrer Verfügungsgewalt untersteht, ist eine zwingende Voraussetzung für eine legale Ehe.[6]
Heutige Situation nach Regionen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nordkurdistan (Südosten der Türkei)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In den kurdischen Gebieten der Türkei gelten türkische Gesetze, aufgrund der Verhinderung einer autonomen Selbstverwaltung der Kurden.[7] Dennoch hat auch hier der Einfluss der BDP, später HDP und heute DEM-Partei im Südosten des Landes zu außergewöhnlichen Situationen geführt. So kandidieren in den kurdischen Gebieten jeweils zwei Personen für denselben Posten des Bürgermeisters (Ko-Bürgermeister), eine Frau und ein Mann, obwohl das türkische Kommunalrecht dies nicht anerkennt. Allerdings hatten nur 79 % der von der BDP 2014 gewonnenen 97 Bürgermeisterämter eine gemischte Doppelspitze und nur 24 % der Frauen waren als tatsächliche Kandidaten gesetzt.[8]
In der HDP und DEM-Partei ist die Spitze ebenfalls doppelt besetzt, zudem sind sie die einzigen Parteien in der Türkei mit einer Frauenquote. Der gesellschaftliche Wandel wird auf die feministische Ideologie des inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan zurückgeführt.[9]
Ostkurdistan (iranische Provinz)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Region Kurdistans, die in Iran liegt, gelten die Gesetze der Islamischen Republik Iran. Amnesty International veröffentlichte 2021, dass Frauen in Iran Diskriminierung erfahren im Bereich der Eheschließung, Scheidung und Erbschaftsangelegenheiten, beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu politischen Ämtern.[10] Beispielsweise dürfen Frauen nicht als Präsident kandidieren und müssen sich in der Öffentlichkeit an eine strenge Kleiderordnung halten. Wenn gegen die öffentliche Ordnung verstoßen wird, drohen den Frauen hohen Geld- und Haftstrafen.[11] Die im Deutschen sogenannte Sittenpolizei wurde im Jahr 2005 zu Kontrolle dessen eingeführt. Von Festnahmen dieser Einheiten sind vorwiegend Frauen betroffen.[12] Dabei wenden sie häufig starke Gewalt an und immer wieder kommen Frauen dabei ums Leben. Im September 2022 starb so auch Jîna Mahsa Amini. Ihr Tod löste einen großen Protest unter der Parole Jin, Jiyan, Azadî (deutsch „Frauen, Leben, Freiheit“) aus, erst in den kurdischen Gebieten und später in der gesamten Republik.[13][14][15]
Südkurdistan (Autonome Region Kurdistan)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Position der Frau innerhalb der Autonomen Region Kurdistan unterscheidet sich vom Rest des Irak. Es besteht eine Frauenquote von 30 % im kurdischen Regionalparlament (im nationalen Parlament besteht eine Frauenquote von 25 %). Mit verschiedenen Gesetzesinitiativen sollen Frauenrechte verbessert werden. Während zum Teil positive Tendenzen in der Entwicklung der Frauenrechte im kurdischen Teil des Iraks gesehen werden[16][17], wird aber auch kritisiert, dass sich praktisch für Frauen wenig geändert habe[18]. Unter Mitwirkung der Regierung in Erbil konnten mehr Frauenhäuser und Frauenrechtsorganisationen gegründet werden als im Rest Iraks.[19]
Probleme mit Anzeigen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine präzise Aussage über häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen kann bis dato nicht getroffen werden. Es werden nur selten Meldungen bei der Polizei gemacht. Dies liegt vor allem an den örtlichen kulturellen Gegebenheiten, welche die Erwähnung von Problemen des eigenen Haushaltes als unfein ansehen.[20]
Gegen sexuelle Unterdrückung der Frauen in Teilen der kurdischen Gesellschaft kämpfen immer mehr kurdische Organisationen an, welche versuchen die Themen zu enttabuisieren, wie WADİ oder HAUKARI e. V, ICAHK, sowie NWE, die von der deutschen Frauenrechtsorganisation medica mondiale gefördert wird.[21][22][23]
Rechtliche Situation
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Klageerhebungen gegen häusliche Gewalt und allgemein gegen Gewalt an Frauen und Mädchen treffen hier auf verschiedene Barrieren. Es gibt bei der kurdischen Polizei nur wenige weibliche Beamte.
Westkurdistan (Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das 2018 zu „Autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien“ umbenannte Gebiet Westkurdistan stellt einen Gegensatz dar zu den umliegenden politischen Systemen. Während der Kämpfe gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Bürgerkrieg in Syrien erregten vor allem die kurdischen Kämpferinnen von der YPJ weltweite mediale Aufmerksamkeit.[24] Als sie den IS vertrieben hatten, riefen sie in der Stadt Kobanê 2012 eine "Revolution" aus mit dem ernannten Ziel eine gleichberechtigende Demokratie aufzubauen.[25] In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur erklärt die promovierte, kurdische Soziologin Dilar Dirik aus Oxford:
„Wenn man den Begriff Revolution hört, denkt man natürlich immer erst an einen dramatischen Punkt, nach dem alles anders wird. Aber ich denke, Frauenrevolution [...] ist anders zu verstehen. Denn allgemein wird die Revolution nicht als ein Tag definiert, nachdem alles anders wird, sondern ein sehr langer gesellschaftlicher Prozess, der Jahrzehnte lang oder Jahrhunderte lang dauern kann.“[25]
Auswirkungen dieser Entwicklungen sind die Errichtung des Frauendorfs Jinwar (dt. Frauengebiet/-siedlung) in der Nähe der Stadt Amûdê, Frauenwerkstätten wie beispielsweise in Heseke und der Frauenfernsehsender Jin-TV.[26][27][28] Das politische System orientiert sich am demokratischen Konföderalismus, mit dem Anspruch basisdemokratisch und nicht staatlich zu sein.[25] In allen Bereichen gilt eine Frauenquote von 40 %, zusätzlich existiert zu jeder Institution eine weitere in der ausschließlich Frauen organisiert sind.[29] Die besondere Achtung der Rechte der Frauen spiegelt der Gesellschaftsvertrag im Artikel 26 wieder:
„Frauen besitzen das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen (…) und entscheiden selbst über ihre Belange.“[30] Frauen und Männer müssten „in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens gleich“ sein, zitierte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte aus dem Erlass der Provinz Heseke.[31]
Damit orientiert sich die Selbstverwaltung an der politischen Perspektive von Abdullah Öcalan, des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans, der von der Türkei verurteilt worden ist für lebenslängliche Isolationshaft.[32]
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Nada Macourant (Le Monde diplomatique): Kurdische Kämpferinnen – In der Autonomen Region kommt die Emanzipation nur langsam voran vom 9. Juli 2015.
- N. Deniz Bilgin: Die Tragische Lage der Frauen in Südkurdistan (Nord-Irak).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Joseph, Suad; Najmābādi, Afsāneh (Hrsg.): (2003), "Kurdish Women", Encyclopaedia of women & Islamic cultures, Band 2. Boston MA USA: Brill Academic Publishers, ISBN 90-04-13247-3, S. 358.
- ↑ pukmedia.com ( des vom 16. November 2018 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ W. Jwaideh: The Kurdish national movement: its origins and development. Syracuse University Press, 2006, S. 44.
- ↑ Andrea Fischer-Tahir: »Wir gaben viele Märtyrer«. Widerstand und kollektive Identitätsbildung in Irakisch-Kurdistan. ISBN 978-3-89771-015-3, Münster 2003, S. 34 f.
- ↑ Andrea Fischer-Tahir: »Wir gaben viele Märtyrer«. Widerstand und kollektive Identitätsbildung in Irakisch-Kurdistan. ISBN 978-3-89771-015-3, Münster 2003, S. 58 f.
- ↑ Otto Spies: Mahr. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Band VI. Brill, Leiden 1991, S. 78b–80a.
- ↑ n-tv NACHRICHTEN: Türkei setzt drei Bürgermeister im kurdisch geprägten Südosten des Landes ab. Abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Zeynep Gürcanalı: İşte seçilen kadın başkanlar. In: Hürriyet. 2. April 2014, abgerufen am 23. Juli 2015.
- ↑ Wie die PKK von Stalin zur Mülltrennung kam
- ↑ Iran 2021. Abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Iran bringt umstrittenes Kopftuchgesetz auf den Weg. Abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Bozorgmehr Sharafedin: Rouhani clashes with Iranian police over undercover hijab agents. In: Reuters. 20. April 2016, abgerufen am 16. November 2024 (englisch).
- ↑ Solmaz Khorsand: Kurdistan, wo der Widerstand zu Hause ist. In: republik.ch. 17. Februar 2023, abgerufen am 24. Februar 2023.
- ↑ @NatGeoDeutschland: „Frau, Leben, Freiheit“: Die Proteste in Iran und ihre Geschichte. 13. Oktober 2022, abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Sittenpolizei im Iran: Der Staat hat Angst. In: ZEIT ONLINE ze.tt. (zeit.de [abgerufen am 16. November 2024]).
- ↑ Gender equality in Iraq and Iraqi Kurdistan. In: Middle East Centre. 5. Januar 2018, abgerufen am 7. März 2024.
- ↑ Hooshmand Alizadeh, Josef Kohlbacher, Sara Qadir Mohammed, Salah Vaisi: The Status of Women in Kurdish Society and the Extent of Their Interactions in Public Realm. In: SAGE Open. Band 12, Nr. 2, April 2022, ISSN 2158-2440, S. 215824402210964, doi:10.1177/21582440221096441 (sagepub.com [abgerufen am 7. März 2024]).
- ↑ Kurdish tribal leader breaks taboo by accepting female fighters. 1. Juli 2017, abgerufen am 7. März 2024.
- ↑ Al-Abali, Reem (2013). Frauen in der Islamischen Welt ( des vom 19. Januar 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. . Deutsches Orient Institut. p. 57.
- ↑ International Rescue Committee (2012). Working Together to Address Violence Against Women and Girls in Iraqi Kurdistan ( des vom 24. September 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , p.6. – Chief of a police station Erbil
- ↑ Irak: Frauenzentrum in Halabja stärkt geflüchtete Frauen – unterstützt von medica mondiale. medica mondiale, 29. April 2016, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 9. November 2017; abgerufen am 22. Juni 2017. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Website des in Kurdistan-Irak tätigen Vereins HAUKARI e. V. ( vom 21. Juni 2007 im Internet Archive) (deutsch)
- ↑ Internationaler Frauenverein ICHAK: Stop honour killing ( des vom 21. Januar 2012 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (englisch)
- ↑ Kurdische Kämpferinnen als ein entscheidender Faktor gegen IS
- ↑ a b c deutschlandfunkkultur.de: Frauenrevolution in Nordsyrien - Mit Willen und Waffen. 8. November 2022, abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Loumay Alesali,Christina Zdanowicz: These Syrian women built a female-only village to escape from ISIS and war. 4. Mai 2019, abgerufen am 16. November 2024 (englisch).
- ↑ Linda Peikert: Jin Jiyan Azadî. Abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Home. Abgerufen am 16. November 2024 (englisch).
- ↑ Syriens kurdischer Norden: Auf dem Weg zur Selbstverwaltung? Deutschlandfunk, 12. März 2014
- ↑ Geschlechtergerechtigkeit | Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien. Abgerufen am 16. November 2024.
- ↑ Sylvia Westall, Mark Heinrich: Self-ruling region in Syria issues women's rights decree: monitor. Reuters, 9. November 2014, abgerufen am 23. Juli 2015.
- ↑ Are Leftist, Feminist Kurds About to Deliver the Coup de Grâce to ISIL in Syria? ( des vom 22. Juli 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.