Gender Bias

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Gender-Bias)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Gender Bias (von englisch gender „soziales Geschlecht“ und bias „Vorurteil“) oder geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt bezeichnet eine verzerrte Wahrnehmung durch sexistische Vorurteile und Stereotype. Gedankliche Annahmen, Eigengruppenbevorzugung und statistische Fehler können Attributionsfehler und Bestätigungsfehler erzeugen, die zu einer falschen Darstellung geschlechtsspezifischer Verhältnisse führen.

Bei der Betrachtung des Gender Bias lassen sich drei Formen unterscheiden, die getrennt voneinander oder auch gleichzeitig auftreten können: Androzentrismus, Geschlechterblindheit und Doppelte Bewertungsmaßstäbe.[1]

Androzentrismus

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In patriarchalen Gesellschaften wird der Mann in vielen Zusammenhängen unkritisch als Norm wahrgenommen, was zu einer fehlerbehafteten Betrachtungsweise führen kann, wenn Sichtweisen, Verhältnisse und Merkmale, die vorrangig Männer betreffen, auf alle Menschen bezogen verallgemeinert werden. Eine solche Übergeneralisierung entsteht in der wissenschaftlichen Forschung, wenn allgemeine Schlüsse auf der Grundlage einer nicht repräsentativen Datenerhebung gezogen werden. Gelten Männer als Norm, lassen sich zudem die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten anderer Geschlechter lediglich als quantitative Abweichung abbilden. Ein besonderer Aspekt des Androzentrismus ist der Paradoxe Gynozentrismus, der dazu führen kann, dass Männer in Studien zu Bereichen, die wie die Care-Arbeit als ‚typisch weiblich‘ gelten, nicht berücksichtigt werden.[1]

Geschlechterblindheit

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von Geschlechterblindheit oder auch Geschlechtsinsensibilität wird gesprochen, wenn das biologische oder soziale Geschlecht als Variable keine Berücksichtigung findet. Beim Familialismus werden forschungsrelevante Informationen, die Familienmitglieder je nach Geschlecht unterschiedlich betreffen, vernachlässigt, wenn beispielsweise „Haushalt“ oder „Eltern“ die kleinste Analyseeinheit sind. Bei der Dekontextualisierung wird nicht berücksichtigt, dass sich ähnliche Situationen auf die verschiedenen Lebensumstände der Geschlechter unterschiedlich auswirken können. Ebenso können Gleichheitsannahmen in Bereichen mit geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Voraussetzungen oder Bedingungen zu Verzerrungen führen.[1]

Doppelte Bewertungsmaßstäbe

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werden gleiche Eigenschaften oder Verhaltensweisen abhängig vom Geschlecht unterschiedlich bewertet, weist dies auf offene oder verdeckte Doppelstandards hin. Forschungsergebnisse können verzerrt werden, wenn identisches Verhalten aufgrund von geschlechtsstereotypen Zuschreibungen unterschiedlich beurteilt wird. Werden die Geschlechter als gänzlich voneinander getrennte Gruppen untersucht, können Geschlechterdichotomien auftreten, sobald Differenzen zwischen den Geschlechtern überspitzt und Gemeinsamkeiten ausgeblendet werden. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die meisten Persönlichkeitsmerkmale bei allen Menschen mehr oder weniger ausgeprägt vorkommen.[1]

Medizinische Diagnostik

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu Verzerrungen kann die Zuschreibung von Geschlechterstereotypen führen, deren Geltung im Einzelfall nicht überprüft wird. So werden zum Beispiel Unterschiede in der beobachteten Häufigkeit psychischer Erkrankungen (etwa Depressionen, ADHS) bei Männern und Frauen auch auf stereotypen Rollenzuweisungen bei der Diagnostik zurückgeführt.[2]

Statistische Fehler im Vergleich der Geschlechter können durch andere, nicht berücksichtigte geschlechterspezifische Eigenschaften entstehen. So werden zum Beispiel epidemiologische Daten, die einen höheren Anteil depressiver Erkrankungen bei Frauen zeigen, auch dadurch erklärt, dass Frauen bei seelischen Problemen schneller professionelle Hilfe aufsuchten, während Männer solche Probleme eher versteckten. Ähnliche Verzerrungen durch einen geschlechtsspezifischen statistischen Deckeneffekt werden bei der unterschiedlichen Geschlechterverteilung von ADHS diskutiert: Der biologische Wesensunterschied zwischen Männern und Frauen wird nicht berücksichtigt, somit erfüllen Männer leichter die diagnostischen Kriterien einer „Störung“.[3]

Geschlechterbezogene Sprache

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Viele Sprachen benutzen kulturbedingt für Aussagen über Menschen und über Männer dieselben Formulierungen: So kann das Wort „der Leser“ sowohl als spezifisches als auch als generisches Maskulinum eingesetzt werden. Im letzteren Falle sind Leserinnen mitgemeint (inkludiert), im Fall eines spezifischen Maskulinums nicht.[4] Ein Gender Bias kann im Deutschen also dadurch entstehen, dass eine generisch intendierte Formulierung spezifisch interpretiert wird. Hinzu kommen Bezeichnungen für Personengruppen mit einer auf das Geschlecht bezogen exkludierenden Begriffsgeschichte (z. B. Hauptmann, Hostess oder Hebamme). In vielen anderen Sprachen wird das Problem der Übergeneralisierung dadurch verschärft, dass es nur ein Wort für die beiden deutschen Wörter „Mensch“ und „Mann“ gibt.[5][6][7] Geschlechterinsensibilität kann aber auch als eine Form der Geschlechterneutralität beabsichtigt sein, um eine sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter zu praktizieren.

Künstliche Intelligenz und Robotik

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In algorithmischen Systemen können Gender Biases auf drei Ebenen auftreten und zu einer Weiterführung oder Verstärkung von Diskriminierung beitragen: Auf Ebene der Eingangsdaten, die Geschlechterstereotype reproduzieren und nicht alle Geschlechter in ausreichendem Maße repräsentieren (Gender Data Gap), im Design des Algorithmus, das durch geringe Diversität der IT-Branche geprägt ist und im Anwendungskontext, wenn bspw. männliche Chatbots im Bereich der Mechanik kompetenter wahrgenommen werden als weibliche Chatbots, weil sie anthropomorphisiert und Geschlechterstereotype auf sie angewendet werden.[8]

  • Judith Fuchs, Kris Maschewsky, Ulrike Maschewsky-Schneider: Zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern: Erkennen und Vermeiden von Gender Bias in der Gesundheitsforschung. Deutsche Bearbeitung eines vom kanadischen Gesundheitsministerium herausgegebenen Handbuchs, erarbeitet von Margrit Eichler et al. Dezember 1999 (= Berliner Zentrum Public Health [Hrsg.]: Blaue Reihe). 2002, ISSN 0949-0752 (genderkompetenz.info [PDF; abgerufen am 5. Januar 2022]).
  • Irmtraud Fischer: Gender-faire Exegese: Gesammelte Beiträge zur Reflexion des Genderbias und seiner Auswirkungen in der Übersetzung und Auslegung von biblischen Texten. Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-7244-0.
  • Daniela Scharf: Der Einfluss von Big Data auf den Gender Bias. Studienarbeit im Fachbereich Medien / Kommunikation - Theorien, Modelle, Begriffe (= Akademische Schriftenreihe Band V1066505). GRIN Verlag, München 2021, ISBN 978-3-346-48600-4.
  • Hugo Mercier: Confirmation bias – Myside bias. In: Rüdiger F. Pohl (Hrsg.): Cognitive illusions: Intriguing phenomena in thinking, judgment and memory. 2. Auflage. Routledge, London / New York 2017, ISBN 978-1-138-90341-8, S. 99–114.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. a b c d Jutta Kühl: Geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt (Gender Bias). In: genderkompetenz.info. Humboldt-Universität zu Berlin, abgerufen am 4. Januar 2022.
  2. Meldung: Depressionen: Frauen erkranken weit häufiger als Männer. In: Thieme Magazin. 2013, abgerufen am 26. Oktober 2019.
  3. Kapitel 2: Wie geht es Männern? In: Robert Koch-Institut (Hrsg.): Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Königsdruck, Berlin 2014, ISBN 978-3-89606-224-6, S. 12–97, hier S. 66 (PDF: 2,3 MB, 86 Seiten auf rki.de); Zitat: „Jungen wird danach häufiger eine diagnostische Abklärung hinsichtlich ADHS empfohlen.“
  4. Vgl. dazu Geschlechtergerechte Sprache
  5. Wendy Martyna: Beyond the “He/Man” Approach: The Case for Nonsexist Language. In: Signs. Band 5, Nr. 3, 1980, S. 482–493 (englisch; doi:10.1086/493733).
  6. Mykol C. Hamilton: Using masculine generics: Does generic he increase male bias in the user's imagery? In: Sex Roles. Band 19, Nr. 11/12, 1988, S. 785–799 (englisch; doi:10.1007/BF00288993).
  7. Allyson Julé: A Beginner’s Guide to Language and Gender. Multilingual Matters, Buffalo NY 2008, ISBN 978-1-84769-056-2, S. 13 (englisch; Leseprobe in der Google-Buchsuche).
  8. Ruth Strobl: Gender, Künstliche Intelligenz und Robotik: Wie Künstliche Intelligenz und Roboter Gender Stereotype und Gender Biases weiterführen. Thesis Hochschulschrift, Wien 2021, S. 2–4, doi:10.34726/hss.2021.79583.