Geschichte der Systematik der Nagetiere

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Systema Naturae

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In der Systema Naturae führte Carl von Linné 1758 die Ordnung Glires ein.

Carl von Linné fasste in seiner Systema Naturae alle Nagetiere einschließlich der Hasenartigen in der Ordnung Glires („Bilche“; von latein glisBilch“) zusammen. Die Ordnung war in mehrere Gattungen unterteilt. In der ersten Ausgabe von 1735 enthielt sie neben Hystrix, Lepus, Sciurus, Castor und Mus noch die Gattung Sorex und beinhaltete damit auch Spitzmäuse. In der zweiten Ausgabe von 1740 wurden diese wieder entfernt, dafür wurden in der sechsten Ausgabe von 1748 die Beutelratten als Gattung Didelphis hinzugefügt.

In der zehnten Ausgabe von 1758 benutzte Linné die von ihm schon seit 1753 für Pflanzen verwendete zweiteilige Schreibweise erstmals auch für die Benennung von Tierarten. Er entfernte die Beutelratten wieder und fügte stattdessen mit der Gattung Rhinoceros die Nashörner hinzu. Die Anzahl der Gattungen betrug nun sechs, die 36 Arten waren überwiegend in Europa beheimatet:

In der zwölften Ausgabe von 1766[1] entfernte Linné die Nashörner wieder. Dafür nahm er mit der Gattung Noctilio einen Teil der Fledermäuse auf. Auch das Fingertier wurde bei seiner Erstbeschreibung durch Johann Friedrich Gmelin 1788[2] in der 13. Ausgabe auf Grund seiner nachwachsenden Schneidezähne als Sciurus madagascariensis zu den Glires gestellt.[3][4]

Rodentia und Lagomorpha

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Auch Hasenartige wie der Schneehase wurden ursprünglich bei den Nagetieren eingeordnet.

Felix Vicq d’Azyr verwendete 1792 für die Nagetiere einschließlich der Hasenartigen die Bezeichnung Rodentes („Nager“; von latein. roderenagen“). Letztere fasste Johann Karl Wilhelm Illiger 1811[5] als Duplicidentata („Doppelzähner“; von latein. duplicis „doppelt“ und dens „Zahn“) innerhalb der Nagetiere im Rang einer Familie zusammen. Georges Cuvier unterteilte die Ordnung „Rongeurs“ („Nager“; von franz. ronger „nagen“) 1817[6] in

  • Nagetiere mit Schlüsselbein („Rongeurs à clavicules“) einschließlich des Fingertiers und
  • Nagetiere ohne Schlüsselbein („Rongeurs san clavicules“) einschließlich der Hasenartigen.

Schon ein Jahr zuvor hatte er die heutzutage als nomen oblitum geltenden Bezeichnungen Claviculata und Non-Claviculata für die beiden Gruppen verwendet. Auch John Edward Gray ordnete 1821[7] seiner Ordnung Rosores neben Nagetieren die Hasenartigen und das Fingertier zu. Die Bezeichnung Rodentia geht zurück auf Thomas Edward Bowdich, der Nagetiere und Hasenartige 1821[8] als zusammengehörig erkannte und deren Merkmale beschrieb.

Biber wurden bald mit den Hörnchen als Sciuromorpha zusammengefasst.

George Robert Waterhouse beschrieb 1839[9] unterschiedliche Ausprägungen bei der Kaumuskulatur der Nagetiere. Darauf aufbauend spaltete Johann Friedrich von Brandt 1855[10] die Nagetiere in die Ordnungen

  • Sciuromorpha („Hörnchenartige“; von altgriech. σκιά skia „Schatten, Umriss“, ούρα oura „Schwanz, Schweif“ und μορφή morphē „Gestalt, Form“),
  • Myomorpha („Mäuseartige“; von altgriech. μυς mys „Maus“) mit Mäuseartigen, Springmäusen, Bilchen und Taschennagern,
  • Hystrichomorpha („Stachelschweinartige“; von altgriech. ύστριξ ystrix „Stachelschwein“) sowie
  • Lagomorpha („Hasenartige“; von altgriech. λαγώς/λαγός lagōs/lagos „Hase“).

Auch nach der Veröffentlichung von Charles Darwins The Origin of Species (Die Entstehung der Arten) 1859 wurde diese Aufteilung beibehalten. So unterteilte Ernst Haeckel 1866[11] und 1868[12] seine Ordnung Rodentia („Nagethiere“) in die Unterordnungen Sciuromorpha, Myomorpha, Hystrichomorpha und Lagomorpha. Das Chiromys madagascariensis genannte „Fingerthier“ betrachtete er als Übergangsform zwischen Halbaffen und den davon abstammenden Nagetieren und die Sciuromorpha („Eichhornartige“) als diesem am nächsten stehend.

Simplicidentata und Hystricognathi

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Die von Wilhelm Lilljeborg 1866[13] eingeführte Bezeichnung Simplicidentati („Einfachzähner“; von latein. simplicis „einfach“ und dens „Zahn“) übernahm Edward R. Alston 1876[14] und teilte die Ordnung Glires daraufhin nach ihren Nagezähnen in

Auch William Henry Flower teilte 1883[16] seine Ordnung Rodentia in diese beiden Unterordnungen. Max Schlosser verwendete 1884[17] die heutzutage als nomen oblitum geltenden Bezeichnungen Pliodonta für Hasenartige und Miodonta für Nagetiere und Haeckel stellte 1895 die Hasenartigen als Palarodentia den Nagetieren gegenüber.

Tycho Tullberg berücksichtigte 1899[18] zusätzlich zur Kaumuskulatur noch die Struktur des Unterkiefers und unterteilte die Unterordnung Simplicidentati in die zwei Tribus

  • Sciurognathi („mit Hörnchenkiefer“; von altgriech. skia „Schatten“, oura „Schwanz“ und gnathos „Kiefer“) mit den Untertribus Sciuromorphi und Myomorphi sowie
  • Hystricognathi („mit Stachelschweinkiefer“; von altgriech. hystrix „Stachelschwein“) mit den Untertribus Bathyergomorphi und Hystrichomorphi.

Auch Max Wilhelm Weber stellte 1904[19] die Simplicidentata als Unterordnung auf. Die Unterteilung in Simplicidentata und Duplicidentata findet sich auch bei William King Gregory 1910[20] der die Ordnung Glires einem Taxon Rodentia zuordnete. Auf Webers Ergebnissen basiert auch die von Richard Lydekker 1911 in der Encyclopædia Britannica veröffentlichte Systematik der Nagetiere (Ordnung Rodentia oder Glires):

Später wurden Stachelschweinverwandte wie das Gemeine Meerschweinchen den übrigen Nagetieren als Hystricognathi gegenübergestellt.

Hasenartige sind keine Nagetiere

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James Williams Gidley stellte 1912[21] Nagetiere und Hasenartige erstmals in die separaten Ordnungen Rodentia und Lagomorpha. Er hielt beide Gruppen für nicht näher miteinander verwandt und vermutete stattdessen eine Verwandtschaft zwischen Hasenartigen und Paarhufern. Dabei stützte er sich auf äußerliche Ähnlichkeiten mit einigen Paarhufern aus dem Känozoikum, der Art die Nahrung zu kauen sowie Ähnlichkeiten bei der Struktur der Knöchel.[22]

Meerschweinchen sind Nagetiere

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Das Meerschweinchen besitzt einige Besonderheiten im Vergleich zu anderen Säugetieren.

In der provokatorischen Veröffentlichung Is the Guinea-Pig a Rodent? („Ist das Meerschweinchen ein Nagetier?“) stellten Dan Graur, Winston A. Hide und Wen-Hsiung Li im Juni 1991 in der Zeitschrift Nature die Hypothese auf, dass die Meerschweinchenverwandten nicht verwandt mit den Mäuseverwandten seien und die Nagetiere keine monophyletische Gruppe bilden. Die Meerschweinchenverwandten hätten sich vor den Primaten und Paarhufern von den Mäuseverwandten getrennt und sie (oder auch die Stachelschweinverwandten im Ganzen) seien in den Rang einer Ordnung zu heben. Gestützt wurde dies durch phylogenetische Untersuchungen mittels Sequenzanalyse nach der Maximum-Parsimony-Methode von bekannten Daten der Aminosäuresequenz von 15 Proteinen. Die drei verwiesen auch auf schon früher festgestellte morphologische und molekulare Besonderheiten des Meerschweinchens im Vergleich zu anderen Höheren Säugetieren. So unterscheide sich sein Insulin in anabolischen und das Wachstum unterstützenden Aktivitäten und seiner Fähigkeit Hexamere zu bilden von dem anderer Säugetiere. Da sich nach anderen Untersuchungen die Mäuseverwandten schon früher von den Raubtieren, Hasenartigen, Paarhufern und Primaten abspalteten als sich diese voneinander trennten, hielten die drei auch eine frühe Abspaltung der Meerschweinchenverwandten innerhalb der Höheren Säugetiere für möglich.[23]

Graur, Hide und Li bestätigten im April 1992 zusammen mit Andrey Zharkikh und im Mai/Juni 1992 zusammen mit Zharkikh und Din-Pow Ma auf der Basis von 18 Proteinsequenzen die Hypothese einer wahrscheinlichen Polyphylie der Nagetiere. Demnach hätten sich die Meerschweinchenverwandten innerhalb der Höheren Säugetiere schon früh abgespalten, nämlich bevor sich Mäuseverwandte, Hasenartige, Primaten, Fledertiere, Paarhufer und Raubtiere voneinander trennten. Auch die Kammfinger schienen sich früher von den Mäuseverwandten getrennt zu haben als Primaten und Paarhufer, seien aber nicht die älteste Seitenlinie der Nagetiere.[24][25]

Masami Hasegawa, Ying Cao, Jun Adachi und Taka-aki Yano hielten im Februar 1992 diese Hypothese auf Grund von Untersuchungen nach der Maximum-Likelihood-Methode für nicht gerechtfertigt.[26] Li, Hide und Graur behaupteten dagegen im September 1992, dass auch Untersuchungen nach dieser Methode die Polyphylie der Nagetiere unterstützen.[27] W. Patrick Luckett und Jean-Louis Hartenberger widersprachen im Juni 1993 der Hypothese. Ihre Untersuchung der Morphologie und Entwicklung von Schädel, Gebiss, postkranialem Skelett und fötalen Membranen bestätigten die traditionell angenommene Monophylie der Nagetiere und das Schwestergruppenverhältnis mit den Hasenartigen. Auch ihre Bewertung bekannter molekularer Daten liefere keine bis wenig Unterstützung für die Hypothese. Das Meerschweinchen unterscheide sich in vielen Proteinen zwar deutlich von anderen Stachelschweinverwandten, doch sei die vorgebrachte Hypothese vielmehr das Ergebnis einer ungeeigneten Auswahl der Sequenzdaten.[28]

[...]

Einzelnachweise

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  1. Carolus Linnaeus: Systema Naturae per regna tria naturae, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus differentiis, synonymis, locis. 12. Ausgabe, Bd. 1. Laurentii Salvii, Stockholm 1766, S. 1–532.
  2. Carolus Linnaeus (Überarbeitung: Johann Friedrich Gmelin): Systema Naturae per regna tria naturae, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus differentiis, synonymis, locis. 13. Ausgabe, Bd. 1. G. E. Beir, Lipsiae 1788, 232 Seiten.
  3. Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals: Above the Species Level. Columbia University Press, New York 1997, XII + 631 Seiten, ISBN 0-231-11013-8.
  4. The Taxonomicon (Memento des Originals vom 26. September 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.taxonomy.nl. Universal Taxonomic Services, Amsterdam.
  5. Johann Karl Wilhelm Illiger: Prodromus Systematis Mammalium et Avium additis terminis zoographicis uttriusque classis. Salfeld, Berlin 1811, 301 Seiten (S. 91).
  6. Georges Cuvier: Le règne animal; distribué d'après son organisation; pour servir de base à l'histoire naturelle des animaux et d'introduction à l'anatomie comparée. Bd. 1: Les mammifères. Deterville, Paris 1817, 540 Seiten.
  7. John Edward Gray: On the Natural Arrangement of Vertebrose Animals. In: London Medical Repository. 15 (1), 1821, S. 296–310 (S. 302).
  8. Thomas Edward Bowdich: An Analysis of the Natural Classifications of Mammalia, for the Use of Students and Travelers. J. Smith, Paris 1821, 115 Seiten (S. 7, 51).
  9. George Robert Waterhouse: Observations on the Rodentia with a View to Point Out Groups as Indicated by the Structure of the Crania in This Order of Mammals. In: Magazine of Natural History. Reihe 2, Nr. 3, 1839, S. 90–96.
  10. Johann Friedrich von Brandt: Beiträge zur nahern Kenntniss der Säugethiere Russlands. In: Mémoires Mathématiques, Physiques et Naturelles. Nr. 7, 1855. Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, S. 1–365 (S. 144, 152, 235, 283, 292, 294, 295, 319).
  11. Ernst Haeckel: Generale Morphologie der Organismen. Georg Reimer, 1866 (Klassifikation (Memento des Originals vom 11. Juli 2006 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bio.pu.ru).
  12. Ernst Haeckel: Die natürliche Schöpfungsgeschichte. 1868 (Volltext: 18. Vortrag).
  13. Wilhelm Lilljeborg: Systematisk öfversigt af de gnagande däggdjuren, Glires. Kungliga Akademi Boktryck, Uppsala 1866. S. 1–59.
  14. Edward R. Alston: On the Classification of the Order Glires. In: Proceedings of the Zoological Society of London. 1876, S. 61–98 (S. 64).
  15. Edward R. Alston: Mammalia. R. H. Porter, London 1879–1882, xx + 220 Seiten und 22 Bildtafeln (JPG).
  16. William Henry Flower: On the Arrangement of the Orders and Families of Existing Mammalia. In: Proceedings of the Zoological Society of London. Nr. 18, 1883, S. 178–186.
  17. Max Schlosser: Die Nager des europäischen Tertiärs nebst einigen Betrachtungen über die Organisation und die geschichtliche Entwicklung der Nager überhaupt., Nachträge und Berichtigungen zu: die Nager des europäischen Tertiärs. In: Palaeontographica. Nr. 31, 1884, S. 19–162, 323–330 (S. 133).
  18. Tycho Tullberg: Über das System der Nagetiere. Eine Phylogenetische Studie. In: Nova Acta Regiae Societatis Scientiarum Upsaliensis. Vol. 3, Nr. 18, 1899, S. 1–514.
  19. Max Wilhelm Weber: Die Säugetiere. Einführung in die Anatomie und Systematik der recenten und fossilen Mammalia. Bd. 2: Systematischer Teil. 2. Ausgabe. G. Fischer, Jena 1904, 879 Seiten (S. 490, 495).
  20. William King Gregory: The Orders of Mammals. In: Bulletin of the American Museum of Natural History. Nr. 37, 1910, S. 1–524.
  21. James Williams Gidley: The Lagomorphs As an Independent Order. In: Science. Nr. 36, 1912, S. 285–286
  22. Darren Naish: The Most Freaky of All Animals: Rabbits
  23. Dan Graur, Winston A. Hide, Wen-Hsiung Li: Is the Guinea-Pig a Rodent? In: Nature. Nr. 351, 20. Juni 1991, S. 649–651 (Abstract & Referenzen).
  24. Dan Graur, Winston A. Hide, Andrey Zharkikh, Wen-Hsiung Li: The Biochemical Phylogeny of Guinea-Pigs and Gundis, and the Paraphyly of the Order Rodentia. In: Comparative Biochemistry Physiology. Nr. 101B, April 1992, S. 495–498 PMID 1611868.
  25. Wen-Hsiung Li, Winston A. Hide, Andrey Zharkikh, Din-Pow Ma, Dan Graur: The Molecular Taxonomy and Evolution of the Guinea Pig. In: The Journal of Heredity. Bd. 83, Nr. 3, Mai/Juni 1992, S. 174–181, ISSN 0022-1503 (Abstract).
  26. Masami Hasegawa, Ying Cao, Jun Adachi, Taka-aki Yano: Rodent Polyphyly? In: Nature. Nr. 355, 13. Februar 1992, S. 595 (Referenzen).
  27. Wen-Hsiung Li, Winston A. Hide, Dan Graur: Origin of Rodents and Guinea-Pigs. In: Nature. Nr. 359, 24. September 1992, S. 277–278 (Referenzen).
  28. W. Patrick Luckett, Jean-Louis Hartenberger: Monophyly or Polyphyly of the Order Rodentia: Possible Conflict Between Morphological and Molecular Interpretations. In: Journal of Mammalian Evolution. Bd. 1, Nr. 2, Juni 1993, S. 127–147, ISSN 1064-7554 (doi:10.1007/BF01041591).