Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit
Das Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit vom 29. Juli 1966 war ein deutsches Bundesgesetz, welches der Bundesregierung ermöglichte, Personen, die ihren regulären Wohnsitz außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes hatten, kurzfristig von der deutschen Gerichtsbarkeit zu befreien. Das Gesetz sollte Besuche von Vertretern des DDR-Regimes ermöglichen. Anlass war ein geplanter Redneraustausch zwischen SPD und SED.
Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Mitte der 1960er Jahre begann sich die Ostpolitik langsam zu öffnen. Bei den Supermächten setzte ein globaler Bewusstseinsprozess hinsichtlich der Problematik der Atompolitik und der bereits in diesen Jahren erzielten atomaren Pattsituation ein. Das führte seit 1962 wiederum zu einer Fortführung einer vorsichtigen Politik der Kontaktaufnahme mit den osteuropäischen Staaten Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Polen, insbesondere durch die Errichtung von bundesdeutschen Handelsmissionen.[1]
Mögliche direkten Kontakte mit Vertretern der DDR in der Bundesrepublik waren jedoch durch die Rechtslage erschwert. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland betrachtete die DDR im Sinne des Alleinvertretungsanspruchs als Teil Deutschlands. Die DDR-Bürger waren damit aus westdeutscher rechtlicher Sicht Deutsche. Entsprechend war eine Strafverfolgung von Taten, die in der DDR durch DDR-Bürger begangen wurde, durch bundesdeutsche Strafverfolgungsbehörden möglich. Die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen dokumentierte seit 1961 staatliche Verbrechen in der DDR und die Täter. Daher musste jeder ranghohe DDR-Funktionär, der die Bundesrepublik besuchte, damit rechnen, verhaftet und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Entsprechend waren offizielle Besuche von DDR-Vertretern in der Bundesrepublik faktisch unmöglich.
Das Gesetzgebungsverfahren
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP brachten am 14. Juni 1966 das Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit in den deutschen Bundestag ein. Es wurde maßgeblich von den Abgeordneten Gerhard Jahn (SPD) und Ernst Benda (CDU) erarbeitet. Am 22. Juni 1966 wurde der Entwurf einstimmig durch den Rechtsausschuss des Bundestags zur Annahme empfohlen.[2]
Am 23. Juni 1966 erklärte Justizminister Richard Jaeger vor dem Deutschen Bundestag, die Bundesregierung befürworte den Gesetzentwurf, wolle davon aber nur für besonders bedeutsame Vorhaben Gebrauch machen.[3]
Der Bundestag beschloss das Gesetz am 23. Juni 1966, es trat am 30. Juli 1966 in Kraft.
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Bundesregierung wurde ermächtigt, Personen, die ihren regulären Wohnsitz außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes haben, kurzfristig von der deutschen Gerichtsbarkeit befreien. Diese Befreiung musste befristet sein, die Befristung sollte eine Woche nicht überschreiten. Diese Befreiung bedeutete, dass Gerichte und staatliche Behörden in dieser Frist keine Entscheidungen, Verfügungen oder andere Maßnahmen gegen die befreiten Personen erlassen. In der DDR wurde das Gesetz heftig kritisiert und als „Handschellengesetz“ bezeichnet.[4][5]
Aufhebung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Gesetz wurde am 15. Mai 1970 aufgehoben. Diese Aufhebung war eine Forderung der DDR vor dem Gipfeltreffen in Kassel vom 21. Mai 1970 gewesen, da das Gesetz auf dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik basierte.[6] Das Gesetz war auch materiell gegenstandslos geworden, da das Achte Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Mai 1968 in § 153b StGB die Möglichkeit geschaffen hatte, dass die Staatsanwaltschaften die Ermittlungen einstellen und die Klagen zurückziehen kann, wenn schwere Nachteile für die Bundesrepublik drohen. Da die Staatsanwaltschaften weisungsgebunden sind, hatte die Regierung damit die Möglichkeit, eine Strafverfolgung für DDR-Funktionäre darüber zu verhindern.[7][8]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Margit Roth: Innerdeutsche Bestandsaufnahme der Bundesrepublik 1969–1989: Neue Deutung. 2013, ISBN 9783658010188, S. 38, Digitalisat
- Ilse Dorothee Pautsch, Daniela Taschler, Franz Eibl, Frank Heinlein, Mechthild Lindemann, Matthias Peter (Hrsg.): 1970 [Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland], 2013, ISBN 9783486718171, S. 498, Digitalisat
- Schonzeit für Gäste; in: Der Spiegel vom 16. Mai 1966
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Wichard Woyke: Handwörterbuch Internationale Politik. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. 5., aktualisierte und überarb. Aufl., Opladen 1993, ISBN 3-8252-0702-1.
- ↑ Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses (12. Ausschuß) über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Befreiung von der deutschen Gerichtsbarkeit - Drucksache V/690 -
- ↑ Protokoll der 32. Kabinettssitzung am 22. Juni 1966
- ↑ Der Spiegel vom 29. August 1966. Abgerufen am 21. März 2020.
- ↑ Neues Deutschland vom 24. August 1966. Abgerufen am 21. März 2020.
- ↑ Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1982, ISBN 3-421-06095-9, S. 289ff.
- ↑ Protokoll der 20. Kabinettssitzung am 19. März 1970
- ↑ Text des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes im Bundesanzeiger S. 749