Halbton
In der Musiktheorie ist der Halbton (lateinisch semitonium, auch griech./lat. hemitonium) das kleinste Intervall des heute verbreiteten zwölfstufigen Tonsystems. In Ausnahmefällen wird die Bezeichnung auch auf einzelne Töne angewendet (siehe unten).
Halbton als Intervall
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Intervallbezeichnung Halbton ersetzt in griffiger Kurzform die vollständigeren Bezeichnungen Halbtonschritt oder Halbtonabstand.
Die Musiktheorie unterscheidet zwischen dem diatonischen Halbton (kleine Sekunde, z. B. e→f) und dem chromatischen Halbton (übermäßige Prime, z. B. f→fis), die zusammen einen großen Ganzton ergeben. Selten findet der enharmonische Halbton (doppelt verminderte Terz, z. B. fis→asas) Erwähnung.
Je nach Stimmung und musikalischem Zusammenhang sind die einzelnen Halbtöne schwach hörbar verschieden.
Der diatonische Halbton tritt als kleinstes Intervall in der reinen Stimmung auf (e→f, h→c); der chromatische Halbton erscheint bei der Modulation um eine Quinte auf- (f→fis) oder abwärts (h→b).
Gleichstufig temperierter Halbton
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im gleichstufig temperierten Tonsystem entspricht der Halbton einem Zwölftel der Oktave. Diese Bedeutung wurde bereits von Aristoxenos vorweggenommen, indem er die Oktave in sechs gleiche Ganztöne teilte und den Halbton als die Hälfte eines Ganztons definierte.
Die rechnerisch exakte Zwölftelung der Oktave ergibt für den temperierten Halbton ein Frequenzverhältnis (Proportion) von Cent, da dieser Wert zwölfmal mit sich selbst multipliziert das Frequenzverhältnis einer Oktave (2/1) ergibt.
Halbtöne der pythagoreischen Stimmung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In pythagoreischen Tonsystemen tritt aufgrund der reinen Quinten (Proportion 3⁄2) kein (aus dem unteren Bereich der Obertonreihe stammender) „natürlicher“ diatonischer Halbton ( 16⁄15 ~ 112 Cent) auf, sondern das Intervall mit der Proportion Cent,[1] das bei Philolaos „Diesis“, bei Euklid „Leimma“, seit der Spätantike auch als Halbton bezeichnet wurde.
Ohne praktische Verwendung wurde auch als Halbton die Apotome ( Cent) bezeichnet: die Differenz zwischen Ganzton ( 9⁄8) und Leimma ( 256⁄243). Die Tonbuchstaben und die Notenschrift unterscheiden diese Intervalle klar: Das Leimma ist eine kleine Sekunde c-h, die Apotome ein chromatischer Schritt, nämlich die übermäßige Prime cis→c.
Den Unterschied hebt erst die gleichstufige Stimmung auf, da sie das pythagoreische Komma (= Apotome-Leimma) zum Verschwinden bringt und dadurch eine enharmonische Verwechslung ermöglicht.
Kleiner und großer Halbton der harmonisch-reinen Stimmung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Einbeziehung der reinen großen Terz mit der Proportion 5⁄4 in der seit der Renaissance aufkommenden reinen Stimmung änderte die Größenordnung der Halbtöne. Der diatonische Halbton, der große Halbton mit der Proportion kann nun dem unteren Bereich der Obertonreihe zugeordnet werden.
Wegen der Existenz von zwei Ganztönen gibt es auch zwei chromatische Halbtöne (übermäßige Primen):
Die kleinen chromatischen Halbtöne mit den Proportionen und .
Beispiel:
Name des Tones[2] | C | ,CIS | D | ,,DIS | ,E | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Frequenz | 264 | 278,4 | 297 | 309,4 | 330 | ||||||
In Cent (gerundet) | 0 | 92 | 204 | 275 | 386 | ||||||
Halbton in Cent | 92 | 112 | 71 | 112 |
Name des Tones | C | 'DES | D | 'ES | ,E | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Frequenz | 264 | 281,6 | 297 | 316,8 | 330 | ||||||
In Cent (gerundet) | 0 | 112 | 204 | 316 | 386 | ||||||
Halbton in Cent | 112 | 92 | 112 | 71 |
Noch heute gilt bei Intonationen von A-cappella-Chören die folgende Faustregel (Regel des Weißenburger Kantors Maternus Beringer, 1610).[3]
„Halbtöne auf derselben Linie im Notensystem (die chromatischen) sind als kleiner Halbton (semitonus minor) zu intonieren. Halbtöne auf benachbarten Linien (die diatonischen) aber als großer Halbton (semitonus major).“
Wie man der Frequenztabelle und der Grifftabelle von Peter Prelleur entnehmen kann, sind die mit einem Kreuz bezeichneten Töne CIS, DIS usw. tiefer als die mit einem b bezeichneten DES, ES usw.
Diese harmonische Intonation steht im Gegensatz zur expressiven Intonation, bei der die Leittöne (Cis Leitton zu D, Dis zu E, Des zu C, Es zu D und so weiter) enger gespielt werden.
Musikbeispiele
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Musikbeispiel 1: Akkorde hier nach „Selig seid ihr“ EKG Württemberg Nr. 651
rein Stimmung mitteltönige Stimmung gleichstufige Stimmung |
Tonschritt im Bass | in reiner Stimmung | in mitteltöniger Stimmung | in gleichstufiger Stimmung |
---|---|---|---|
C-Cis | 71 Cent | 76 Cent | 100 Cent |
Cis-D | 112 Cent | 112 Cent | 100 Cent |
Musikbeispiel 2: Passus duriusculus. Akkorde hier nach W.A. Mozart „Misericordias Domini“ d-Moll (KV 205 a).
|
Die Halbtonschritte im Bass betragen in der reinen Stimmung |
c → h: 112 Cent |
Tabellarische Übersicht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Als ein Hundertstel des gleichstufigen Halbtons wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Intervalleinheit Cent festgelegt. Sie erlaubt einen besonders klaren Größenvergleich bei den verschiedenen Halbtönen:
Die Halbtöne der pythagoreischen Tonleiter
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- bzw. …
Intervall | Frequenzverhältnis | in Cent | Beispiel |
---|---|---|---|
Ganzton | 9⁄8 | 204 Cent | C-D |
Halbton Leimma | 256⁄243 | 90 Cent | E-F |
Halbton Apotome | 2187⁄2048 | 114 Cent | B-H |
Die Apotome ist ein rein rechnerisches Intervall. In der mittelalterlichen Musik werden nie die beiden Töne B und H gleichzeitig verwendet.
Die Halbtöne der reinen Tonleiter
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Intervall | Frequenzverhältnis | in Cent | Beispiel |
---|---|---|---|
großer Ganzton | 9⁄8 | 204 Cent | C-D |
kleiner Ganzton | 10⁄9 | 182 Cent | D-,E |
diatonischer Halbton | 16⁄15 | 112 Cent | ,E-F |
großer chromatischer Halbton | 135⁄128 | 92 Cent | C-,Cis |
kleiner chromatischer Halbton | 25⁄24 | 71 Cent | 'B-,H |
Die Halbtöne der 1/4-Komma mitteltönigen Tonleiter
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Frequenzverhältnisse sind – bis auf die Oktave (2⁄1) und große Terz (5⁄4) – irrational. Deshalb wird die Intervallgröße in Cent angegeben.
- C – 193 Cent – D – 193 Cent – E – 117 Cent – F – 193 Cent – G – 193 Cent – A – 193 Cent – H – 117 Cent – C
Intervall | Größe in Cent | Beispiel |
---|---|---|
Ganzton | 193 Cent | C-D |
diatonischer Halbton | 117 Cent | E-F |
chromatischer Halbton | 76 Cent | C-Cis |
Die Halbtöne der gleichstufigen Tonleiter
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- C – 200 Cent – D – 200 Cent – E – 100 Cent – F – 200 Cent – G – 200 Cent – A – 200 Cent – H – 100 Cent – C
Intervall | Größe in Cent | Beispiel |
---|---|---|
Ganzton | 200 Cent | C-D |
diatonischer Halbton | 100 Cent | E-F |
chromatischer Halbton | 100 Cent | C-Cis |
Zusammenfassung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Intervall | Proportion | Größe in Cent |
---|---|---|
Zwölfter Teil der Oktave | 100 Cent | |
Leimma | 256⁄243 | ≈90 Cent |
Apotome | 2187⁄2048 | ≈114 Cent |
diatonischer Halbton | 16⁄15 | ≈112 Cent |
großer chromatischer Halbton | 135⁄128 | ≈92 Cent |
kleiner chromatischer Halbton | 25⁄24 | ≈71 Cent |
diatonischer mitteltöniger Halbton | ≈117 Cent | |
chromatischer mitteltöniger Halbton | ≈76 Cent | |
Vincenzo-Galilei-Halbton-Näherung | 18⁄17 | ≈99 Cent |
Chromatische Tonleiter
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine zwölfstufige Tonleiter ausschließlich aus Halbtonschritten wird chromatische Tonleiter genannt. Die Halbtonschritte sind teils diatonisch (kleine Sekunde) teils chromatisch (übermäßige Prime). Chromatische Halbtöne befinden sich auf derselben Linie, diatonische Halbtöne auf benachbarten Linien.
Hörbeispiele
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Halbton aufwärts
- Halbton abwärts
„Halbton“ als Einzelton
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gelegentlich wird der Ausdruck „Halbton“ auch auf einzelne Töne bezogen.
- In der Tonwort-Methode von Carl Eitz wird die Bezeichnung „Halbton“ für eine einzelne Stufe der chromatischen Tonleiter verwendet, während die Stammtöne als „Ganztöne“ bezeichnet werden. Die Ganztöne bilden im Rahmen dieser Ausdrucksweise eine Teilmenge der gesamten Halbtonmenge.
- In der Vergangenheit wurden auch gelegentlich (in heute unüblicher Weise) die Stammtöne (weiße Tasten der Klaviatur) als „Ganztöne“ und deren chromatische Varianten (schwarze Tasten der Klaviatur) als „Halbtöne“ bezeichnet. Johann Sebastian Bach zielt offensichtlich auf diese Bedeutung ab, wenn er auf dem Titelblatt seines Wohltemperierten Klaviers von „Præludia und Fugen durch alle Tone und Semitonia“ spricht. Klavierbauer pflegen diesen Sprachgebrauch noch heute (2018).
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Dieser Halbtonschritt ergibt sich als Quarte − 2 Ganztöne. Das Frequenzverhältnis errechnet sich demnach zu 4⁄3 × 8⁄9 × 8⁄9 = 256⁄243 (siehe pythagoreische Stimmung).
- ↑ In Eulerschreibweise. Beispiel: ,CIS ("Tiefkomma CIS") bzw. 'DES ("Hochkomma DES") bedeutet: Das CIS bzw. DES im pythagoreischen Quintenzirkel wird um ein syntonisches Komma erniedrigt bzw. erhöht.
- ↑ Diese Regel wurde in vielen alten Gesangsschulen formuliert. Hier nach Maternus Beringer: Musicae, das ist der freyen lieblichen Singkunst. Georg Leopold Fuhrmann, Nürnberg 1610 (Nachdruck: Bärenreiter, Kassel 1974).