Hvergelmir

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Der Weltenbaum mit der Quelle an seinen Wurzeln. Illustration von Lorenz Frølich, 1895.

Hvergelmir (altnordisch Hvergelmir), auch Hwergelmir, ist in der nordischen Mythologie die Quelle, die alle Flüsse der Welt mit Wasser speist. Sie liegt unter dem Weltenbaum Yggdrasil, der die Schöpfung in seiner Gesamtheit verkörpert, und ist die Heimat vieler Schlangen und des schlangenartigen Drachen Nidhöggr.

In der Lieder-Edda wird Hvergelmir nur im Lied Grímnismál genannt. Hiernach nagt der Hirsch Eikthyrnir an den Zweigen des Baums Lärad, während von seinem Geweih Tropfen in die Quelle herabfallen, aus der alle Flüsse der Welt ihr Wasser erhalten, von denen etwa vierzig (je nach Zählweise unterschiedlich) in einem anschließenden Flusskatalog aufgeführt werden.[1]

Im mythologischen Konzept von Snorri Sturlusons Prosa-Edda liegt die Quelle im Zentrum von Niflheim. Nach seiner Darstellung speiste die Quelle bereits in der Vorzeit, also noch bevor die Götter die Welt schufen, die Élivágar, die er mit elf namentlich genannten Flüssen identifiziert. Ihr Wasser strömte in den Graben Ginnungagap, wo es als Eis und Reif auf die glühenden Funken und die Hitze der Feuerwelt Muspellsheim traf, woraus sich das erste Leben bildete.[2] Seit der Weltenbaum Yggdrasil ausgewachsen war, ragt eine seiner drei Wurzeln über Niflheim und damit auch über Hvergelmir hinweg.[3] In der Quelle hausen der Drache Nidhöggr und unzählige Schlangen, darunter Goin und Moin.[4] In den Ragnarök quält dieser Drache die Leichen der Verstorbenen in der Quelle.[5]

Zugleich heißt es aber wie im Lied Grímnismál, dass am Baum Lärad Tropfen vom Geweih des Hirsches Eikthyrnir in die Quelle Hvergelmir fallen. Alle Flüsse, von denen fünfundzwanzig namentlich genannt werden, beziehen ihr Wasser aus ihr.[6]

Altnordisch Hvergelmir setzt sich zusammen aus altnordisch hverr „Kessel, heiße Quelle“[7] und dem zweiten Wortbestandteil gelmir, der schwer zu deuten ist. Besonders ist daran, dass sonst nur die Namen dreier Vorzeitriesen auf gelmir enden. Nach Jan de Vries geht gelmir auf altnordisch galmr „Schwert“ zurück, das ursprünglich „der Helltönende“ bedeutete. Deswegen übersetzt er den Namen der Quelle mit „der brausende Kessel“.[8] John Lindow hingegen überträgt den Namen mit „heißer Quellkessel“.[9] Eine weitere Deutung schlägt Adolfo Zavaroni vor, der gelmir von altnordisch galli „böse, Laster, Schaden“ ableitet und den Namen mit „der böse Kessel“ wiedergibt.[10]

Der Name der Quelle gilt jedoch als nicht besonders alt.[11] Sehr alt hingegen dürfte ihre Kennzeichnung als Mutter aller Flüsse und Schlangenhort in der Landschaft am Weltenbaum sein. In der Forschung ist man im Allgemeinen davon überzeugt, dass Lärad nur eine Variante von Yggdrasil darstellt und beide Bäume miteinander identisch sind.[12] Des Weiteren geht man auch davon aus, dass die drei Quellen unter dem Weltenbaum Yggdrasil, Hvergelmir, der Urdbrunnen und Mimirs Brunnen letztlich auf eine mythische Quelle zurückgehen.[13] Kurt Schier legte hierzu dar, dass der Schöpfungsbericht der Völuspá in Zusammenhang mit einer Vielzahl von eurasischen Weltschöpfungen stehen könnte, die aus dem Wasser heraus erfolgten (Wasserkosmogonie). In diesem Zusammenhang wäre der Weltenbaum, an dessen Fuße die Quelle liegt, aus der alle Flüsse entspringen, identisch mit der verbreiteten Vorstellung, wonach der Weltenbaum in der Mitte eines Urmeeres liegt, von dem alle Flüsse abgehen. Hvergelmir wäre in diesem Fall nichts anderes als eine andere Form des Urmeeres, das am Anfang aller Zeiten war und den Zustand des Chaos verkörpert.[14]

Einzelnachweise

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  1. Lieder-Edda: Grímnismál 26. (Zitation der Lieder-Edda nach Arnulf Krause: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15-050047-7)
  2. Snorri Sturluson: Prosa-Edda, Gylfaginning. Kapitel 4 f. (Zitation der Prosa-Edda nach Arnulf Krause: Die Edda des Snorri Sturluson. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-15-000782-2)
  3. Snorri Sturluson: Prosa-Edda, Gylfaginning. Kapitel 15
  4. Snorri Sturluson: Prosa-Edda, Gylfaginning. Kapitel 16
  5. Snorri Sturluson: Prosa-Edda, Gylfaginning. Kapitel 52
  6. Snorri Sturluson: Prosa-Edda, Gylfaginning 39
  7. Gerhard Köbler: Altnordisches Wörterbuch. 2. Auflage. 2003, S. 208 online (PDF-Datei; 318 kB)
  8. Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Worterbuch. Leiden 1958, S. 154, 271
  9. John Lindow: Handbook of Norse Mythology. Santa Barbara (USA) 2001, ISBN 978-1-57607-217-2, Seite X: „hot-spring-boiler“
  10. Adolfo Zavaroni: Mead and Aqua Vitae: Functions of Mímir, Oðinn, Viðofnir and Svipdagr. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. Band 61. Editions Rodopi BV, 2006, ISBN 978-90-420-1859-4, S. 82: „evil-cauldron“
  11. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 211.
  12. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 240.
  13. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1937, § 327; René L. M. Derolez: Götter und Mythen der Germanen. Verlag Suchier & Englisch, Wiesbaden 1974 (übersetzt von Julie von Wattenwyl, Titel der Originalausgabe: De Godsdienst der Germanen. Verlag J. J. Romen & Zonen, Roermond 1959), S. 271; Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 211; kritisch: Francois Xaver Dillmann: Mimir. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Band 20. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2001, ISBN 978-3-11-017163-1, S. 40 f.
  14. Kurt Schier: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá. In: Hugo Kuhn, Kurt Schier (Hrsg.): Märchen, Mythos, Dichtung. − Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963. Verlag C. H. Beck, München 1963, S. 332 f.